Hamm-Brücher fordert "politischere" Kirchen

München (epd). Die christlichen Kirchen müssen nach Ansicht der ehemaligen FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher politisch aktiver werden. "Kirche muss dafür sorgen, dass unsere Demokratie nicht neuerlich gefährdet oder eingeschränkt wird", sagte die 90-jährige Trägerin der Moses-Mendelssohn-Medaille in einem Gespräch mit dem epd. Hamm-Brücher war nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv am Aufbau der Demokratie in Deutschland beteiligt und engagierte sich jahrzehntelang in der Bundespolitik.

Nicht als Partei solle Kirche sich in die Politik einbringen, sondern "demokratie-politisch". "Sie muss Christen ermutigen, auch weltliche Verantwortung zu übernehmen", betonte die liberale Politikerin, die sich für Demokratie, Bildung und christlich-jüdischen Dialog einsetzt. Schon immer habe der Glaube ihr als Kraftquelle für ihre Arbeit gedient.

Hildegard Hamm-Brücher ist Demokratin der Stunde Null. 1948 zog sie in den Münchener Stadtrat ein. Von dort aus startete sie ihre Karriere in der Bundesrepublik, unter anderem als Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und als Staatsministerin im Auswärtigen Amt. 1994 kandidierte die "Grande Dame" der FDP für das Amt der Bundespräsidentin. Im Mai feierte sie ihren 90. Geburtstag.

03. August 2011


Demokratin der Stunde Null

Politikerin Hamm-Brücher sieht Glaube als Kraftquelle für ihr Wirken

epd-Gespräch: Friederike Lübke

München (epd). Hildegard Hamm-Brücher ist Demokratin der Stunde Null. 1948 zog sie in den Münchner Stadtrat ein. Von dort aus startete sie ihre Karriere in der Bundesrepublik, unter anderem als Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und als Staatsministerin im Auswärtigen Amt. 1994 kandidierte die "Grande Dame" der FDP für das Amt der Bundespräsidentin. Hamm-Brücher engagiert sich für Demokratie, Bildung und christlich-jüdischen Dialog. Dafür erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt die Moses-Mendelssohn-Medaille. Im Mai feierte die protestantische Christin ihren 90. Geburtstag.

epd: Sie haben das Dritte Reich vom ersten bis zum letzten Tag miterlebt. Wie sind Sie damals mit dem Widerstand in Berührung gekommen?

Hildegard Hamm-Brücher: Als ich 1940 Studentin in München war, lernte ich, weil ich sehr gern in Konzerte ging, junge Leute kennen. Es stellte sich heraus, das waren Anti-Nazis und diejenigen, die später, 1942 und 1943, diese Flugblätter verteilt und dann dafür ihr Leben geopfert haben. Die Scholls habe ich drei, vier Mal getroffen, Alexander Schmorell habe ich besser gekannt, weil ich mit einem Freund von ihm befreundet war. Befreundet, so wie das damals war, ganz platonisch und rührend und idealistisch und schön. Viel konnte man nach den Hinrichtungen nicht erfahren, aber bei dem, was ich erfahren habe, habe ich gedacht: Ich muss auch in den Widerstand. Das war 1943.

epd: Sie sind dann nicht in den Widerstand gegangen, aber haben lebenslang gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus gekämpft. Wie kam es dazu?

Hamm-Brücher: Ich war psychisch ganz fertig nach den Hinrichtungen, und ich habe gedacht: Mein Gott, wenn meine jungen Studienfreunde und Kommilitonen ihr Leben opfern, da kann ich nicht einfach so weiter machen wie bisher. Aber dann gab es einen vernünftigen Studentenpfarrer, und der hat zu mir gesagt: "Wissen Sie, ich verstehe ja, dass Sie das so mitnimmt, aber überlegen Sie mal, lange kann der Hitler sich nicht halten, und dann werden Menschen gebraucht wie Sie, die wissen, was das für ein Unrechtsstaat war." Dieser Studentenpfarrer hat den Ausschlag gegeben, dass ich wieder gesund geworden bin und fertig promoviert habe und dann nach 1945 sofort entschlossen war: Jetzt will ich dafür leben, wofür Freunde und Kommilitonen ihr Leben geopfert haben. So war das. Kurz gefasst.

epd: Das haben Sie in zahlreichen Ämtern getan und 54 Jahre auch als Mitglied der FDP. Dann sind Sie im Jahr 2002 ausgetreten. Bereuen Sie das manchmal?

Hamm-Brücher: Also, wenn Sie mich das so ganz ungeschminkt fragen, dann sage ich Ihnen: Ich finde, das war eine meiner klügsten und schwierigsten Entscheidungen. Ich bereue sie überhaupt nicht. Jetzt gibt es ja wieder ganz andere Leute als damals den grässlichen Möllemann. Selbst Westerwelle spielt keine große Rolle mehr, der ja auch Schuld daran hatte, dass Möllemann seinen Antisemitismus und Rechtskurs überhaupt praktizieren konnte. Jetzt sind da junge, smarte Leute, die wollen, dass ich wieder zurückkomme. Und ich sage Ihnen ganz unverblümt: Ich fange doch mit 90 Jahren nicht an, mich noch mal anzupassen. Das habe ich oft genug getan.

epd: Wie ist denn Ihr Verhältnis zur FDP jetzt?

Hamm-Brücher: Ich habe viele persönliche gute Bekannte oder auch Freunde in der FDP. Das hat sich auch nicht geändert. Aber das sind Ausnahmen und einzelne Menschen, nicht die Partei als solche. Also wenn Sie je daran denken, in eine Partei zu gehen, dann müssen Sie sich klar sein: Da können Sie kaum etwas Eigenes erreichen. Es sei denn, Sie arbeiten von früh bis spät mit den Ellenbogen.

epd: Das heißt, Sie würden jungen Leuten gar nicht mehr raten, in die Politik zu gehen?

Hamm-Brücher: Doch, aber realistisch. Es ist eben die Schwäche unserer Demokratie, dass durch diese Machtorientierung in den Parteien junge Menschen frühzeitig erfahren: "Wenn Du Dich nicht anpasst, hast Du keine Chance." Und darum gehen auch zu wenig idealistische Leute in die Parteien und stattdessen vor allem die, die Karriere machen wollen. Anfangs, nach 1945, waren es Leute wie zum Beispiel Theodor Heuss, die im Dritten Reich gelitten hatten. Die hatten eine Glaubwürdigkeit und Identität, die überzeugt hat. Und mit der Zeit kamen dann die Profis und die Karrieristen und die Opportunisten, und daraus entstand dann überwiegend eine Parteiendemokratie und zu wenig Bürgerdemokratie.

epd: Sind Sie unzufrieden mit der Demokratie als solcher?

Hamm-Brücher: Ich bin überzeugte Anhängerin der Idee der Gewaltenteilung und der Meinungsfreiheit und der diskutierenden Demokratie. Also die Grundideen finde ich unverzichtbar und wichtig. Ich finde jedoch, dass unsere Parteiendemokratie entartet, weil die Parteien überall das Sagen haben.

epd: Aber Kompromisse zum Beispiel gehören doch zur Demokratie dazu, oder nicht?

Hamm-Brücher: Natürlich muss man auch Kompromisse schließen, denn in der Demokratie braucht man immer Mehrheiten. Aber wenn man die nicht hat, muss man auch die Verantwortung dafür übernehmen, dass entweder gar nichts geschieht oder nur ein Teilstück. Deshalb ist es wichtig, dass Politiker vor der Wahl nicht das Blaue vom Himmel versprechen. Schon Bismarck hat gesagt: Es wird nie so viel gelogen wie nach der Jagd, im Krieg und vor Wahlen.

epd: Wie viel kann ein einzelner Politiker dann noch ausrichten?

Hamm-Brücher: Man kann seine Gedanken und seine Vorstellungen entwickeln und das muss man auch. Und dann muss man sehen, wie man sie im eigenen Parteigefüge durchsetzt und schließlich dann im parlamentarischen Parteiengefüge. Da bleibt oft herzlich wenig übrig.

epd: Hat sich Ihre Arbeit in der Politik verändert?

Hamm-Brücher: Natürlich. Anfangs war ich ein braves Mädchen und eine brave Frau, die vom Bildungsbürgertum und den charakteristischen Idealen meiner Familie geprägt war. Aber damit konnte ich mich in der Politik nicht behaupten. Dann sind mit mir emanzipatorische Veränderungsprozesse in Gang gekommen. Das ging auch nicht anders, aber die ausschließlich parteipolitische Machtorientierung habe ich nie mitgemacht.

epd: Sie waren eine der ersten Frauen in der Politik der Bundesrepublik, 1967 wurden Sie als erste Frau Staatssekretärin. Wie war die Situation für eine Frau in dieser Männerwelt damals?

Hamm-Brücher: Bis in die 70er Jahre des vorherigen Jahrhunderts hatte man nur eine Chance, wenn man sich als Frau angepasst hat: dass man ein fleißiges Bienchen war, immer lieb und freundlich, immer Kaffee gekocht, immer den Herren die politischen Wünsche von den Augen abgelesen hat. Die angepasste, nette "Kollegin", das war die Vorstellung der Männer. In den späteren Jahren wurde ich dann eine der ersten wirklich kämpferischen Frauen.

epd: Hatten Sie dadurch auch eine Vorbild-Funktion?

Hamm-Brücher: Teils-Teils. Ich hatte eine Art Beratungs-Sprechstunde, und viele Frauen haben mir viele Briefe geschrieben. Ein krasses Beispiel: Eine Frau schrieb mir: "Ich möchte mich emanzipieren, wie soll ich das machen?" Die heutige Frauen-Generation ist, vergleichsweise, auf Rosen gebettet. Wir waren mehr auf die Dornen gebettet.

epd: Sie hatten als Politikerin viel Gegenwind. Wie haben Sie das ausgehalten?

Hamm-Brücher: Ich hatte nicht nur Gegenwind, ich hatte richtige feindselige Leute, die mich entmutigen und rausekeln wollten. Wie man das aushält? Ich hatte nie beschlossen, Politikerin zu werden. Das ergab sich einfach. Ich bin in die Politik gegangen, weil ich mitwirken wollte, dass es eine Diktatur wie im Dritten Reich bei uns nicht wieder gibt. Diese Grundüberzeugung war sehr stark, und die Gefahr, dass doch noch mal Rechtsextremismus aufwächst, war ja zeitweise auch sehr groß. Eine andere Kraftquelle ist mein Glaube. Ganz einfach. Ich habe immer das Gefühl, als Christin muss ich versuchen, auch mit meinen Glaubensüberzeugungen zu wirken. Darum engagierte ich mich auch in so vielen christlich-jüdischen Vereinigungen, im Kirchenvorstand, in der Synode und beim Kirchentag. Und das war das Erfreulichste, dass ich meine Freunde bis heute eher im kirchlichen Bereich gefunden habe als im Reich der Politik.

epd: War Ihre Beziehung zur Kirche immer frei von Spannungen?

Hamm-Brücher: Die Amtskirchen haben im Dritten Reich versagt und dann auch in der ersten Aufarbeitungsphase nach 1945, eigentlich bis in die 60er Jahre. Ich war in der Synode, und wir wollten eine Denkschrift zum Demokratieverständnis evangelischer Christen machen. Dabei haben mir vor allem die Texte von Dietrich Bonhoeffer geholfen, ein neues Verständnis für die christliche Verantwortung als Bürger zu entwickeln.

epd: Finden Sie, dass die Kirche heute politisch wieder aktiver werden muss?

Hamm-Brücher: Ja, sie muss demokratie-politisch aktiv werden! Nicht als Partei. Vielmehr muss sie Christen ermutigen, auch weltliche Verantwortung zu übernehmen. Sie muss dafür sorgen, dass unsere Demokratie nicht neuerlich gefährdet oder eingeschränkt wird.

epd: Sie schreiben immer, Bildung sei wichtig für eine stabile Demokratie. Was sollten Kinder über Demokratie lernen?

Hamm-Brücher: Jungen Menschen muss sehr früh erfahrbar werden, dass Demokratie ein Ideal ist, aber in der Wirklichkeit immer unvollständig und verbesserungswürdig: Ihr könnt das Ganze nicht umkrempeln, ihr könnt nur da, wo ihr seid, versuchen, es besser zu machen. Also ich bin da sehr realistisch. Was in Schulbüchern über Demokratie steht, ist zumeist irritierend. Natürlich soll man Kinder und Jugendliche nicht entmutigen. Dennoch soll man sagen: Demokratie ist nur die zweitbeste Staatsform. Welche die beste ist, können wir euch leider nicht sagen.

03. August 2011