EKD-Ratsvorsitzender: Regierung muss Berechnungen zu Hartz IV offenlegen

Frankfurt a.M. (epd). Der amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, hat die Bundesregierung aufgefordert, alle ihre Berechnungen zu den Hartz-IV-Regelsätzen öffentlich zu machen. Erst dann könne der Bundestag über die Reform entscheiden, sagte Schneider der "Frankfurter Rundschau" (Dienstagsausgabe). "Ich fordere, dass die parlamentarischen Beratungen erst dann beginnen, wenn alle Zahlen auf dem Tisch liegen", unterstrich der Theologe.

Die Regierung könne sich darauf verlassen, dass die EKD erst nach einer Prüfung dieser Zahlen die neuen Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger abschließend bewerte, so der Ratsvorsitzende und rheinische Präses. "Schon jetzt allerdings missfällt es mir sehr, dass die Regierung das Bildungspaket für die Kinder noch nicht im Einzelnen beziffert hat. Alle anderen Ausgaben lassen sich offenbar bis auf den Cent berechnen. Was Kindern für Bildung konkret zusteht, aber nicht. Da bleibt es bei diffusen Ankündigungen", kritisierte Schneider.

Union und FDP hatten im Koalitionsausschuss am Sonntag entschieden, dass der Hartz-IV-Regelsatz für Erwachsene im kommenden Jahr von 359 auf 364 Euro steigen soll. Die Regelsätze für Kinder von 215, 251 und 287 Euro im Monat bleiben unverändert. Die Kinder bekommen aber zusätzliche Sachleistungen für Bildung und Freizeit.

Schneider sagte, er sei "ziemlich verblüfft" gewesen, als er von der geplanten Erhöhung um fünf Euro erfahren habe. "Nach meinen Gesprächen mit Fachleuten aus der Diakonie hätte ich erwartet, dass die Summe höher ausfällt." Der Theologe bekräftigte, dass den Empfängern von Hartz-IV-Leistungen "ein Leben in Würde und Teilhabe" möglich sein müsse. Schneider bezeichnete es ferner als "ziemlich kleinlich", Alkohol und Tabak aus dem Hartz-IV-Warenkorb zu streichen. Das sei Ausdruck des massiven finanziellen Drucks, unter dem Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) stehe.

28. September 2010


Das Interview im Wortlaut:

"Beschlüsse aus kleinem Herzen"

EKD-Ratsvorsitzender kritisiert die Regierung und vermisst genauere Zahlen zur Bildung von Kindern

Präses Schneider, Sie haben am Montag mit der Unionsfraktion im Bundestag über das christliche "C" geredet. Bekommen die künftigen Hartz-IV-Sätze von Ihnen das "C" als Prüfsiegel?

Bevor ich irgendetwas unter diesen Gesetzentwurf schreibe, will ich mir erst einmal genau ansehen, wie die Regierung da gerechnet hat. Das hat Angela Merkel von den Kritikern verlangt, das tun wir auch, und dann reden wir. Darauf kann sich die Bundeskanzlerin verlassen. Schon jetzt allerdings missfällt es mir sehr, dass die Regierung das Bildungspaket für die Kinder noch nicht im Einzelnen beziffert hat. Alle anderen Ausgaben lassen sich offenbar bis auf den Cent berechnen. Was Kindern für Bildung konkret zusteht, aber nicht. Da bleibt es bei diffusen Ankündigungen. Und man fragt sich schon, warum. Am Ende gehört doch beides zusammen.

Am Ende?

Ich fordere, dass die parlamentarischen Beratungen erst dann beginnen, wenn alle Zahlen auf dem Tisch liegen.

Sie sind von höheren Sätzen ausgegangen. Was haben Sie gedacht, als Sie am Sonntag gehört haben, "fünf Euro mehr"?

Ich war ziemlich verblüfft. Nach meinen Gesprächen mit Fachleuten aus der Diakonie hätte ich erwartet, dass die Summe höher ausfällt.

Rächt es sich, dass Sie vor der Entscheidung keine eigene Zahl genannt haben? Die fünf Euro stehen jetzt erst mal da.

Die Diakonie und andere Wohlfahrtsverbände haben durchaus Zahlen genannt. Und von denen habe ich mich ja auch nicht distanziert. Vielmehr habe ich den Akzent auf "ein Leben in Würde und Teilhabe" gelegt, welches Hartz-IV-Empfängern nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts möglich sein muss.

Enden Würde und Teilhabe beim Glas Bier oder der Zigarette?

Ach ja, Alkohol und Tabak aus dem Hartz-IV-Warenkorb zu streichen, ist schon ziemlich kleinlich - und Ausdruck des massiven finanziellen Drucks, unter dem Sozialministerin Ursula von der Leyen steht. Dann kommt es zu solchen Beschlüssen aus kleinem Herzen. Dass Bier und Zigaretten nicht zum Existenzminimum gehören, wird man schon sagen können. Aber kleinlich ist es trotzdem, zumal vorher für Alkohol und Tabak ja auch schon geringe Beträge angesetzt waren. Also, die große Einsparung kriegen Sie auf diesem Weg sowieso nicht hin.

So großherzig, wie Sie es nahelegen, ist aber auch die Bevölkerung in ihrer Mehrheit nicht. Da heißt es dann mit Blick auf Hartz IV, "lieber weniger als mehr".

Solche Positionen kommen aber doch auch sehr aus dem Bauch heraus. Für ein sorgfältiges Urteil müsste man eben genau darüber reden, wie die Regelsätze zustande kommen. Abgesehen davon wundert es mich aber nicht, dass diejenigen keinen rauschenden Beifall kriegen, die sich für die Armen in unserem Land einsetzen.

Der Sozialstaat müsse bezahlbar bleiben, lautet der Einwand.

Wenn ich in den Zeitungen auf ein und derselben Seite lese, was die Regierung einerseits für die Schwächsten tut und was sie andererseits für marode Banken und deren Manager ausgibt - beide Male Steuergeld, wohlgemerkt -, dann spricht das dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen Hohn. Und nicht nur dem Empfinden - es spricht der Gerechtigkeit selbst Hohn. Mit dem lakonischen Hinweis auf bestehende Manager-Verträge ist es da nicht getan.

Sondern?

Die Politik müsste alles tun, solche astronomischen Zahlungen an Krisen-Banker zu verhindern. Die demonstrierte Hilflosigkeit der Politik ist jedenfalls nicht akzeptabel.

Interview: Joachim Frank

Quelle: FR vom 28. September 2010