Predigt in der Nikolaikirche Leipzig zum 9. Oktober 2017

Margot Käßmann, Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017

Liebe Gemeinde,

was für Zustände: Eine reiche Oberschicht wird immer reicher, die politisch Mächtigen ignorieren die sozialen Missstände, kleine Handwerker haben kaum eine Chance. Bei Großbauprojekten wird Geld verschwendet. Das Steuersystem ist ungerecht. Das muss ins Unheil führen!

Nein, ich spreche gar nicht von unserer Zeit heute, sondern von der Zeit, in der ein Prophet namens Micha in Israel lebte, das war vor rund 2700 Jahren. Unfassbar, oder, dass die Welt immer wieder dieselben Probleme entstehen lässt? Micha hatte sein Volk gewarnt, das Land wird zerstört werden, wenn ihr so weitermacht. Er begründet das mit Gottes Zorn über all das Unrecht. Und tatsächlich sollte es so kommen.

Aber der Prophet Micha prophezeit nicht nur Unheil. Er hat auch Visionen, wie die Welt sein könnte, wie Frieden und Gerechtigkeit wachsen können. Dabei vertraut er auf Gott. So heißt es im Predigttext für unseren heutigen Gottesdienst:

Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. (Micha 4,3)

Liebe Gemeinde,

das hört sich an wie eine Hoffnungsvision, die direkt in unsere Zeit gesprochen ist, finde ich. Das wünschen wir uns doch, dass irgendjemand mächtige Nationen in fernen Ländern zurechtweist! Als allererstes fallen uns heute die USA und Nordkorea ein. Kann nicht jemand diese Nationen zurechtweisen, zumindest ihre Herrscher! Wie können sie mit Atomwaffen drohen, wenn sie doch spätestens seit Hiroshima und Nagasaki wissen, welches Unheil diese Waffen anrichten! Aber das ist Donald Trumps Logik, er hat gefragt: „Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“[1] Wie kann ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, die in der Welt gern als Hüter des Rechts angesehen werden, erklären, er wolle Nordkorea total zerstören? Und wie kann ein Diktator, dessen Volk in Unterdrückung lebt, das Geld seines Landes für Raketentests verschleudern, während die Menschen hungern?

Aber nicht nur Kriegsdrohungen sind Realität, auch der Krieg selbst. Seit sechs Jahren tobt er beispielsweise gar nicht weit von hier, in Syrien. Pfarrer Seliman aus Aleppo wird uns gleich davon berichten. Ein Krieg, der Tausende getötet und Millionen entwurzelt hat, der die ganze Sinnlosigkeit des Krieges belegt.

Der Prophet Micha aber bleibt nicht beim Beklagen der Missstände stehen, das ist mir wichtig. Er zeigt Möglichkeiten zur Veränderung, ja er malt Bilder einer Zukunft: Wir könnten anders leben! So etwas ist im besten Sinne eine Vision. Dass der Friedensnobelpreis 2017vor wenigen Tagen an die internationale Kampagne zur atomaren Abrüstung ging, zeigt, dass es auch heute Menschen mit Friedensvisionen gibt.

Als die Menschen hier in Leipzig heute vor 28 Jahren, auch an einem Montag, nach dem Friedensgebet auf die Straße gingen, hatten sie ebenfalls eine tiefe Sehnsucht nach Veränderung, nach Freiheit im Herzen. Von Westdeutschland aus haben wir das mit Begeisterung gesehen, aber auch mit Angst, denn es war nicht klar, wie dieser Abend des 9. November 1989 ausgehen würde. Im Juni desselben Jahres hatte die Welt hilflos mit angesehen, wie die Freiheitsbewegung auf dem Tian‘anmen Platz brutal niedergeschlagen wurde. Ja, das hätte damals auch hier geschehen können. Und so stehen wir heute mit Dankbarkeit vor diesem Mut zum Aufbruch, aber auch mit Dankbarkeit für die Umsicht, für die Bewahrung, die möglich wurde, weil die Waffen schwiegen und der Ruf „keine Gewalt“ aus den Kirchen auf die Straßen getragen wurde.

Einer, der für diesen Ruf mit seinem Leben einstand war Christian Führer. Lassen Sie uns in einem Moment der Stille an ihn denken. …

Liebe Gemeinde,

Mut zum Aufbruch und Ideen für eine bessere Welt brauchen wir auch heute. Niemand ist doch wohl 1989 auf die Straße gegangen mit dem Wunsch, Deutschland möge sich abgrenzen von anderen Ländern, aus der EU austreten, Grenzkontrollen wiedereinführen. Nein, offene Grenzen waren das Ziel, wir haben sie gemeinsam gefeiert im November 1989. Um offene Grenzen ging es und um offene Herzen, um eine Offenheit, die möglich macht, sich in aller Freiheit auszutauschen über unterschiedliche Meinungen und Ansichten. Ich war bei den ökumenischen Versammlungen in Magdeburg und Dresden zu Gast und habe bewundert, wie diszipliniert die Menschen inmitten der aufgeheizten Stimmung diskutiert haben. Sie haben sich nicht gegenseitig niedergebrüllt, angefeindet, gehetzt, sondern in großer Verantwortung über Wege in die Zukunft diskutiert.

Das brauchen wir auch heute.

Wie kann das aussehen?

Ich denke zum einen brauchen wir Frieden in unserem Land. Denn es herrscht eine abstoßende verbale Aufrüstung. Da werden Menschen bedroht, als Politik gibt Herr Gauland an, andere „jagen“ zu wollen, Menschen werden niedergebrüllt, weil sie anderer Meinung sind, die Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus sollen vergessen werden und Menschen anderer Herkunft werden verachtet, und in der Tat ganz real gejagt. Das ist beschämend für unser Land. Wir müssen zurück finden zu friedlichen Formen der Auseinandersetzung. Verbale Schwerter gilt es umzuschmieden. Dazu können wir alle etwas beitragen, indem wir uns gegen die Hetze stellen, sei es im Netz, sei es auf der Straße, sei es im Alltag.

Und wenn der sächsische Ministerpräsident erklärt: „Die Leute wollen, dass Deutschland Deutschland bleibt“[2], kann ich nur sagen: Genau, das will ich auch! Aber das heißt für mich: Weltoffen und tolerant soll Deutschland bleiben. Hass, Ausländerfeindlichkeit, Menschenverachtung haben keinen Platz in diesem Land! Wir brauchen eine Definition von Deutschland, die nicht mit dem Ort der Abstammung zusammenhängt, sondern damit, dass wir friedlich miteinander leben wollen. Freiheit ist immer auch die Freiheit der anderen.

Und wir brauchen die Friedensbewegung. Es geht darum, zu verlernen, Krieg zu führen. Ja, das mag naiv klingen. Aber dann bin ich gern naiv gemeinsam mit dem Propheten Micha. All die Kriege, all die Aufrüstung bringen doch ganz offensichtlich keinen Frieden. Da liefern wir von Deutschland aus Waffen an kurdische Peschmerga, weil die gegen den IS kämpfen. Aber dann erschrecken wir, weil die Kurden einen eigenen Staat wollen und diese Waffen demnächst vielleicht gegen den Nato-Partner Türkei anwenden. Das ist doch absurd! Wir liefern Panzer an Saudi-Arabien, ein Land das von Unrecht strotzt, in dem es jetzt als Errungenschaft angesehen wird, dass Frauen Auto fahren dürfen! Ein Land, das zudem Krieg führt im Jemen. Wir beklagen die Kriege dieser Welt und doch verdient unser Land an ihnen. Die Menschen, die aus diesen Kriegen zu uns fliehen, wollen viele dann aber nicht aufnehmen. Und die Atomwaffen – ja, warum gibt es sie noch, wenn ihre Anwendung doch unvorstellbar ist?

Und schließlich: Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit. Das haben wir als Kirchen im Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung gelernt. Wie können wir glauben, dass wir hier in Deutschland abgeschottet von der Welt in Frieden leben können, wenn wir doch durch unsere Handelsbeziehungen, durch die Weltpolitik mit der ganzen Welt verbunden sind? Wie können Deutsche meinen, sie könnten preiswert in anderen Ländern Urlaub machen, aber wie die Lage aussieht für die Bevölkerung in Thailand oder der Dominikanischen Republik interessiert sie nicht? Die Welt hängt zusammen, ja. Das ist so und das wird auch so bleiben. Aber das muss doch keine Angst machen!

Als Christinnen und Christen haben wir einen großen Vorteil: Unsere Gemeinschaft endet nicht an nationalen Grenzen. Wir beten für andere in Not, wir unterstützen die Friedensbemühungen in Syrien, wir spenden für die Arbeit vor Ort. Denn wir verstehen uns als Geschwister im Glauben über Grenzen hinweg. In diesem Jahr haben wir das hier in Deutschland erlebt. Aus Tansania und Äthiopien, den Philippinen und Indien, Brasilien und den USA kamen die Menschen nach Wittenberg, auf die Wartburg und auch hierher nach Leipzig, um mit uns Reformation zu feiern. Das war ein großartiges Zeichen dafür, dass die Kirchen zum Frieden beitragen, indem sie Grenzen überwinden.

Ist das alles nun schon wieder zu politisch? Ja, es ist politisch, weil schon der Prophet Micha politisch ist, wenn er zum Frieden aufruft. Und auch Jesus war dann politisch, als er sagte: „Selig sind die Frieden stiften.“ Und: „Liebet eure Feinde.“

Aber es ist nicht „zu“ politisch. Martin Luther war wichtig, dass das Leben des Christenmenschen nicht zurückgezogen im Kloster stattfindet, sondern mitten in der Welt. Da, wo wir leben und arbeiten haben wir unseren Beruf, da sollen wir Verantwortung vor Gott übernehmen. Deshalb lasst uns mutig sein und einen neuen Aufbruch wagen. Gemeinsam können wir dem gärenden Hass, der um sich greift, Visionen vom friedlichen Zusammenleben entgegensetzen. Das Ziel der friedlichen Revolution war eben nicht eine Gesellschaft, die neue Mauern baut, sondern ein Abreißen der Mauern, die Menschen voneinander trennen, die andere ausgrenzen und abgrenzen. Es geht um Offenheit und Mut statt um Abgrenzung und Angst. Lasst uns einen neuen Aufbruch wagen, indem wir aufstehen gegen Atomwaffen und Rüstungsexporte und für friedliche Formen der Konfliktbewältigung sowie für eine würdige, menschenfreundliche Kommunikation in unserem Land.

All das tun wir als Christinnen und Christen aus unserem Glauben heraus. All das können wir aber zusammen tun mit Menschen, die aus je anderer Motivation dieselben Ziele verfolgen. Und all das stellen wir unter Gottes Segen, der uns begleitet und Geistkraft verleiht. Amen.


[1] Berliner Morgenpost 30.9.2017.
[2] FAZ 3.8.16