Predigt im Berliner Dom am Sonntag Oculi (Jeremia 20, 7-13)
Wolfgang Huber
Es gilt das gesprochene Wort.
Als Predigttext hören wir die Klage des Jeremia darüber, was sein prophetisches Amt ihm abverlangt:
Da beschreibt einer eine Gotteswende. Gott tritt so in sein Leben ein, dass er es merken muss. Gott macht sich in seinem Leben bemerkbar. Er muss es zur Kenntnis nehmen, ob er will oder nicht.
Dem Jeremia widerfährt das, dem Spross aus einer Priesterfamilie, die in Anatot, einem Dorf nahe bei Jerusalem, zu Hause ist. Als junger Mann wird er zum Propheten berufen. Wir wissen von dem Ereignis mehr als bei jedem anderen Propheten des Alten Testaments. Sogar datieren können wir es. Im Jahr 627/626 vor Christi Geburt findet es statt. Gottes Auftrag an ihn lautet: "Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche; du sollst ausreißen und einreißen, zerstören und verderben, bauen und pflanzen." Was für ein Auftrag! Verwundert es da, dass Jeremia abwehrt? Auf seine Jugend verweist er, um diesem Auftrag zu entkommen: "Ich bin zu jung!" Gott aber berührt seine Lippen und verspricht, ihm seine eigenen Worte in den Mund zu legen.
Das ist die Gotteswende, die Jeremia erlebt. Ihr kann er sich nicht entziehen. Über dieser Gotteswende wird er zum Propheten. Das ist eine unbequeme Konsequenz. Mit Händen und Füßen sträubt er sich dagegen.
Was er da erlebt, empfindet Jeremia noch im Rückblick wie eine Verführung und eine Vergewaltigung zugleich. So ungeheuerlich ist, was er erlebt hat, dass er Gott mit einem Mann vergleicht, der ein Mädchen verführt, ja vergewaltigt: "Du hast mich betört, Gott, und ich habe mich betören lassen; du hast mich gepackt und überwältigt."
Der drastische Vergleich will überhaupt nicht in den Sinn; ich kann mich nicht damit abfinden, wenn eine Gottesbeziehung in der Sprache von Verführung und Vergewaltigung beschrieben wird. Am vergangenen Sonntag habe ich in Eberswalde-Finow den Trauergottesdienst für die zwölfjährige Ulrike Brandt gehalten, die von einem noch immer Unbekannten entführt, vergewaltigt und ermordet wurde. Vorgestern wurde Ulrike kirchlich bestattet. Aber unsere Empörung über das Geschehen hält an; der innere Aufruhr dagegen, was hier ein Mann einem jungen Mädchen angetan hat, ist noch längst nicht am Ende. Noch immer frage ich, wie gestört ein Mensch sein muss, der einem andern Menschen das antun kann. Vor allem aber frage ich, was geschehen muss, damit unsere Kinder ohne die Angst vor solcher Gewalt aufwachsen können. Wachsamkeit gegen die Gewalt ist ebenso nötig wie unnachsichtige Strafverfolgung. Einfühlsam müssen wir unseren Kindern helfen, dass sie auf der Hut sind; und unsere Augen müssen wir offenhalten, damit nicht plötzlich einer ein Kind auf seinem Fahrrad anfährt und es dann mitnimmt, am hellichten Tag im Schneegestöber mitten auf der Straße.
Nein, mit der Sprache des Jeremia kann ich mich nicht abfinden. Gott als Verführer und Vergewaltiger - das ist nicht die Sprache, in der ich über Gott reden will.
Aber der Gotteswende entgehe ich auf diese Weise nicht. Gegen die Sprache kann ich mich wehren, gegen die Sache nicht. Da wird einer Prophet, ob er will oder nicht. Aber wer ist schon ein Prophet?
Gibt es denn überhaupt noch Propheten? Man kann daran zweifeln. Freilich kommt heute auch niemand auf die Idee zu sagen: Ein Prophet ist jemand, der eine Gotteswende erlebt hat. Unterschwellig denken wir vielmehr alle: Ein Prophet ist einer, der die Zukunft voraussagen kann. Daraus erklärt sich der häufig zu hörende Satz: Ich bin doch kein Prophet. Wer das sagt, meint damit: Ich kann die Zukunft nicht voraussagen. Als ob das jemals die besondere Aufgabe von Propheten gewesen wäre!
Israels Propheten jedenfalls haben nicht die Zukunft vorausgesagt, sie haben die Zukunft angesagt. Sie wollten nicht über die Zukunft spekulieren, sondern die Gegenwart diagnostizieren. Sie waren nicht Weissager, sondern Ärzte, nicht Scharlatane, sondern Kritiker.
Am Beispiel des Jeremia kann man es sehen: Eisern soll er dem ganzen Volk und vor allem den Herrschenden Widerstand leisten, unerschütterlich wie eine eherne Mauer. Denn sie haben mit den fremden Göttern im Land Unzucht getrieben; nicht in der Gerechtigkeit, sondern im Tempelkult haben sie Sicherheit gesucht. Deshalb verwirft Gott das Volk und gibt Jerusalem dem Untergang preis. Bissig bringt Jeremia das zur Sprache. Das entspricht dem bissigen Charakter der Umstände, unter denen die Reichen die Armen herausbeißen; denn ihr eigener Vorteil ist ihnen wichtiger als die Gerechtigkeit.
In einprägsamen Zeichenhandlungen macht Jeremia deutlich, worum es geht. Mit einem hölzernen Joch um den Hals geht er durch die Straßen der Stadt. Natürlich muss diese Störung beseitigt werden. Einer der falschen Heilspropheten zerbricht das Joch; Jeremia besorgt sich ein neues aus Eisen und setzt seine Demonstration fort. Seine Freunde wenden sich von ihm ab und hoffen darauf, dass er aus dem Gleis kommt. Seine eigene Familie plant einen Anschlag auf ihn. Die Tempelpolizei lässt ihn einsperren. Der König verbrennt eigenhändig die Schriftrolle, auf der seine Botschaft verzeichnet ist. Glücklicherweise gibt es eine Kopie; sonst würden wir Heutigen die Botschaft des Jeremia gar nicht kennen. Am Ende wird er nach Ägypten verschleppt, wo sich seine Spur verliert. Ich muss zugeben: Wenn so jemand die Gotteswende, in der er steht, als Gewalt erlebt - ich kann es ihm doch nicht verdenken.
Aber gibt es noch Propheten? Ich höre schon diejenigen, die sagen: Es ist ja klar, warum wir keine Propheten mehr haben. Die Zustände sind nicht mehr so schrecklich. Der eigene Vorteil hält sich in Grenzen, die Armen werden nicht herausgebissen. Aber ich bin nicht so sicher. Ich sehe schon Zustände, unter denen wir Propheten brauchen. Auch wir brauchen das scharfe Licht, das uns heute zeigt, wo wir "Frieden, Frieden" rufen - und ist doch kein Friede. Die Gewalt auf unseren Straßen und in unseren Häusern ist ein Beispiel dafür - die Gewalt, die nun an einem Beispiel uns alle erreicht und aufgerüttelt hat. Was in diesem Fall so schrecklich vor unseren Augen steht, geschieht in anderer Form oft im Verborgenen. Die Gewalt auf dem Balkan ist ein anderes Beispiel. Am heutigen Tag nehmen wir sie wahr, weil Soldaten der Bundeswehr in die gewaltsamen Angriffe der albanischen UCK hineingezogen werden; aber wenn es uns nicht betrifft, schauen wir darüber hinweg. Den gewaltsamen Umgang mit der Natur muss ich als Beispiel nennen, die Folgen einer industrialisierten Tierhaltung, die wir viel zu lange hingenommen haben, bis sie uns in Gestalt der BSE-Krise zum Bewusstsein kam. Auch heute ist es nötig, aufzuschreien: "Sie sagen Friede, Friede - und ist doch kein Friede." Auch heute muss man dann in Kauf nehmen, dass Freunde sich abwenden, dass die eigene Familie sagt: "Der spinnt".
Aber wer wird sich dafür, untragbare Verhältnisse anzuprangern, noch auf Gott berufen? Geschweige denn, dass er das Verhältnis zu Gott in so intimen Farben schildert, wie Jeremia das tut! Zwar ist die Behauptung, Religion sei Privatsache, an allen Ecken zu hören. Mit der schwachen Seite dieser Behauptung wird gern Politik gemacht. Halt den Glauben aus der Öffentlichkeit heraus, er ist doch Privatsache! Diese - in Wahrheit unsinnige - Behauptung kann man oft hören. Aber von der positiven Seite der Behauptung vernimmt man nichts. Sie sagt: Der Glaube ist eine ganz private, eine ganz persönliche Sache. Er ist wie ein Liebesverhältnis. Du wirst betört; und du kannst der Gewalt dieser Betörung keinen Widerstand leisten, auch wenn du das versuchst. Du bist eingenommen von Gott; und plötzlich siehst du die ganze Welt aus dieser Perspektive. Du schaust sie mit den Augen der Liebe an. Und was der Liebe widerspricht, erlebst du so grell, dass du den Widerspruch dagegen hinausschreist, ob die Leute es höerren wollen oder nicht.
Aber vor allem suchst du mit Feuereifer nach den Beispielen für die Liebe unter den Menschen, die der Liebe Gottes entsprechen. Und die sind nicht so leicht zu finden. Deshalb machst du überdeutlich auf sie aufmerksam, auch wenn sie dich deshalb für einen Clown halten.
Jeremia bleibt nicht beim Aufschrei und bei der Klage. Noch im tiefsten Konflikt hält er daran fest, dass Gott siegen wird. Diesen Sieg kann er sich nur als Niederlage seiner Feinde vorstellen. Beim Fallen seiner Feinde empfindet er etwas, was man nur als "klammheimliche Freude" bezeichnen kann. Auch mit seinen Schwächen hält Jeremia nicht hinter dem Berg, mit seiner Hoffnung auf Rache und Vergeltung.
Auch da regt sich mein Widerspruch : Unser Verlangen nach Vergeltung hat Jesus mit ans Kreuz getragen. Unsere Rachsucht ist mit ihm gekreuzigt. Noch zu dem Verbrecher am Kreuz neben ihm sagt Jesus: "Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein." So will er uns daran hindern, einem andern "ewige Schande" zu wünschen - und sei es ein Verbrecher. Aber es gibt weiterhin Situationen, in denen uns Rachegefühle überwältigen. Dann müssen sie auch ausgesprochen werden. Nur dann können wir lernen, die irdische Strafe, die wir etwa für den Mörder von Ulrike Brandt fordern, von Gottes Strafe zu unterscheiden. Unsere Aufgabe ist die irdische Gerechtigkeit; unsere Aufgabe ist nicht das Jüngste Gericht.
Gott triumphiert, nicht das Böse. Das ist Jeremias Glaubenssatz auch noch in der tiefsten Verzweiflung. Deshalb sucht er die Menschen auf Gottes Seite hinüberzuziehen. Nicht nur das Einreißen und Zerstören ist sein Auftrag, sondern auch das Bauen und Pflanzen. In seinem Brief nach Babel, einem der großen Briefe der Weltliteratur, beschreibt er dieses Bauen und Pflanzen. Denen, die an ihrem eigenen Schicksal verzweifeln, macht er neuen Mut. Häuser sollen sie bauen und darin wohnen, Gärten anlegen und ihre Früchte genießen, Ehen schließen und Kinder aufziehen, Brücken bauen statt die Gräben des Hasses zu vertiefen. Zukunft und Hoffnung will er eröffnen. Denn Gott ist ein Gott der Hoffnung. Gott will Zukunft für die Menschen.
Das ist die Gotteswende, auch heute. Das Feuer kann auch in uns brennen, das den Glauben zu einer persönlichen Leidenschaft macht. Dann brandmarken wir nicht nur, was uns missfällt. Sondern dann halten wir Ausschau danach, wo wir bauen können: Orte, an denen Menschen sich zu Hause fühlen, Gärten, in denen wir pfleglich mit der uns anvertrauten Schöpfung umgehen. Dann halten wir Ausschau danach, wie heute Ehen gelingen und Kinder im Frieden aufwachsen können. Dann bauen wir auch heute Brücken zwischen denen, die sich fremd sind, statt die Gräben des Hasses zu vertiefen. Denn Gott ist ein Gott der Hoffnung. Auch heute will er Zukunft für die Menschen, Zukunft auch für uns.
Amen.
Als Predigttext hören wir die Klage des Jeremia darüber, was sein prophetisches Amt ihm abverlangt:
"Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; "Frevel und Gewalt!" muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich.
Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: "Schrecken ist um und um!" "Verklagt ihn!" "Wir wollen ihn verklagen!" Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: "Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen."
Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.
Und nun, Herr Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz durchschaust: lass mich deine Vergeltung an ihnen sehen; denn ich habe dir meine Sache befohlen. Singet dem Herrn, rühmet den Herrn, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet."
(Jeremia 20, 7-13)
I.
Da beschreibt einer eine Gotteswende. Gott tritt so in sein Leben ein, dass er es merken muss. Gott macht sich in seinem Leben bemerkbar. Er muss es zur Kenntnis nehmen, ob er will oder nicht.
Dem Jeremia widerfährt das, dem Spross aus einer Priesterfamilie, die in Anatot, einem Dorf nahe bei Jerusalem, zu Hause ist. Als junger Mann wird er zum Propheten berufen. Wir wissen von dem Ereignis mehr als bei jedem anderen Propheten des Alten Testaments. Sogar datieren können wir es. Im Jahr 627/626 vor Christi Geburt findet es statt. Gottes Auftrag an ihn lautet: "Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche; du sollst ausreißen und einreißen, zerstören und verderben, bauen und pflanzen." Was für ein Auftrag! Verwundert es da, dass Jeremia abwehrt? Auf seine Jugend verweist er, um diesem Auftrag zu entkommen: "Ich bin zu jung!" Gott aber berührt seine Lippen und verspricht, ihm seine eigenen Worte in den Mund zu legen.
Das ist die Gotteswende, die Jeremia erlebt. Ihr kann er sich nicht entziehen. Über dieser Gotteswende wird er zum Propheten. Das ist eine unbequeme Konsequenz. Mit Händen und Füßen sträubt er sich dagegen.
II.
Was er da erlebt, empfindet Jeremia noch im Rückblick wie eine Verführung und eine Vergewaltigung zugleich. So ungeheuerlich ist, was er erlebt hat, dass er Gott mit einem Mann vergleicht, der ein Mädchen verführt, ja vergewaltigt: "Du hast mich betört, Gott, und ich habe mich betören lassen; du hast mich gepackt und überwältigt."
Der drastische Vergleich will überhaupt nicht in den Sinn; ich kann mich nicht damit abfinden, wenn eine Gottesbeziehung in der Sprache von Verführung und Vergewaltigung beschrieben wird. Am vergangenen Sonntag habe ich in Eberswalde-Finow den Trauergottesdienst für die zwölfjährige Ulrike Brandt gehalten, die von einem noch immer Unbekannten entführt, vergewaltigt und ermordet wurde. Vorgestern wurde Ulrike kirchlich bestattet. Aber unsere Empörung über das Geschehen hält an; der innere Aufruhr dagegen, was hier ein Mann einem jungen Mädchen angetan hat, ist noch längst nicht am Ende. Noch immer frage ich, wie gestört ein Mensch sein muss, der einem andern Menschen das antun kann. Vor allem aber frage ich, was geschehen muss, damit unsere Kinder ohne die Angst vor solcher Gewalt aufwachsen können. Wachsamkeit gegen die Gewalt ist ebenso nötig wie unnachsichtige Strafverfolgung. Einfühlsam müssen wir unseren Kindern helfen, dass sie auf der Hut sind; und unsere Augen müssen wir offenhalten, damit nicht plötzlich einer ein Kind auf seinem Fahrrad anfährt und es dann mitnimmt, am hellichten Tag im Schneegestöber mitten auf der Straße.
Nein, mit der Sprache des Jeremia kann ich mich nicht abfinden. Gott als Verführer und Vergewaltiger - das ist nicht die Sprache, in der ich über Gott reden will.
III.
Aber der Gotteswende entgehe ich auf diese Weise nicht. Gegen die Sprache kann ich mich wehren, gegen die Sache nicht. Da wird einer Prophet, ob er will oder nicht. Aber wer ist schon ein Prophet?
Gibt es denn überhaupt noch Propheten? Man kann daran zweifeln. Freilich kommt heute auch niemand auf die Idee zu sagen: Ein Prophet ist jemand, der eine Gotteswende erlebt hat. Unterschwellig denken wir vielmehr alle: Ein Prophet ist einer, der die Zukunft voraussagen kann. Daraus erklärt sich der häufig zu hörende Satz: Ich bin doch kein Prophet. Wer das sagt, meint damit: Ich kann die Zukunft nicht voraussagen. Als ob das jemals die besondere Aufgabe von Propheten gewesen wäre!
Israels Propheten jedenfalls haben nicht die Zukunft vorausgesagt, sie haben die Zukunft angesagt. Sie wollten nicht über die Zukunft spekulieren, sondern die Gegenwart diagnostizieren. Sie waren nicht Weissager, sondern Ärzte, nicht Scharlatane, sondern Kritiker.
Am Beispiel des Jeremia kann man es sehen: Eisern soll er dem ganzen Volk und vor allem den Herrschenden Widerstand leisten, unerschütterlich wie eine eherne Mauer. Denn sie haben mit den fremden Göttern im Land Unzucht getrieben; nicht in der Gerechtigkeit, sondern im Tempelkult haben sie Sicherheit gesucht. Deshalb verwirft Gott das Volk und gibt Jerusalem dem Untergang preis. Bissig bringt Jeremia das zur Sprache. Das entspricht dem bissigen Charakter der Umstände, unter denen die Reichen die Armen herausbeißen; denn ihr eigener Vorteil ist ihnen wichtiger als die Gerechtigkeit.
In einprägsamen Zeichenhandlungen macht Jeremia deutlich, worum es geht. Mit einem hölzernen Joch um den Hals geht er durch die Straßen der Stadt. Natürlich muss diese Störung beseitigt werden. Einer der falschen Heilspropheten zerbricht das Joch; Jeremia besorgt sich ein neues aus Eisen und setzt seine Demonstration fort. Seine Freunde wenden sich von ihm ab und hoffen darauf, dass er aus dem Gleis kommt. Seine eigene Familie plant einen Anschlag auf ihn. Die Tempelpolizei lässt ihn einsperren. Der König verbrennt eigenhändig die Schriftrolle, auf der seine Botschaft verzeichnet ist. Glücklicherweise gibt es eine Kopie; sonst würden wir Heutigen die Botschaft des Jeremia gar nicht kennen. Am Ende wird er nach Ägypten verschleppt, wo sich seine Spur verliert. Ich muss zugeben: Wenn so jemand die Gotteswende, in der er steht, als Gewalt erlebt - ich kann es ihm doch nicht verdenken.
IV.
Aber gibt es noch Propheten? Ich höre schon diejenigen, die sagen: Es ist ja klar, warum wir keine Propheten mehr haben. Die Zustände sind nicht mehr so schrecklich. Der eigene Vorteil hält sich in Grenzen, die Armen werden nicht herausgebissen. Aber ich bin nicht so sicher. Ich sehe schon Zustände, unter denen wir Propheten brauchen. Auch wir brauchen das scharfe Licht, das uns heute zeigt, wo wir "Frieden, Frieden" rufen - und ist doch kein Friede. Die Gewalt auf unseren Straßen und in unseren Häusern ist ein Beispiel dafür - die Gewalt, die nun an einem Beispiel uns alle erreicht und aufgerüttelt hat. Was in diesem Fall so schrecklich vor unseren Augen steht, geschieht in anderer Form oft im Verborgenen. Die Gewalt auf dem Balkan ist ein anderes Beispiel. Am heutigen Tag nehmen wir sie wahr, weil Soldaten der Bundeswehr in die gewaltsamen Angriffe der albanischen UCK hineingezogen werden; aber wenn es uns nicht betrifft, schauen wir darüber hinweg. Den gewaltsamen Umgang mit der Natur muss ich als Beispiel nennen, die Folgen einer industrialisierten Tierhaltung, die wir viel zu lange hingenommen haben, bis sie uns in Gestalt der BSE-Krise zum Bewusstsein kam. Auch heute ist es nötig, aufzuschreien: "Sie sagen Friede, Friede - und ist doch kein Friede." Auch heute muss man dann in Kauf nehmen, dass Freunde sich abwenden, dass die eigene Familie sagt: "Der spinnt".
Aber wer wird sich dafür, untragbare Verhältnisse anzuprangern, noch auf Gott berufen? Geschweige denn, dass er das Verhältnis zu Gott in so intimen Farben schildert, wie Jeremia das tut! Zwar ist die Behauptung, Religion sei Privatsache, an allen Ecken zu hören. Mit der schwachen Seite dieser Behauptung wird gern Politik gemacht. Halt den Glauben aus der Öffentlichkeit heraus, er ist doch Privatsache! Diese - in Wahrheit unsinnige - Behauptung kann man oft hören. Aber von der positiven Seite der Behauptung vernimmt man nichts. Sie sagt: Der Glaube ist eine ganz private, eine ganz persönliche Sache. Er ist wie ein Liebesverhältnis. Du wirst betört; und du kannst der Gewalt dieser Betörung keinen Widerstand leisten, auch wenn du das versuchst. Du bist eingenommen von Gott; und plötzlich siehst du die ganze Welt aus dieser Perspektive. Du schaust sie mit den Augen der Liebe an. Und was der Liebe widerspricht, erlebst du so grell, dass du den Widerspruch dagegen hinausschreist, ob die Leute es höerren wollen oder nicht.
Aber vor allem suchst du mit Feuereifer nach den Beispielen für die Liebe unter den Menschen, die der Liebe Gottes entsprechen. Und die sind nicht so leicht zu finden. Deshalb machst du überdeutlich auf sie aufmerksam, auch wenn sie dich deshalb für einen Clown halten.
V.
Jeremia bleibt nicht beim Aufschrei und bei der Klage. Noch im tiefsten Konflikt hält er daran fest, dass Gott siegen wird. Diesen Sieg kann er sich nur als Niederlage seiner Feinde vorstellen. Beim Fallen seiner Feinde empfindet er etwas, was man nur als "klammheimliche Freude" bezeichnen kann. Auch mit seinen Schwächen hält Jeremia nicht hinter dem Berg, mit seiner Hoffnung auf Rache und Vergeltung.
Auch da regt sich mein Widerspruch : Unser Verlangen nach Vergeltung hat Jesus mit ans Kreuz getragen. Unsere Rachsucht ist mit ihm gekreuzigt. Noch zu dem Verbrecher am Kreuz neben ihm sagt Jesus: "Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein." So will er uns daran hindern, einem andern "ewige Schande" zu wünschen - und sei es ein Verbrecher. Aber es gibt weiterhin Situationen, in denen uns Rachegefühle überwältigen. Dann müssen sie auch ausgesprochen werden. Nur dann können wir lernen, die irdische Strafe, die wir etwa für den Mörder von Ulrike Brandt fordern, von Gottes Strafe zu unterscheiden. Unsere Aufgabe ist die irdische Gerechtigkeit; unsere Aufgabe ist nicht das Jüngste Gericht.
Gott triumphiert, nicht das Böse. Das ist Jeremias Glaubenssatz auch noch in der tiefsten Verzweiflung. Deshalb sucht er die Menschen auf Gottes Seite hinüberzuziehen. Nicht nur das Einreißen und Zerstören ist sein Auftrag, sondern auch das Bauen und Pflanzen. In seinem Brief nach Babel, einem der großen Briefe der Weltliteratur, beschreibt er dieses Bauen und Pflanzen. Denen, die an ihrem eigenen Schicksal verzweifeln, macht er neuen Mut. Häuser sollen sie bauen und darin wohnen, Gärten anlegen und ihre Früchte genießen, Ehen schließen und Kinder aufziehen, Brücken bauen statt die Gräben des Hasses zu vertiefen. Zukunft und Hoffnung will er eröffnen. Denn Gott ist ein Gott der Hoffnung. Gott will Zukunft für die Menschen.
Das ist die Gotteswende, auch heute. Das Feuer kann auch in uns brennen, das den Glauben zu einer persönlichen Leidenschaft macht. Dann brandmarken wir nicht nur, was uns missfällt. Sondern dann halten wir Ausschau danach, wo wir bauen können: Orte, an denen Menschen sich zu Hause fühlen, Gärten, in denen wir pfleglich mit der uns anvertrauten Schöpfung umgehen. Dann halten wir Ausschau danach, wie heute Ehen gelingen und Kinder im Frieden aufwachsen können. Dann bauen wir auch heute Brücken zwischen denen, die sich fremd sind, statt die Gräben des Hasses zu vertiefen. Denn Gott ist ein Gott der Hoffnung. Auch heute will er Zukunft für die Menschen, Zukunft auch für uns.
Amen.