Gottesdienst an Trinitatis: „Sühnezeichen ist kein leeres Wort“

Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Bischof Dr. Dr. h.c. Markus Dröge, 27. Mai 2018, Französische Friedrichstadt-Kirche

Es gilt das gesprochene Wort 

I.

„Ich bin schuld.“

Jeder von uns hat diesen Satz schon einmal gesagt – nicht laut vielleicht – mehr zu sich selbst. Sie wiegt schwer – diese Schuld. Zentnerschwer, sie belastet unser Miteinander, sie belastet die eigene Seele. Sie wiegt so schwer, dass man sie nicht tragen, nicht loswerden kann.

„Wir sind schuld!“

Noch komplizierter ist der Umgang mit gemeinschaftlicher Schuld. Aber egal, um welche Form der Schuld es sich handelt: Verdrängen und Leugnen hilft nicht, auch wenn es kurzfristig vielleicht danach aussieht. Dazu wiegt sie zu schwer. Sie lässt sich nicht abschütteln, nicht wegdrücken, nicht auf Dauer ignorieren. Auf Erlösung von der Last der Schuld können wir nur dann hoffen, wenn wir uns auf den Weg machen, Schuld zu bekennen, sie anzuerkennen und Opfer um Vergebung zu bitten.

„Wir Deutsche haben den Zweiten Weltkrieg begonnen und schon damit mehr als andere unmessbares Leiden der Menschheit verschuldet: Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen von Juden umgebracht. Wer von uns das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern“.

Mit diesem Schuldeingeständnis beginnt die Geschichte von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, vorgetragen von Lothar Kreyssig auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in Berlin-Weissensee – außerhalb der Tagesordnung, am Rande der Sitzung. Dieses Schuldeingeständnis war damals ein großer, ein schwerer Schritt.

„Wir sind schuld!“ – das brachte Lothar Kreyssing damals zum Ausdruck. Mutig – aber vor allem aus einer tiefen Not heraus, die er als Deutscher empfand. 13 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges war es längst noch nicht Konsens, diese Schuld anzuerkennen, sie öffentlich auszusprechen. Es brauchte den Mut Einzelner, sie zu benennen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Heute sind wir dankbar für diesen Mut und die daraus entstandene Sühnearbeit. Dankbar für die Möglichkeiten der Begegnung zwischen Deutschen und Menschen, die durch Deutschland unermessliches Leid erfahren haben.

Musik

II.

„Es ist leichter, durch Handeln das Denken zu verändern, als das Handeln durch Denken.“ [1]

Der Erfolg von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste liegt in der Aktion, in der tatkräftigen Bitte um Vergebung, in dem Schritt aufeinander zu. Ich bewundere noch heute den Mut der ersten jungen Menschen, die damals vor 60 Jahren nach Polen, in die Sowjetunion und nach Israel gegangen sind, um dort mit ihren Händen und ihren bescheidenen Mitteln etwas Gutes zu tun. Ich habe höchsten Respekt davor, dass sie sich den Menschen von Angesicht zu Angesicht gestellt haben, die durch ihre Vorfahren unvorstellbares Leid erfahren haben. Und ich bin zutiefst berührt davon, dass Menschen, die zu Opfern wurden, der Begegnung mit diesen jungen Menschen aus dem Land der Täter nicht aus dem Weg gingen. Was gesprochen wurde, was geschwiegen wurde, die Trauer, der Zorn und die Tränen – die damals in diesen Begegnungen zum Ausdruck kamen, können wir nur erahnen. Aber es sind viele hier, die diese Gefühle, diese Begegnungen nie vergessen werden. Dieser gegenseitige Schritt aufeinander zu, diese tatkräftige Bitte um Vergebung stieß auf Resonanz. Das Handeln der Freiwilligen blieb nicht ohne Antwort. Es wurde erwidert.

Sühnezeichen. An diesem Wort reiben sich Menschen bis heute. Es war stark, damals 1958 ganz bewusst dieses sperrige Wort zu wählen für diesen Dienst. Sühne, ein Wort und eine Praxis, die aus der Bußtradition des Mittelalters stammt und die im Ursprung Wiedergutmachung meint. Wohl wissend, dass Wiedergutmachung in Bezug auf die Verbrechen der Nationalsozialisten und auf die Shoa nicht möglich ist. Diese Verbrechen können nicht „gut gemacht“ werden. Und doch sagt dieses Wort Sühnezeichen, dass ich bereit bin, etwas zu tun; dass ich bereit bin, Schuld anzuerkennen, Schuld, die da ist, die zwischen uns steht und angehäuft wurde von meinen Vorfahren; dass ich bereit bin, um Vergebung zu bitten – auch stellvertretend. Ich vermag dieser Schuld nichts entgegen zu setzen, ich kann sie nicht aufwiegen, doch ich setze ein Zeichen – wie so viele Freiwillige Zeichen gesetzt haben: ein Zeichen der Reue und der Umkehr.

Deutsche Geschichte wird seitdem nicht nur von Staatsmännern und -frauen, sondern auch von Jugendlichen gemacht, die sich aussenden lassen, um mit ihren Händen und ihren Mitteln in den Ländern, denen Deutschland unermessliches Leid zugefügt hat, Dienst zu tun. Ich habe schon mehrere Aussendungsgottesdienste für die Freiwilligen miterlebt. Engagierte junge Leute, in den letzten Jahren auch solche mit Migrationshintergrund, die sich mit diesem Dienst ganz in die Geschichte und Verantwortung unseres Landes stellen. Diese jungen Erwachsenen auszusenden ist für mich jedes Mal beeindruckend und berührend. Es ist ein wichtiges Zeichen – gerade heute! Und die Erfahrung zeigt, dass die Botschaft verstanden wird. Was damals im Gründungsjahr kaum zu hoffen war, wurde seitdem immer wieder als ein großes Geschenk erlebt: Gesten der Versöhnung, des Verstehens, des Dialogs. Und so dürfen wir heute in diesem Gottesdienst auch Vertreterinnen und Vertreter der Länder begrüßen, die Freiwillige bei sich aufgenommen haben. Ich bin dankbar für dieses große Zeichen des Vertrauens.

III.

Der Erfolg von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste liegt in der Aktion, in der tatkräftigen Bitte um Vergebung. Dieser Schwerpunkt auf dem Handeln ermöglicht es Menschen unterschiedlichen Glaubens, gemeinsam aktiv zu werden,  gemeinsam die Weisungen Gottes ernst zu nehmen.  Hört aus dem 5. Buch Mose im 32. Kapitel: Richtet euer Herz auf all die Worte, die ich euch heute bezeuge, damit ihr sie euren Kindern gebietet, dass sie darauf achten, alle Worte dieses Gesetzes zu tun! Denn nicht ein leeres Wort ist es für euch, sondern es ist euer Leben!

Auch Mose legt das Gewicht auf das Tun. Darauf kommt es an: Achtet darauf, alle Worte dieses Gesetzes zu tun. Als Begründung folgt ein Satz:  „Das Gesetz ist euer Leben. Kein leeres Wort. Es ist euer Leben.“

Wir Protestanten neigen dazu, bei der Rede vom Gesetz, und noch einmal mehr bei der Rede vom Tun des Gesetzes, sofort die protestantischen Freiheit und den Vorrang des Glaubens vor dem Gesetz stark zu machen. Dazu gehört es aber auch, dass wir uns an die Verantwortung erinnern lassen, die uns diese Freiheit auferlegt. Die Weisungen Gottes, die wir zu Beginn dieses Gottesdienstes gehört haben,  sind nicht dazu da, uns zu bevormunden, sondern unser Miteinander zu gewährleisten und den Frieden zu sichern. Es sind Weisungen, die dem Erhalt und der Entfaltung des Lebens dienen. Kein leeres Wort, sondern unser Leben! Weisungen, geschaffen, um die Würde und das Leben von uns allen zu schützen.  Ein Gesetz, das uns hilft, in Freiheit Verantwortung zu übernehmen. Auf dieses Gesetz sollen wir unser Herz ausrichten. Dieses Gesetz ist es wert, auch an unsere Kinder weitergegeben zu werden. Dieses Gesetz ist es auch, das uns an die Verantwortung erinnert, die wir denen gegenüber haben, denen damals in Deutschland und von Deutschland aus so unermessliches Leid angetan wurde. Diese Verantwortung tragen wir auch ihren Kindern und Kindeskindern gegenüber.

Mit ihrer tatkräftigen Bitte um Vergebung übernimmt Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Verantwortung. Und diese Verantwortung wird kontinuierlich weitergegeben von einer Generation in die Nächste. Es ist schön, dass heute hier fast alle vertreten sind: Von den Freiwilligen der ersten Jahre bis hin zu denen, die gegenwärtig hier Friedensdienste leisten oder bald in die Länder ausgesandt werden.

IV.

Es gibt Menschen, die meinen, wir hätten uns genug mit unserer Vergangenheit auseinander gesetzt, wir hätten genug Sühne geleistet. Es müsse nun endlich Schluss damit sein. Schuld und Sühne, das sind keine attraktiven Worte. Darum haben auch manche Sorge, dieses sperrige Wort Sühnezeichen schrecke Freiwillige davon ab, sich zu engagieren. Der Markt der Anbieter für Auslandsdienste ist groß.

Ich bin beeindruckt, dass gerade junge Menschen sich dennoch oder gerade deswegen vehement für genau diese Arbeit einsetzen – und für die Beibehaltung des Begriffes Sühnezeichen, gerade weil es so ein sperriges Wort ist. Dieses Wort hält die Spannung aus zwischen der geschehenen Schuld, der tatkräftigen Bitte um Vergebung und dem daraus folgenden „Nie wieder!“, das wir gerade in den heutigen Zeiten nicht laut genug sagen können. Dass es Stimmen gibt, die das Gedenken abschütteln wollen, ja, dass sie in den letzten Jahren sogar lauter geworden sind, zeigt, wie notwendig es ist, sich weiter mit Schuld und Sühne auseinander zu setzen, aktiv zu Schuld zu stehen und um Vergebung zu bitten. ASF leistet hier mit der Bereitschaft, sich selbst und uns immer wieder in Frage zu stellen und diese Fragen offen zu halten, einen wichtigen Beitrag für unser Land.

Sühnezeichen – das ist kein leeres Wort:

Der israelische Künstler Yehuda Bacon kam im Alter von 14 Jahren nach Auschwitz. Er verlor damals seine Familie und überlebte die Hölle. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen schreibt er, wir müssten den Sinn dieses Wortes Sühnezeichen noch tiefer und weiter verwirklichen. Er fühle, dass daran noch nicht genug getan wurde.

Hier meldet sich eine Stimme zu Wort, die für die Diskussion in unserem Land einen wichtigen Hinweis gibt. Nicht wir hier in Deutschland entscheiden, wann wir uns ausreichend mit unserer Vergangenheit auseinander gesetzt haben. Das können nur die entscheiden, die zu Opfern wurden. Die Stimme des heute 88-jährigen Yehuda Bacon lenkt unseren Blick weg von uns selbst, hin auf die, um deren Vergebung wir bitten.

Um ihretwillen wurde damals vor 60 Jahren die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ins Leben gerufen. Aus der inneren Not der Begründer, die nicht weiter leben konnten und wollten mit der Schuld der Väter und Mütter und mit ihrer eigenen.

Aber auch um unseretwillen.  Damit wir trotz Schuld leben können. Sühnezeichen – das ist kein leeres Wort für uns, sondern unser Leben.

Amen.

[1] John Webb, Life/Work-Planning, mündlicher Seminarvortrag