Zwangsarbeiter: Aufarbeitung weitgehend abgeschlossen

Kirchliche Einrichtungen beschäftigten in der NS-Zeit etwa 12.000 Zwangsarbeiter

Von Thomas Schiller (epd)

Frankfurt a.M. (epd). An der Ausbeutung von Zwangsarbeitern in der NS-Kriegswirtschaft waren auch die Kirchen beteiligt. Etwa 12.000 bis 15.000 Männer und Frauen wurden im Zweiten Weltkrieg in Einrichtungen der evangelischen und katholischen Kirche zur Arbeit gezwungen, schätzt Jochen-Christoph Kaiser. Der Marburger Kirchenhistoriker hat für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie die Forschung koordiniert und jetzt als Buch veröffentlicht. Im August hatte bereits die katholische Kirche Ergebnisse vorgelegt.

Auch wenn sich hinter jedem Fall ein Einzelschicksal verbirgt - insgesamt war die Beschäftigung in kirchlichen Einrichtungen ein Randphänomen angesichts von rund zwölf Millionen Zwangsarbeitern in Deutschland. «Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie war nur ein winziges Segment im Gesamtkomplex des nationalsozialistischen Zwangsarbeitssystems», stellt der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl fest, der am EKD-Projekt mitgearbeitet hat.

Allenfalls kirchliche Krankenhäuser oder Friedhofsbetriebe waren für die Nazis von ökonomischem Wert, da sie zur medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung beitrugen oder die Opfer der Bombennächte beerdigten. Das «Friedhofslager» in Berlin-Neukölln mit seinen rund 100 «Ostarbeitern» gilt als ein besonders krasses Beispiel. Die Männer aus der Sowjetunion mussten schwerste körperliche Arbeit auf konfessionellen Friedhöfen leisten, Gräber graben und Leichen umbetten. Dabei waren sie ohne Schutz gegen Bombenangriffe.

Während lebensbedrohliche Umstände für Millionen von Zwangsarbeitern im Bergbau oder in der Rüstungsindustrie alltäglich waren, war eine solche Härte im kirchlichen Bereich die Ausnahme. Diakonische und kirchliche Einrichtungen setzten die Ausländer vor allem in der Haus- und Landwirtschaft ein. «Alles in allem waren die Arbeits- und Lebensbedingungen ausländischer Zwangsarbeiter in Kirche und Diakonie in den meisten Fällen erträglich», urteilt Historiker Schmuhl.

Nach Einschätzung Schmuhls hatten kirchliche Einrichtungen kaum eine Wahl, sich dem Zwangsarbeitssystem zu entziehen, wenn sie nicht ihre Existenz aufgeben wollten. Denn viele angestammte Arbeitskräfte hatte die Wehrmacht eingezogen. Nur wenige Fälle moralischen Aufbegehrens sind bekannt - etwa aus Bad Kreuznach, wo Diakonissen in einer Klinik gegen Zwangsabtreibungen an «Ostarbeiterinnen» protestierten. Dass der NS-«Arbeitseinsatz» mit seiner Trennung in zivile «West»- und «Ostarbeiter», Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge nach eigenen rassistischen Regeln funktionierte: ein Schuldbewusstsein dürfte den meisten kirchlichen Verantwortlichen damals gefehlt haben.

«Evangelische Einrichtungen wurden mitschuldig an den zumeist jungen Menschen, denen durch Zwang, Entmündigung und Erniedrigung Unrecht und Leid zugefügt wurden», stellen heute der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, und Diakonie-Präsident Jürgen Gohde fest. «Zwangsarbeit ist mit der Würde des Menschen nicht vereinbar.»

EKD und Diakonie haben sich bereits im Jahr 2000 mit zehn Millionen Mark an der Bundesstiftung «Erinnerung, Verantwortung und Zukunft» beteiligt. Die katholische Kirche ist einen anderen Weg gegangen und hat die Betroffenen direkt entschädigt: Mehr als 4.500 ehemalige Zivilarbeiter wurden ermittelt. An rund 600 Überlebende wurden unmittelbar je 5.000 Mark oder der Gegenwert in Euro ausgezahlt.

Wie viele Zwangsarbeiter aus evangelischen Einrichtungen eine Entschädigung aus den Stiftungsmitteln erhielten, ist unklar. Da die Auszahlung nach Härte-Kriterien erfolgte, dürften viele der inzwischen hoch betagten Betroffenen leer ausgegangen sein. Um dennoch Zeichen zu setzen, sind vielerorts kirchliche Initiativen entstanden, die frühere Zwangsarbeiter nach Deutschland eingeladen haben. Die Zeit für diese Versöhnungsarbeit läuft aus, denn die Zahl der Überlebenden wird von Jahr zu Jahr kleiner.

13. Dezember 2005


Historiker Kaiser: NS-Zwangsarbeit in der Kirche im Promille-Bereich

Marburg (epd). Sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kann die Zahl der Zwangsarbeiter im Bereich der Kirche nur noch geschätzt werden. Etwa 12.000 bis 15.000 Männer und Frauen wurden in evangelischen und katholischen Einrichtungen eingesetzt, sagte der Kirchenhistoriker Jochen-Christoph Kaiser in einem epd-Gespräch. «Angesichts von rund zwölf Millionen Zwangsarbeitern im Deutschen Reich liegt der kirchliche Anteil im Bereich von einem Promille.»

Ein von Kaiser koordiniertes Forschungsprojekt im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihres Diakonischen Werks hat nach fünf Jahren jetzt seine Ergebnisse in einem Sammelband vorgelegt. «Wir gehen davon aus, dass wir alle nennenswerten Fälle erfasst haben», sagt der Wissenschaftler.

Die Untersuchung stützt sich auf Daten aus zwei Dritteln der evangelischen Landeskirchen sowie Einzelstudien größerer diakonischer Einrichtungen. Die Quellenlage war schwierig: «Wir haben sehr wenig gefunden», bedauert Kaiser. Wie auch bei einem parallelen Projekt der katholischen Kirche, dessen Ergebnisse im August vorgestellt worden sind, wurden die früheren Reichsgebiete östlich von Oder und Neiße nicht berücksichtigt.

Kaiser verwies darauf, dass sich das Interesse der Kirchenhistoriker bei der Aufarbeitung der NS-Zeit zunächst auf Kernthemen wie den Kirchenkampf, des Verhältnisses von Juden und Christen oder das NS-Euthanasie-Programm gerichtet hat. Auf den Komplex der Zwangsarbeit sei die Kirche erst in den 90er Jahren gestoßen worden, nachdem das Thema auch von der Zeitgeschichte aufgearbeitet in die öffentliche Diskussion gebracht worden sei.

Erst mit dem öffentlichen Engagement der Kirche für die Entschädigung von Opfern sei die Frage gestellt worden, wie stark Kirche und Diakonie selbst betroffen seien: «Wer im Rahmen eines theologischen und moralischen 'Wächteramts' an die Öffentlichkeit geht, darf sich nicht wundern, wenn seine Mahnungen sich gegen ihn selbst richten können», meint der Professor.

Literaturhinweis: Jochen-Christoph Kaiser (Hrsg.): Zwangsarbeit in Diakonie und Kirche 1939 - 45. Kohlhammer-Verlag Stuttgart, 464 Seiten, 22 Euro.

13. Dezember 2005

Pressemitteilung der EKD zum Thema "Zwangsarbeiter in Kirche und Diakonie"