Predigt am Sonntag Invokavit in St. Marien zu Berlin (Lukas 22, 31-34 )

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

Amen.

Liebe Gemeinde!

Der Predigttext für den Sonntag Invokavit, den ersten Sonntag der Fastenzeit, stammt aus dem Bericht des Evangelisten Lukas über die Passion Jesu.

In einem Jerusalemer Haus ist Jesus mit seinen Jüngern zum letzten gemeinsamen Abendmahl zusammen. Nachdem die Mahlzeit beendet ist, führt er mit einzelnen von ihnen Gespräche. Eines gilt Petrus, der sich mit besonderem Nachdruck zu ihm bekannt hatte, als er sagte: "Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes."

Zu diesem Petrus sagt Jesus, indem er ihn mit seinem angestammten Namen anredet:

"Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder. Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst."

Liebe Gemeinde, gesiebt wie der Weizen: das ist ein eindrucksvolles Bild für die Proben, vor die das Leben uns stellt. Der Versucher als der große Schüttler, der prüft, ob wir durch die Maschen fallen. Was auch immer wir von diesem Bild halten - zu leben heißt, auf die Probe gestellt zu werden. Im Glück zu sein, heißt Proben zu bestehen.

Dass auch Jesus vor solche Versuchungen gestellt wurde, haben wir vorhin im Evangelium dieses Sonntags gehört.

Nicht zufällig begegnen uns diese Texte, die von Versuchungen und Proben berichten, am Beginn der Passionszeit. Welche Gewohnheiten werden uns zur Versuchung? In welchen Proben unterliegen wir? Der geistliche Frühjahrsputz, zu dem die Fastenzeit auffordert, macht uns auf solche Fragen aufmerksam. In dieser Zeit achten viele bewusst auf Körper und Seele, um den Proben des Lebens eher gewachsen zu sein und um zu bestehen, wenn wir durch das Sieb des Versuchers geschüttelt werden.

Dass alle Proben uns erspart bleiben, ist niemandem verheißen. Wir alle werden in dem Sieb geschüttelt, das die Spreu vom Weizen trennen soll. Und manches Mal fallen wir auch durch die Maschen. Wir alle wissen: Zum Ganzen fügt sich unser Leben nicht durch unsere Leistungen allein; es fügt sich zum Ganzen, weil Gott uns auch in unseren Fehlern und Niederlagen die Treue hält und die Tür zu einem neuen Anfang aufschließt.

Wir alle stehen immer wieder vor Entscheidungen, bei denen wir uns irren können. Noch häufiger gehen wir den falschen Weg, weil es uns an Mut fehlt, an Zivilcourage, an aufrechtem Gang. Wir alle kennen die Versuchung, Vertrauen zu verspielen, Treue aufzukündigen, ein gegebenes Versprechen zu brechen. Zum menschlichen Leben gehören die Versuchungen der Macht: Manche Menschen werden dabei aus unterwürfiger Anpassung an die Macht verschlagen und unaufrichtig; andere geben den Verlockungen nach und nutzen sie zum eigenen Vorteil aus, statt sie verantwortlich zu gebrauchen.

Die Gefährdung, vor der alle Menschen stehen, schildert das Lukasevangelium in unserem Predigtabschnitt an einem besonders eindrucksvollen Fall.

Der Mann mit dem Doppelnamen, Simon Petrus, kann ohne Zweifel schon im Kreis der Jünger Jesu eine herausgehobene Autorität für sich in Anspruch nehmen. Er war es, der als Fischer dem Nichtfachmann vertraute, als Jesus ihn aufforderte, noch einmal hinauszufahren und die Netze auszuwerfen. "Auf dein Wort hin will ich es tun", antwortete er damals und wurde so zum Vorbild eines vorbehaltlosen Vertrauens. So ist Jesus ihm auch mit besonderer Fürsorge zugetan. Sie kommt sogar der Schwiegermutter des Petrus zugute, die Jesus von einem Fieberanfall befreit.

Die Evangelien benennen immer wieder eindrucksvolle Beispiele, mit welcher Treue Petrus auf Jesu Seite steht. Am dramatischsten geschieht das nach der Szene, mit der wir uns heute beschäftigen. Mit Gewalt will Petrus seinen Herrn und Meister vor der Verhaftung bewahren. Nur Jesu Dazwischentreten hält ihn vor Schlimmerem zurück: "Stecke dein Schwert in die Scheide." Der Klarheit, mit der Petrus sich zu Jesus bekennt, entnimmt die frühe Christenheit auch schon bald einen besonderen Auftrag: Auf diesem Felsen soll die Kirche ein sicheres Fundament haben. Schon früh wird berichtet, dass Petrus für sein Bekenntnis zu Christus mit dem Leben einstand; in Rom wurde er als Märtyrer hingerichtet.

In dem Gespräch nach dem letzen Abendmahl aber nimmt Petrus den Mund eindeutig zu voll: "Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen." Doch Jesus hält ihm entgegen: "Noch vor Morgengrauen wirst du mich dreimal verleugnen." Petrus nimmt diese Korrektur ungläubig entgegen.

Würde Petrus auf Jesus hören, wäre er der Versuchung vielleicht eher gewachsen. Würde er die eigene Schwäche vorher einkalkulieren, würde ihm vielleicht die Zivilcourage zuwachsen, die ihm nachher fehlt.

Mut hat nur, wer seine Grenzen kennt. Wer seine Grenzen ignoriert, purzelt leicht von Tollkühnheit in Verrat. Es ist doch genau dieser Kontrast, der das Geschehen um Petrus so befremdlich und so vertraut zugleich macht. Bei Tische, in den geschützten vier Wänden eines Privathauses verkündet er, bis zum letzten entschlossen zu sein. Draußen aber, im Hof des Hohenpriesters, die Insignien der Macht vor Augen, pustet ihn schon die Frage einer harmlosen Bediensteten um.

Große Worte werden da gesprochen, die durch das Leben nicht gedeckt sind. Treue wird da zugesagt, die im Alltag nicht durchgehalten wird.

Als Petrus sich an Jesu Voraussage erinnert, geht er hinaus und weint bitterlich. Johann Sebastian Bach hat dieses Weinen in einer Weise vertont, die zeigt, dass jeder von uns in seinem eigenen Leben damit zutreffend geschildert ist. "... und weinete bitterlich ..." Im geschützten Raum sind wir zu großen Worten fähig; je größer diese Worte, desto größer ist auch die Gefahr des Verrats, des mangelnden Muts, der aufgekündigten Zivilcourage.

Seit Petrus gehört die Diskrepanz zwischen Wort und Tat, zwischen den großen Ankündigungen und der bescheidenen Wirklichkeit zu den bleibenden Problemen der Christinnen und Christen.

Wie leicht fällt es uns, auf Petrus zu zeigen. Dieser da! Und wie selten gelingt es uns, in Petrus auch unsere eigene Geschichte, unsere eigene Person zu erkennen?

Mir fallen viele Begebenheiten ein, in denen ich hinterher wusste, wie die Antwort hätte heißen können, welche Entscheidung die richtige gewesen wäre. Dem Gruppendruck widerstehen, die eigene Meinung auch dort zu sagen, wo sie nicht auf Zustimmung rechnen kann, auf Applaus verzichten, weil nun das Unbequeme gesagt werden muss - wie oft bin ich dahinter zurückgeblieben!

Mit Petrus ist hier nicht ein Mensch mit einer Sonderrolle und einem Sonderschicksal gemeint. Er ist nicht genannt als Vorsitzender eines neuen Vereins. Petrus steht für die Kirche. Kirche sind wir. Die Kirche ist der Ort, an dem die Wahrheit Gottes deutlich - und wo sie auch verraten wird.

Immer wieder ? und nicht ohne Grund ? wird deshalb den Christen der Spiegel vorgehalten. Unter dem Bild, das sie dann sehen, steht die Frage: Wie passt das, was du da siehst, zu dem, was du von dir selbst behauptest?

Und viele setzen sich mit Behagen auf die Zuschauertribüne, um dieses Schauspiel zu verfolgen. Viele auch, die für ihr eigenes Leben gar keine anderen Ziele mehr kennen als den eigenen Vorteil, rechnen es Christen doppelt und dreifach vor, wenn die Angst um das eigene Leben, den eigenen Beruf, die eigene Ehre sie doppelzüngig gemacht oder ihnen den Mut genommen hat.

Die kleine Szene bei Lukas hat auch ihre eigene Gefahr. Sie könnte als Entschuldigung benutzt werden für einen solchen Zustand der Kirche, für den Zustand des Verrats oder der verweigerten Nachfolge. An den Zustand des Kleinmuts denke ich ganz besonders, in dem wir nötige Veränderungen unserer Kirche vor uns herschieben und uns lieber mit langatmigen Strukturdebatten beschäftigen, anstatt Auskunft darüber zu geben, was unser Glaube heute zu sagen hat: zum Bild vom Menschen etwa, das durch den Umgang mit wissenschaftlichen Fortschritten ebenso ins Wanken gebracht wird wie durch das Zurschaustellen unserer sterblichen Überreste; oder zum Umgang mit der Schöpfung, die wir nicht nur als Lebensmittel gebrauchen, sondern zur bloßen Ware gemacht haben. Vernehmbarer müssten wir Christen sein in einer Zeit, in der die einen frohgemut erklären, auf Gott sei man zur Meisterung des Lebens nicht länger angewiesen, während wir anderen solchem Reden auch noch Vorschub leisten, indem wir uns am Verschweigen Gottes beteiligen, statt uns zu ihm zu bekennen: "Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst."

Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht aber nicht Petrus, sondern Jesus.Auch wenn Petrus durch das Sieb seiner eigenen Selbsteinschätzung fällt - Jesus verspricht, den Versager nicht fallen zu lassen, für ihn auch künftig da zu sein, seiner verratenen, ins Wanken geratenen Lebensüberzeugung wieder einen festen Grund zu geben.

"Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre".

Dies, liebe Gemeinde, gibt mir Zuversicht für uns selbst wie für unsere Kirche: Für uns ist gebetet. Wir fallen nicht durch die Maschen; das verdanken wir der Autorität des bittenden Christus. Auch unsere Kirche wird nicht durch die Maschen fallen; denn für sie ist gebetet. Auch wir dürfen uns zu einer Heiligkeit der Kirche bekennen, die nicht von uns gemacht wird. Es gibt einen Segen, der nicht durch den Verrat aufgehoben wird.

Die Geschichte des Verrates wendet sich zur Hoffnungsgeschichte. Sie widerspricht der Meinung, das Leben habe nicht mehr Güte, als wir ihm selber geben. Sie widersetzt sich der Vermutung, das Leben habe nicht mehr Segen, als wir selber hineinlegen. Sie protestiert gegen die Auffassung, Gott habe keine anderen Hände als unsere eigenen.

Weil Jesus diesen Petrus nicht aufgibt, ihn sogar eines weitreichenden Auftrags würdigt, braucht niemand mehr sagen: "Ach, es ist ja doch hoffnungslos!" Kein Versagen rechtfertigt ein endgültiges Negativurteil über einen Menschen. Auch ein Verrat an der eigenen Lebensüberzeugung, an den Idealen und Werten trägt niemals den Stempel des Endgültigen. In diesen Wochen erleben wir spannende, zu einem erheblichen Teil aber auch zynische Debatten über die Biographie öffentlicher Personen. Entscheidet ihr Verhalten im Jahr 1969 oder 1974 darüber, was wir ihnen heute zutrauen und heute von ihnen erwarten können? Oder werden wir zum ehrlichen Umgang mit unserer eigenen Vergangenheit gerade befähigt, weil wir wissen: Wir sind nicht ein für allemal auf sie fixiert? Gespräche über unsere Lebensgeschichte und unsere Lebensgeschichten sollten viel mehr Raum haben. Aber Sinn haben sie nur, wenn wir dabei die unerwartete Veränderung, den geschenkten Neuanfang einkalkulieren und das Lernen nicht leugnen, das uns zufällt. Sinn haben sie nur, wenn wir dem Leben mehr Güte zutrauen, als wir ihm selbst geben.

Der christliche Glaube unterscheidet zwischen der Person und ihren Taten. Er hält die Tür zu einem Neuanfang offen. Er traut uns allen neue Anfänge zu. Eine billige Ausflucht ist das freilich nicht. Die Autorität des bittenden Christus rechtfertigt es nicht, den Verrat zu verharmlosen. Die Einladung zum Neuanfang ist ein Ruf zur Umkehr. Mit billiger Gnade hat das nichts zu tun.

Es ist ein Ruf, der uns aus unserer Unsicherheit und Existenzangst herausführt. Christen beteiligen sich nicht an der Abwertung anderer, weil sie wissen, wer sie selber sind: Menschen nämlich, die von dem bittenden Christus aus eigener Unsicherheit herausgeführt werden. Deshalb brauchen wir uns nicht aus der uneingestandenen Angst vor kommenden Niederlagen selbst das Leben zur Hölle zu machen. Und wir können uns nicht daran beteiligen, wenn andere Menschen abgewertet und abgeschrieben werden. Andere anzuerkennen - und seien sie uns fremd - , ist ein entscheidendes Kennzeichen christlichen Lebens.

In wenigen Wochen werden wir den 325. Todestag von Paul Gerhardt begehen, dem Liederdichter und wortmächtigen Zeugen des Evangeliums auf brandenburgischem Boden. Als Paul Gerhardt, Archidiakon hier nebenan in der Nikolaikirche, im Jahr 1666 sein Amt verlor und Berlin verlassen musste, saß er mitsamt seiner Familie buchstäblich auf der Straße. Seine Frau war darüber so verzweifelt, dass es ihr beinahe das Herz brach. Paul Gerhardt antwortete auf diese Verzweiflung mit dem Lied: "Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der alltertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt." Als "Kind der Treue" wird da jeder Christenmensch angeredet. Ja, wir sind Kinder der Treue; denn der bittende Christus tritt bei Gott für uns ein.

Als Paul Gerhardt ein Jahrzehnt später in Lübben im Spreewald gestorben war, da versah man sein Bild in der Kirche mit einer Unterschrift, die aus unserem heutigen Predigtabschnitt die Summe zieht: "In cribro Satanae versatus et devotus". Zu deutsch: "In Satans Sieb gerüttelt und bewährt." Welch eine Bilanz! Paul Gerhardt freilich wusste, dass wir eine solche Bilanz nie uns selbst verdanken. Wie heißt es doch in seinem Lied? "Gott gibt dir selbst die Palmen / in deine rechte Hand, / und du singst Freudenpsalmen / dem, der dein Leid gewandt."

Amen.