Predigt zum Gedenkgottesdienst anlässlich der Rückgabe sterblicher Überreste aus dem früheren Deutsch-Südwestafrika

Bischöfin Petra Bosse-Huber in der Französischen Friedrichstadtkirche, Berlin

2. Kor. 4,5-10

Ein alter Rabbi fragte seine Schüler: „Könnt ihr mir sagen, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“ Einer glaubte es zu wissen: „Vielleicht dann, wenn man von ferne einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ „Nein“, antwortete der Meister. „Oder ist es, wenn man einen Dattelbaum von einem Feigenbaum unterscheiden kann?“, fragte ein Anderer. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“ fragten die Schüler. „Die Nacht endet dann und der Tag beginnt“, antwortete der Rabbi, „wenn ihr in das Gesicht eines Menschen blicken könnt und euren Bruder oder eure Schwester darin erkennt. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“
 

Liebe Geschwister in Christus,

der heutige Tag bewegt mich sehr. Wir wollen etwas tun, was schon seit vielen Jahrzenten hätte getan werden müssen: nämlich die Gebeine von Menschen, die Opfer des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts geworden sind, an ihre rechtmäßigen Nachfahren zurückzugeben. Es erfüllt mich mit tiefer Trauer und Scham, dass dies so lange gedauert hat; und dass längst noch nicht alle sterblichen Überreste aus institutionellen Beständen und aus Privatbesitz von Deutschland nach Namibia zurückgebracht worden sind. Gleichzeitig erschüttert es mich, dass sich nicht einmal Missionare, Pfarrer und christliche Gemeinden dem Völkermord ausreichend gestellt oder gar entgegengestellt haben.

Unsere Vorfahren meinten, sie hätten die Mission, Licht in das dunkle Afrika zu tragen. Sie waren davon beseelt, Erleuchtung und Befreiung zu bringen und Menschen aus der Knechtschaft der Finsternis zu befreien. Sie hatten – wie es auch der eben gelesene Bibeltext sagt - den hellen Schein des Evangeliums gesehen und waren der festen Überzeugung, zu wissen, wie das Evangelium auch die Herzen der sogenannten Heidinnen und Heiden erleuchten könnte.

Sie waren subjektiv davon überzeugt, das Richtige zu tun und dennoch auf das Schlimmste verblendet. Das Licht des Evangeliums wurde durch die Vermessenheit ihrer kulturellen Überheblichkeit in tiefste Finsternis verkehrt, die Botschaft Gottes durch ihr nationalistisches Erwählungsbewusstsein bis zur Unkenntlichkeit verfälscht. Wie die entsendenden deutschen Landeskirchen verstanden auch diese Kirchenleute die Eroberung der Kolonialgebiete als ein nationales Projekt, das die Weltmachtstellung Deutschlands sichern und festigen sollte.

Zwar haben Geistliche nicht selbst direkt zu den Massentötungen aufgerufen, dennoch vergiftete ein tiefsitzender Rassismus ihr Reden und Handeln. Es war gespeist aus einem kulturellen Überlegenheitsgefühl und eine tief gegründete Angst um die eigene, möglicherweise gefährdete Identität verfälschte ihr theologisches Denken und ihr praktisches Tun.

Durch die theologische Rechtfertigung von imperialem Machtanspruch und kolonialer Herrschaft haben sie somit den Boden für den Tod vieler tausender Angehöriger der namibischen Volksgruppen mit vorbereitet. Unzählige kamen sowohl in den Kriegshandlungen selbst als auch bei der Internierung in den Konzentrationslagern der deutschen Schutztruppen ums Leben.

Die Zeugen dieses verblendeten nationalen Erwählungsgedankens stehen uns heute real vor Augen. Sie haben doppelte Entwürdigung erfahren: nicht nur wurden sie auf brutalste Weise getötet, sondern auch auf unrechtmäßige Weise, unter Missachtung ihrer Menschenwürde und der ihnen heiligen religiösen und kulturellen Traditionen zu pseudo-wissenschaftlicher, rassischer und eugenischer sogen. „Forschung“ nach Deutschland gebracht.

Dies ist eine große Schuld und durch nichts zu rechtfertigen. Als Nachfolgeinstitution des einstigen Evangelischen Preußischen Oberkirchenrats, der seinerzeit im Auftrag aller deutschen evangelischen Landeskirchen handelte, haben wir uns als Evangelische Kirche in Deutschland in einer öffentlichen Erklärung im April 2017 zu dieser Schuld bekannt. Wir wiederholen dies heute ausdrücklich vor dieser Gemeinde und bitten die Nachfahren der Opfer und alle, deren Vorfahren unter der Ausübung der deutschen Kolonialherrschaft gelitten haben, wegen des verübten Unrechts und des zugefügten Leids aus tiefstem Herzen um Vergebung.

Gleichzeitig sind wir uns als Evangelische Kirche in Deutschland bewusst, dass wir das begangene Unrecht nicht ungeschehen machen können. Wir wissen auch um die Gebrochenheit schuldbelastender Erinnerung, die uns – wie es auch der Predigttext sagt – als irdene Gefäße weiter verwundbar sein lässt. Gleichzeitig wissen wir aber auch um die Kraft Gottes, die uns der Wahrheit und der Schuld ins Gesicht sehen lässt. Diese Kraft ist uns als Christinnen und Christen in dem Mysterium der Passion und Auferstehung Jesu Christi geschenkt. In ihrem Licht bitten wir um Vergebung und hoffen auf einen Neuanfang. Mich berührt die Erzählung eines Pastors aus dem südlichen Afrika, der in einer Notaufnahme eines Krankenhauses einen kleinen Zettel am schwarzen Brett fand, auf dem stand „Blessed are the cracked – they let the light though“ – „Gesegnet sind die, deren Leben Brüche hat – sie lassen das Licht durch“.  Ich finde es sehr tröstlich, dass es gerade unsere Brüche, unsere Verwundungen sind, die uns empfänglich machen und uns durchscheinend werden lassen für das Licht der Gnade Gottes. Diese Gnade ist so kostbar, dass niemand sie sich erarbeiten oder erwerben kann; sie kann – wie die Vergebung – nur erbeten und geschenkt werden.

Dieses Licht der Gnade Gottes ist der Anfang des neuen Tages. In ihrem Schein können wir einander ins Gesicht sehen und den Bruder oder die Schwester erkennen. Im Licht unverdienter Gnade können wir die Chance eines Neuanfangs ergreifen - auch als Ausdruck unserer bleibenden historischen und ethischen Verpflichtung. Gemeinsam mit den Nachfahren der Opfer wollen wir das Gedenken an die Opfer wachhalten, für die Anerkennung des Genozids öffentlich eintreten und an der Überwindung des durch die deutsche Kolonialherrschaft begründeten und danach fortwirkenden Unrechts arbeiten.

Wir haben damit bereits begonnen, gemeinsam mit vielen Kirchen und Missionswerken sowohl in Deutschland als auch im Südlichen Afrika in einem wissenschaftlichen Studienprozess zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit, in Konsultationen zur Schulderklärung und in sichtbaren Zeichen von Restitution und Versöhnung oder in dem Prozess der gemeinsamen Vorbereitung dieses Gedenkgottesdienstes mit unseren ökumenischen Geschwistern in Namibia.

Aber der Weg ist noch weit, und er verlangt unseren ganzen Einsatz. Möge uns das Licht von Gottes Wahrheit und Gnade den neuen Tag sehen lassen, wenn wir mit Dankbarkeit in das Gesicht eines Menschen blicken und unseren Bruder oder unsere Schwester darin erkennen. Amen.