Gottesdienst anlässlich des Festes zur Kreuzerhöhung am 14. September 2017 in der Konstantin-Basilika in Trier

Predigt von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Gemeinde,

„Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft.“ Die Worte des Paulus sprechen mir aus dem Herzen am heutigen Tag. Wir sind als Menschen unterschiedlicher konfessioneller Traditionen zusammengekommen, um im Reforma-tionsjubiläums- und gedenkjahr miteinander Gottesdienst zu feiern. Wir spüren die Gemeinschaft, die wir um das Kreuz herum haben. Dies ist ein Moment, in dem ich einmal mehr spüre, dass ins Ziel kommt, was wir bei dem Healing-of-Memories-Gottesdienst in Hildesheim erhofft haben. Wie viel andere werde ich den Moment nie vergessen, als aus der Sperre, die vor dem Altar lag, ein Kreuz wurde, das in alle Himmelsrichtungen zeigt. Aus den Sperren gegenüber Gott wurde ein Weg zu Gott, den gemeinsam zu gehen wir uns verpflichtet haben. Christus als der gemeinsame Weg, die Wahrheit und das Leben und das Kreuz als Symbol dafür, das dürfen wir nie mehr hinter uns lassen oder gar vergessen, wenn wir in die Jahre nach 2017 gehen.

Paulus spricht davon, dass wir selig werden. Dass das Kreuz für uns keine Torheit ist, sondern Gottes Kraft. Und wir haben viele Momente in den vergangenen Monaten erlebt, an denen sich das bewahrheitet hat. Dass das Kreuz anstößig ist und zu heftigen Diskussionen führen kann, haben einige von uns auch sehr schmerzhaft erlebt – etwa in allen Diskussionen und den damit verbundenen Missverständnissen um den Besuch des Felsendoms und der Klagemauer im Heiligen Land. Aber auch durch solche Diskussionen hindurch wirkt die Kraft des Kreuzes. Als Ort der eigenen Infragestellung, als Erinnerung an die Quelle, die uns immer wieder neu zum Glauben führt, als Ermutigung zur Demut.

Denn das Kreuz gilt ja vielen genau deswegen – wie Paulus sagt – als Torheit, weil es Symbol für etwas Ungeheures ist, etwas, das es religionsgeschichtlich eigentlich gar nicht geben kann: die Selbstdemütigung Gottes. Gott macht sich klein, damit der Mensch groß werden kann. Gott wird Mensch, damit der Mensch menschlich werden kann. Alle diese Formeln sprechen die gleiche Sprache: Wenn Du Gott finden willst, musst du auf das Kreuz Jesu Christi schauen.

Die Stadtkirche von Wittenberg ist mir in den letzten Monaten schon zu fast so etwas wie einer Heimat geworden. Und wenn ich sie betrete, fällt mein Blick auf ein Bild, das mich in immer wieder von neuem packender Weise ans Kreuz erinnert. Das Bild ist am Fuß des Cranach-Altars zu sehen: der Prediger Martin Luther zeigt mit großer Geste auf ein Kruzifix, das in der Mitte des Bildes thront, und die Gemeinde steht auf der anderen Seite des Bildes und hört den Prediger das „Wort vom Kreuz“ verkünden. Eine eindrucksvolle Interpretation dieses Bildes habe ich in der lutherischen Gemeinde in Rom gesehen: Dort wurde auf einem großen Plakat an der Kirche dieses Cranach-Bild zitiert, nun aber mit einer Gemeinde aus heutigen Menschen, jung und alt, reich und arm, weiß und schwarz.

Aber gleich, wer die Predigt vom Kreuz hört, und gleich auch, ob es dem einen eine Torheit oder dem anderen ein Ärgernis ist, wie es im Römerbrief heißt, die theologia crucis gehört zu den tiefsten und geheimnisvollsten Themen reformatorischer Theologie.

Wir haben es heute nicht so ganz einfach, das Kreuz noch als geistliches Skandalon zu erleben, weil wir das Kreuz so sehr verinnerlicht haben als Symbol und Signum aller christlichen Kirchen. Als Skandalon betrachten es heutzutage eher die anderen, die säkularen Gerichte und verunsicherten Universitäten, die plötzlich das Kreuz als Provokation für Andersglaubende meinen entlarven zu müssen. Politische und gesellschaftliche Gruppen, die hinter der Sichtbarkeit der Kreuzes im öffentlichen Raum heute noch immer das Bündnis von Thron und Altar vermuten. Oder auch Lebensmittel-diskounter, die das Kreuz aus ihren Verpackungen wegretuschieren, um bei muslimischen oder atheistischen Kunden keinen Anstoß zu erregen.

Das alles erinnert uns heute daran, wie provokant und unfassbar diese Predigt vom Kreuz immer schon war: An dem Gekreuzigten soll man Gott erkennen können? An diesem elendig Krepierten soll man Gottes Güte erfassen? Das ist absurd für die damalige und auch für die heutige Götterwelt.

Denn der Kreuzestod ist ein elender Tod, öffentlich, den Spöttern frei gegeben, den Zuschauern zur Belustigung. Der Todeskampf zog sich in der Regel über Stunden hin, ein stabiler Körper hatte Tage zu kämpfen. Die Nägel wurden nicht in die Handflächen gehauen, sondern hinter dem Handrücken zwischen Elle und Speiche. Und als Barmherzigkeit galt, wenn der Delinquent keine Fußstütze bekam, der Tod durch Kreislaufzusammenbruch kam schneller. Das Kreuz war Folter und Tötung in einem, das Entsetzen über die von Persern erfundene Strafform ging durch den ganzen Weltkreis. Und dann kam da so eine kleine jüdische Gruppe und behauptete, gerade dieser Tod sei das Heil der Welt! Gerade hier sei Gott erschienen und habe allen Menschen den Weg ins Paradies geöffnet. Man muss sich diese Absurdität immer wieder vor Augen führen, damit man das Staunen nicht verlernt über die Kernbotschaft des Glaubens: Gott ist da zu finden, wo wir Menschen ihn mit unserm Streben nach Vollkommenheit, Schönheit und Erfolg am wenigsten vermuten würden. Martin Luther hat es in den Heidelberger Thesen von 1518 auf den Punkt gebracht: „Der natürliche Mensch kann von sich aus nicht wollen, dass Gott Gott ist.“ Er kann von sich aus nur den Kopf schütteln über diesen kläglichen Gott, der unter seinem Gegenteil im Abgrund des Todes verloren zu gehen scheint.

Aber, liebe Gemeinde, gerade diese Tiefe des Gotterkennens, dieses Geheimnis der Erlösung mitten im Leid, hat dem Christentum eine Kraft, eine Dynamik, eine Faszination mitgegeben hat, die es 2000 Jahre hat weiterleben lassen bis heute, bis zu uns. Für mich ist das der Grund dafür, dass ich Christ bin. Es fasziniert mich einfach, dass Gott uns im Kreuz so nahekommt. Dass er von unseren Abgründen weiß. Dass er seine Allmacht durch die Ohnmacht hindurchgeht.

Natürlich ist dieses Kreuz auch immer wieder verdreht, verkauft, verraten und vergessen worden, auch schon von den Reformatoren selbst: Denn wohl schreibt schon der Apostel Paulus vom Sieg des Kreuzes (2 Kor 2, 14), aber es ist von Haus aus gerade kein Siegerkreuz, kein Eroberungskreuz, keine Heeresstandarte. Im Namen des Kreuzes ist leider auch viel Unheil in die Welt getragen worden, weil sich Menschen dieses Kreuz zu Nutze machten und es zum Siegeszeichen über innerweltliche Gegner oder vermeintliche Heiden machten. Das Kreuzerhöhungsfest ist darum im Spätmittelalter auch als Jubelfest über diese oder jene Feinde gedeutet worden – eine Interpretation, gegen die sich nicht allein Martin Luther energisch wandte. Aber hier gilt der alte Rechtgrundsatz: „abusus non tollit usus“, der Missbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf.

Deswegen haben wir Sie alle, liebe Geschwister im Glauben, und mit Ihnen alle christlichen Kirchen und Konfessionen der ACK, eingeladen zu diesem Gottesdienst im Jubiläumsjahr anlässlich des Tages der Kreuzerhöhung: Weil wir in diesem Verständnis des Kreuzes unsere gemeinsame Quelle, unsere tiefsten Halt haben, im gedemütigen, gekreuzigten und gestorbenen Jesus aus Nazareth, von Gott am dritten Tage auferweckt von den Toten. Nur dieses Kreuz wird erhöht, nur dieses Kreuz wird ins Licht gerückt, wird auf Basilikumblättern (Königsblättern) hineingetragen in die Kirche. Der erniedrigte König am Kreuz wird erhöht, nachdem sich der hohe König erniedrigt hat: „Denn er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an…“ (Phil 2, 6), so heißt es im zentralen Predigttext dieses Kreuzerhöhungsfestes.

Indem Gott Mensch wird in einem, der als Folteropfer am Kreuz stirbt, hat er sich endgültig an die Seite der Menschen begeben. Ist Ihr Bruder geworden. Hat seiner Liebe Taten folgen lassen. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16). Gott hat die Welt geliebt. Die ganze Welt. Da steht das griechische Wort „ton kosmon“!

Das Kreuz ist der große Ruf an alle Menschen, diese Liebe zu entdecken, sie in sich hineinzulassen, sie selbst auszustrahlen. Das Kreuz gibt es nicht ohne die Liebe. Deswegen missbrauchen diejenigen das Kreuz, die darin nur das Gericht sehen. Denen nichts anderes wichtiger ist als sicherzustellen, dass es auf jeden Fall welche gibt, die der ewigen Verdammnis anheimfallen werden. Dass es andere sind und niht sie selbst, setzen sie ohnehin voraus. Das Kreuz gibt es nicht ohne die Liebe. Ohne die Liebe des Gottes, der nichts sehnlicher möchte, als die Menschen zu retten und aus der Dunkelheit ins Licht zu führen. Und der sich deswegen selbst entäußert hat und den Tod am Kreuz gestorben ist. Damit wir Menschen aufhören, einander zu hassen, zu verurteilen, ja zu foltern und zu töten. Damit wir uns in diese Liebe hineinziehen lassen, die auf Gewalt verzichtet und Allmacht durch die Ohnmacht hindurch gewinnt. Deren Heerscharen nicht Bombenwerfer und Raketen sind, sondern Engel, die singen.

Der sich selbst entäußert hat und am Kreuz gestorben ist, ist auferstanden. Ist zu der großen Quelle der Hoffnung für uns alle geworden, die wir manchmal am Kreuz heute zu verzweifeln drohen. Die wir uns das Leiden der Menschen heute nahegehen lassen oder es selbst erfahren.

Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verantwort-lichkeit, Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, Sanftmut sind keine Auslaufmodelle, sie sind Zukunftsmodelle. Denn der, der seliggepriesen hat alle, die so leben wollen, ist auferstanden, ist zur Zukunft der ganzen Welt geworden, ist selbst zum neuen Himmel und zur neuen Erde geworden.

Daraus, liebe Geschwister, leben wir alle, gleich welcher Konfession wir angehören. Und wir haben es in diesem das Reformationsjahr – das sich ja so langsam dem Ende zuneigt – an vielen Stellen bekannt und zum Ausdruck gebracht und werden s weiter tun.

Mit dem Einsammeln der Früchte sind wir noch lange nicht fertig. Aber – das können wir schon jetzt sagen: dieses Jahr hat uns ökumenisch weitergebracht. Die Tiefe der religiösen Erneuerungsbewegung, die Martin Luther vor 500 Jahren angestoßen hat, trennt uns nicht mehr, sie verbindet uns. Die Strahlkraft des Christusbekenntnisses und des Evangeliums, die wir neu aufgenommen haben, hat uns allen gutgetan. Mit der Erinnerung an den Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat und für den das Kreuz steht, können wir Christen dieser beunruhigten und verunsicherten Welt Trost und Orientierung geben.  Lasst es uns nie wieder getrennt tun. Lasst es uns immer mehr gemeinsam tun. Lasst uns nie vergessen, dass die Barriere zum Kreuz geworden ist und uns allen den Weg zum Leben eröffnet.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.