Predigt am Pfingstsonntag, in der Nazarethgemeinde in Hannover (4. Mose, 11 - 12, 14 - 17, 24 - 25)

Antje Heider-Rottwilm

Liebe Gemeinde,

da wird einem die Last der Verantwortung zu schwer:

  • die Verantwortung für das leibliche Wohlergehen des Volkes Israel, dafür, dass sie auf dem weiten Weg durch die Wüste nicht verhungern und verdursten,
  • die Verantwortung dafür, dass sie vor allem nicht das Ziel aus den Augen verlieren, das gelobte Land, in dem sie in Freiheit und Gerechtigkeit miteinander leben sollen,

  • und die Verantwortung dafür, dass dieses Volk beginnt, sein Leben auf die Gebote Gottes hin auszurichten, die eben Freiheit in Gerechtigkeit für alle gewährleisten sollen, nicht nur für einige auf Kosten aller.
  • Und dann soll Mose noch dafür einstehen, dass Gott der einzige Gott seines Volkes  und des ganzen Erdkreises ist - statt aller Göttinnen und Götter, goldener Kälber und anderer Projektionsflächen, an die sich die Menschen mit ihren Sehnsüchten heften.
    All das wird Mose absolut zuviel!
    Und Gott - so wird berichtet - reagiert sofort. Die Verantwortung wird auf viele Schultern verteilt, auf viele Persönlichkeiten - siebzig sollen es gewesen sein und diese Zahl steht für die Fülle.
    Und Mose wird entlastet.

Der Geist, mit dem Mose erfüllt wurde, geht nun auf viele über und lässt sie in Verzückung geraten - ohne Ende begeisterte Gott sie.
Schon zu Beginn der Geschichte des jüdischen Volkes, ohne die es die christliche nicht gibt, entdecken wir, dass Gott vielen Begeisterung und Verantwortung schenkt. Das verhindert weder, dass es Spannungen und Konflikte gibt - noch dass sich die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreiber früher und der Medien heute weiterhin auf eine Person richtet und sie behaftet mit Erfolg oder auch Versagen.

Und auch zu Beginn der christlichen Kirche steht, dass Gottes Geist viele Menschen erfüllte und begeisterte - und sie so in Verzückung gerieten, dass man ihnen schon unterstellte, sie seien betrunken. Sie waren berauscht von Gottes Geist, der die Grenzen auflöste zwischen ihnen - auch die Grenzen des Verstehens zwischen verschiedenen Völkern und Sprachen. Dass das nicht so blieb - dass es bald wieder Streit gab zwischen denen, die mit Jesus gelebt hatten, denen die von ihm gehört hatten, denen, die die Botschaft von Frieden und Gerechtigkeit für alle, vom Anbruch des Reiches Gottes in Christus weitersagten - davon lesen wir schon im Neuen Testament. Und dass die geteilte Verantwortung und die Fülle der Begeisterung für viele dann wieder zu dogmatischen Abgrenzungen, Ausgrenzungen, Spaltungen und sogar kriegerischen Konflikten durch die Kirchen führte, davon wissen ja viele heute mehr als von der Geschichte von Frieden und Gerechtigkeit, die sich trotzdem nicht auslöschen ließ.

Etwas von dieser Botschaft für alle, von dieser Begeisterung, die zugleich verzückt und verantwortlich macht, haben wir in diesem Jahr in den Tagen nach Ostern in Straßburg bei der Europäischen Ökumenischen Versammlung erlebt. Wir brauchten zwar Übersetzerinnen und Übersetzer, damit alle miteinander reden konnten - aber wir sangen, beteten, diskutierten, lasen die Bibel miteinander: Als Menschen aus fast allen Ländern Europas und fast allen Konfessionen Europa.
Und nicht nur das: Ist im Mosebuch ist noch die Rede von 70 Männern - und die starke Rolle Miriams, der Schwester von Mose, sehr ambivalent berichtet - so erinnert Petrus in seiner Pfingstrede dann schon an den Propheten, der weiß, dass Gott allen seinen Geist schenkt - Söhnen und Töchtern, Alten und Jungen, Reichen und Armen. Aber er wendet sich dann doch wieder nur an die Männer.
In Straßburg waren zumindest gleich viele Alte und Junge zusammen, 100 kirchenleitende Menschen, darunter die Vorsitzenden aller röm.-kath. Bischofskonferenzen in Europa und der Zentralausschuss der Konferenz Europäischer Kirchen. Dass auch da die Männer immer noch überwiegen, ist klar. Aber es waren 100 Jugendliche dort. Drei Tage haben wir uns aufeinander eingelassen, um sozusagen den Geburtstag der Charta Oecumenica vorzubereiten und zu feiern.

Dazu gehörten wichtige Erfahrungen:

  • für die orthodoxen Jugendlichen, die zuerst gar nicht einordnen konnten, dass ihr Metropolit neben ihnen mit Tablett in der langen Schlange der Mensa stand und auf das Essen wartete - wie sie. Und mit Zeit zum Reden über dies und das.

  • Oder die eindrückliche Bibelarbeit zur Emmausgeschichte, die darin mündete, dass wir zu zweit - je eine/r Kirchenleitende/r und eine/r Jugendliche uns auf den Weg machten und einander erzählten, ja anvertrauten, was für uns diese Geschichte bedeutet.

  • Oder dass mir eine junge Katholikin aus Osteuropa hinter vorgehaltener Hand erzählte, ihr sei vorher richtig unheimlich vorgekommen, dass hier auch eine Bischöfin anwesend sei - und nun sei sie so beeindruckt von ihrer Bibelarbeit und finde sie gar nicht mehr bedrohlich, im Gegenteil.
  • Oder dass der russische Priestermönch an unserem Tisch, der sich erst so kritisch zur Charta Oecumenica geäußert hatte, nun sagt: "Wenn eine Kirche glaubwürdig von Gott redet, sollen sich die anderen doch freuen" und "die Charta sei das erste Dokument in der Geschichte, das sagt, was wir als christliche Kirchen in Europa gemeinsam haben."

Wir haben viele Gottesdienste miteinander gefeiert: orthodoxe, römisch-katholische, lutherische, reformierte Liturgien.
Und ich denke, das Feiern war angemessen. Denn in dieser Charta verpflichten sich die Kirchen, d.h. also die Menschen, die die Kirchen der Gegenwart und in die Zukunft hinein tragen wollen, die Alten und die Jungen, Frauen und Männer, Gemeinden, Gruppen und die Leitenden dazu, ihre Zusammenarbeit zu vertiefen - und ihre Verantwortung als Christinnen und Christen in Europa ernst zunehmen.

Es hatte einen ersten Entwurf gegeben, eingefordert von der großen ökumenischen Versammlung 1997 in Graz. Er war in den Kirchen von Norwegen bis Spanien, von Georgien bis Luxemburg diskutiert und mit Veränderungsvorschlägen zurückgeschickt worden. Schon das war ein wichtiger Prozess: sich darüber zu beraten - was ist unser gemeinsamer Auftrag, unser gemeinsames Ziel - und was sind die Hindernisse auf dem Weg, wie wollen wir sie überwinden?

Die orthodoxen Kirchen haben sich extra auf Kreta getroffen, um zu klären, ob sie überhaupt und wenn ja, wie mitmachen wollen. Und sie haben mitgemacht. Die meisten Landeskirchen haben die Charta Oecumenica beraten und aus ihren Ergebnissen habe ich eine Synopse, eine Zusammenstellung geschrieben, so dass der Rat der EKD auf dieser Grundlage dann seine Stellungnahme losschicken konnte. Natürlich hätte die Charta Oecumenica noch viel intensiver vorbereitet werden können - noch mehr in Gemeinden und Kirchen diskutiert werden können.

Aber dass sie nun so wie Sie sie in der Hand halten, in Straßburg verabschiedet wurde, heißt ja nur, dass der Prozess weitergeht. Solch ein Papier lebt davon, dass die Menschen sagen: "da stehen wichtige Gedanken drin. Die Gegenwart ist so beschrieben, dass ich merke, ich bin gemeint - wir sind gemeint - und das Ziel ist so beschrieben, dass es meine Sehnsucht ausdrückt oder weckt." Und dann kommt es darauf an, sie durchzubuchstabieren - mit den Nachbargemeinden, mit den ökumenischen Geschwistern hier im Umkreis, auch in den Gruppen, in der ACK - und sie in die Tasche zu stecken und zum Thema zu machen bei Reisen zu ökumenischen Freunden. Immer mit der Frage: hilft dieses Papier und der Geist, der darin steckt, uns unser Zeugnis als Christinnen und Christen glaubwürdiger zu leben?

Die Charta Oecumenica beginnt damit, unsere gemeinsame Basis als Christen zu beschreiben:  wir glauben, 'die eine heilige katholische und apostolische Kirche' so sagen wir in unserem gemeinsamen Glaubensbekenntnis, dem Nicenum, in der alten Sprache und drücken aus, was katholisch ursprünglich heißt: allgemein.

Wozu wir uns in der Charta Oecumenica verpflichten ist nicht selbstverständlich; auf die 'sichtbare Einheit der Kirche Jesu Christi in dem einen Glauben hinzuwirken, die ihren Ausdruck in der gegenseitig anerkannten Taufe und in der eucharistischen Gemeinschaft findet sowie im gemeinsamen Zeugnis und Dienst'.
Die Kirche Jesu Christi wird also nicht verstanden als eine organisatorische Superkirche mit einer zentralen Spitze - sondern sie lebt dort, wo wir in all unserer Vielfalt dennoch gegenseitig die Taufe anerkennen - was einigen orthodoxen Kirchen z.B. äußerst schwer fallen wird - und indem wir eucharistische Gemeinschaft feiern, was, wie Sie wissen, nicht nur eine evangelisch-orthodoxe, sondern schon eine evangelisch-katholische Herausforderung zu energischen Schritten bedeutet.

Nicht Superstruktur - aber gemeinsames Zeugnis und Dienst, wie es in der Kirchensprache heißt. Für mich bedeutet das: die frohe Botschaft von Gottes Liebe weitersagen - und danach handeln und dieses, soviel eben möglich ist, gemeinsam. Und natürlich auch pfingstlich feiern. Verzückt und begeistert.

Und so wird im zweiten Abschnitt der Charta Oecumenica beschrieben, worin die Herausforderungen für Zeugnis und Dienst bestehen - und wozu wir uns verpflichten. Manches mag uns hier banal vorkommen.
Aber für die russisch-orthodoxe Kirche ist es bedrohlich, dass amerikanische Missionstrupps mit viel Geld in den Taschen in ihrem Land missionieren - wo ihrem Verständnis nach Russland ein heiliges orthodoxes Land ist - und z.T. wirklich mit problematischen Methoden die Armut der Menschen zur Bekehrung ausnutzen. Und da ist für sie so ein Satz: "Niemand darf durch moralischen Druck oder materielle Anreize zur Konversion bewegt werden" wichtig. Andererseits muss die russisch-orthodoxe Kirche und müssen wir alle akzeptieren, dass - wie es heißt - ebenso niemand an einer aus freien Stücken erfolgenden Konversion gehindert werden darf! Dies nur als ein Beispiel - ein anderes ist der Satz "Im Geiste des Evangeliums müssen wir gemeinsam die Geschichte der christlichen Kirchen aufarbeiten!" Wie unterschiedlich die Wahrnehmung eines Konfliktes je nach der eigenen Perspektive aussieht, kennen wir aus unseren persönlichen Krisengeschichten - und wie weh es tut, genau hinzugucken und zu akzeptieren, dass der oder die andere dasselbe Ereignis völlig anders erlebt hat. Genauso und in den Folgen dramatisch für ganze Völker ist es mit der Geschichte zwischen orthodoxen und römisch-katholischen Kirchen oder protestantischen und römisch-katholischen Kirchen z.B. in verschiedenen Regionen Europas, ob in der Ukraine, in Spanien oder auch in unserer eigenen Geschichte. Aber nur wenn wir unser eigenes Miteinander als Kirchen klären, können wir glaubwürdig einbringen, worum es im dritten Kapitel der Charta Oecumenica geht: unsere gemeinsame Verantwortung in Europa wahrzunehmen.

Unsere Vielfalt als Kirchen ist eigentlich ein ungeheures Geschenk: es macht deutlich, dass sich die eine Botschaft von der Liebe Gottes in Christus in die Vielfalt der Regionen, Ethnien, gesellschaftlichen Gruppen, Frömmigkeitstypen hinein verstehen und leben lässt - aber nie in einer aufgeht und sich auf sie begrenzen lässt. Welch eine Fülle des Geistes - welche eine Freiheit!

In Europa stehen wir zur Zeit vor der Aufgabe, zu verstehen und zu gestalten, wie die Menschen in Zukunft zusammenleben können. Nach dem Krieg wurde die Europäische Gemeinschaft gegründet - u.a. als Versöhnungsangebot an Deutschland, um durch wirtschaftliche Zusammenarbeit Frieden zu gewährleisten in einer durch furchtbare Kriege zerrissenen Region. Der Süden und der Norden Europas brachten in der europäischen Union eher katholisch und protestantisch geprägte Länder zusammen. Der Fall des eisernen Vorhangs eröffnete vor elf Jahren nun auch Frieden und Versöhnung zwischen Ost und West. Die Mitte Europas ist nicht hier, sondern sehr viel weiter östlich. Wollen wir, dass Europa sich erweitert bzw. zusammenwächst? Sind wir im Westen Europas bereit, wirtschaftliche Zusammenarbeit, offene Grenzen, gemeinsame politische Strukturen anzubieten - um das zu teilen, was andere uns und mit uns vor fünfzig Jahren ermöglicht haben?

Mittel- und Osteuropa sind durch die Orthodoxie geprägt. In vielen Ländern gibt es Konflikte, in denen ethnische und religiöse Motive einander verstärken. Wollen wir als Kirchen all unsere Kräfte nutzen, um zum gegenseitigen Verständnis, zum Abbau von Konflikten, zu Gerechtigkeit, zur Bewahrung der Schöpfung beizutragen - in ganz Europa, nicht nur einem westlichen Wohlstandseuropa. Und weltweit - nicht nur in einem als Festung abgeschotteten Europa?

Diese Fragen sind für uns unumgänglich

  • und die Selbstverpflichtungen in der Charta Oecumenica können für uns ein Impuls sein, sie für unsere Gemeinden und Kirchen hin zu beantworten und das auch zu leben;
  • oder es besteht die Gefahr, dass wir nur im Schlepptau der politischen Meinungsmache mitziehen, statt deutlich für Gerechtigkeit und Frieden in Europa einzutreten - gemeinsam.

Damals hat Gott zu Mose gesagt: "Trag das Volk in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das ich seinen Vätern zugeschworen habe!" Und Mose hat gesagt: "Ich vermag es allein nicht zu tragen, denn es ist mir zu schwer."
Gehet hin in alle Welt - hat Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern gesagt - und ihnen die ganze Welt in die Arme gelegt.

Die Sorge um das tägliche Brot, die Sorge um das gelobte Land, das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, die Gestaltung des Miteinanders der Menschen auf dem Weg dorthin und in allem die Verkündigung des einen Gottes, der in Christus schon hier und jetzt Gerechtigkeit und Frieden für alle gebracht hat - all das ist zuviel Verantwortung:
Für eine einzelne Kirche, einen einzelnen Kontinent, eine einzelne Region, zu viel auch nur für Männer, nur für die ältere Generation, dafür braucht es uns alle - Männer und Frauen, vor allem auch Töchter und Söhne, evangelische, römisch-katholische, orthodoxe, freikirchliche Menschen, Deutsche und Rumäninnen, Portugiesinnen und Esten, Isländer und Serbinnen.

Uns allen ist die Zukunft dieses zerrissenen Europas liebevoll in die Arme gelegt - und begeistert und verzückt durch den Geist Gottes können wir sie gemeinsam tragen.

Amen