Predigt am Ostersonntag 2019 in St. Matthäus München

Ratsvorsitzender der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

Text: Joh 20, 11-18

Maria stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.

Es gilt das gesprochene Wort!

Liebe Gemeinde,

welch wunderbare Musik, die wir gerade gehört haben! Die letzten Sätze des Alt-Rezitativs haben den Ton gesetzt für das, was wir für diesen festlichen Ostergottesdienst erhoffen, zu dem wir hier in St. Matthäus zusammengekommen sind.

„Ich glaube, aber hilf mir Schwachen, Du kannst mich stärker machen; besiege mich und meinen Zweifelmut!“

Ja, wir kommen in diesen Gottesdienst mit allem, was wir mitbringen. Und dazu gehört nicht nur die Osterfreude, sondern auch aller Zweifel, alle Schwachheit, alle Hoffnung auf Stärkung. Und es wäre wunderbar, wenn wir am Ende dieses Gottesdienstes die Worte wirklich mitsprechen könnten, mit denen der Alt eben geendet hat: „Der Gott, der Wunder tut, hat meinen Geist durch Trostes Kraft gestärket, dass er den auferstandnen Jesum merket.“

Ja, den auferstandenen Jesus wollen wir merken, an diesem Ostersonntag des Jahres 2019, wie Maria, die uns darin vor rund 2000 Jahren vorangegangen ist. So jedenfalls berichtet es der Evangelist Johannes. Mich berührt diese Geschichte immer wieder von Neuem. Denn sie hat so gar nichts von dem lehrhaften Reden von Auferstehung, bei dem wir zwar rational sagen können: „Ja, es stimmt. Christus ist auferstanden. Das ist die zentrale Glaubenswahrheit für uns als Christen.“ Aber wir spüren nichts, wenn wir das sagen. Es ist eine dogmatische Richtigkeit, aber wir spüren keine Erfahrung dahinter.

Die Geschichte, die Johannes erzählt, ist so anders. Sie ist prallvoll mit Lebenserfahrung. Da weint jemand. Da weint eine junge Frau um einen geliebten Menschen. Sie trauert um einen Menschen, zu dem sie eine tiefe Beziehung empfindet, der sie befreite von ihren innerlichen bösen Geistern (Lk 8,2), der eine Liebe ausstrahlte wie niemand anders zuvor, von dem sie sich mit Haut und Haaren angenommen fühlte. Maria weint um Jesus, ihren Freund, ihren Lehrer, ihren Begleiter, mit dem sie so viel erlebte. Sie erkennt, das alles wird so nicht mehr sein. Diese Trauer schmerzt sie, ganz körperlich. Mit jeder Faser spürt sie, wie sie diesen besonderen, ihr so vertrauten Menschen vermisst.

Und ich denke an die Menschen, denen ich in den letzten Monaten begegnet bin, mit denen zusammen sie weint. Dem Mann, dem ich in einem fränkischen Dorf am Kirchenausgang die Hand gegeben habe und der mir mit Tränen in den Augen von seiner verstorbenen Frau erzählt, mit der er fast 60 Jahre das Leben geteilt hat. Die Mutter, die ihren einzigen Sohn durch einen Unfall und ihre einzige Tochter durch eine heimtückische Krankheit verloren hat und die Wunde sich nicht schließen will. Die Schwester, die um ihren schwer depressiven Bruder bangt und sich Sorgen macht, dass er sich das Leben nimmt. Der Single, um den herum alle heiraten und der selbst allein bleibt.

Wir bringen unsere geweinten oder nicht geweinten Tränen heute Morgen mit ans Grab wie Maria.

Maria schaut in das leere Grab. Sie erschrickt, weil sie nur noch die leeren Hüllen vorfindet. Jetzt haben sie auch noch den toten Jesus weggenommen und ihn irgendwo anders hingebracht. Das ist ihr Schrecken und ihr Schmerz.

Und nun passiert etwas Erstaunliches: Maria ist so in ihre Trauer versunken, dass sie nicht erkennt, dass Jesus ganz nahe bei ihr steht.  Aber irgendetwas spürt sie, denn sie wendet sich um – so erzählt Johannes - und sieht Jesus stehen und merkt zugleich nicht, dass es Jesus ist. Sie wendet sich um, sie macht eine Bewegung zu Jesus hin – und trotzdem erkennt sie ihn nicht! Die Präsenz Jesu gibt Maria die Kraft sich umzuwenden, auch wenn ihr die Augen und das Herz noch nicht wirklich aufgehen.

Weil das Sehen allein noch nicht genügt, spricht Jesus sie an: „Frau, was weinst du? Wen suchst du?“ Doch obwohl Maria Jesu Stimme hört, begreift sie immer noch nicht, wer vor ihr steht. Sie meint, es sei der Gärtner. Erst als Jesus ihren Namen nennt, „Maria!“, versteht sie. Erst als mit ihrem Namen die persönliche Beziehung ins Zentrum rückt, öffnet sich ihr Herz und sie erkennt Jesus. Sie wendet sich ein zweites Mal um und ruft: „Rabbuni! Mein Meister!“ Was für ein innerer Weg, den Maria hier geht! Obwohl der Auferstandene die ganze Zeit in ihrer Nähe steht, braucht sie Zeit, um wirklich zu verstehen, dass er es ist, der da ist, der auferstanden ist. Maria wendet sich um, so schreibt es Johannes mehrmals. Und ich frage mich: welchen Weg müssen wir gehen, wie oft müssen wir uns umwenden, um zu verstehen, um ganz und gar zu begreifen, dass er ganz in unserer Nähe steht, dass er wahrhaft auferstanden ist?

Auferstehungserfahrungen machen wir nicht über das Nachsprechen lehrmäßiger Richtigkeiten. Auferstehungserfahrungen sind Beziehungserfahrungen mit Gott. Sie leben am Ende nicht aus ihrer historischen Beweiskraft, sondern aus dem Vertrauen in Gottes Möglichkeiten, die höher sind als alle menschliche Vernunft und die auch im Tod keine Grenze finden. Das erfährt Maria, als sie an das Grab kommt, es leer sieht und dann dem Auferstandenen begegnet

Die im Duett gesungene Arie: „Erfreut euch, Ihr Herzen“ von Johann Sebastian Bach, die wir jetzt hören werden, besingt diese Erfahrung: Sie beginnt mit der Furcht: „Ich furchte zwar des Grabes Finsternissen und klagete, mein Heil sei nun entrissen.“ Und sie endet mit Trost und Zuversicht, weil sie sich von der Beziehung zu Christus getragen weiß: „Nun ist mein Herze voller Trost, und wenn sich auch ein Feind erbost, will ich in Gott zu siegen wissen.“

ARIE

Was, liebe Gemeinde, heißt es für uns als einzelne Menschen, was heißt es für uns als Kirche, wenn wir die Bewegung, die wir eben in der Arie besungen gehört haben, selbst mitmachen – diese Bewegung von der Angst und Sorge hin zu einer auferstehungsgewissen Zuversicht? Wenn auch wir uns umwenden zu Jesus, wie Maria?

2000 Jahre später haben wir diese direkte Begegnung mit Jesus nicht mehr, die uns Johannes von Maria berichtet. Die Geschichte selbst gibt einen etwas versteckten Hinweis, der uns helfen kann, besser zu verstehen, wo wir unsere Auferstehungserfahrungen heute finden können. Jesus sagt nämlich einen auf den ersten Blick merkwürdigen und irgendwie befremdlichen Satz. In dem Moment höchster Intimität, als Maria ihn erkennt und ruft „Rabbuni!“, in diesem Moment sagt Jesus zu Maria: „Rühre mich nicht an! Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.“

So hart der Satz klingt, für uns ist er ein alles verändernder Satz. Denn er stellt Maria an unsere Seite. Er nimmt uns mit hinein in die Erfahrung, die Maria mit Jesus gemacht hat. Er stellt die Frau, die Jesus, vermutlich auch historisch, am nächsten war an die Seite von uns allen, die wir seit 2000 Jahren eine Beziehung zu Jesus gefunden haben und finden, ohne ihn anfassen zu können, ohne ihm als historischem Menschen zu begegnen, ohne ihn in Fleisch und Blut vor uns zu haben.

„Rühre mich nicht an!“, dieser Satz zeigt Maria, zeigt uns, dass das Alte vergangen ist, dass sie das Gewesene nicht festhalten kann. Neues geschieht. Der Satz markiert den Übergang von dem Jesus von Nazareth, der als Wanderprediger in Galiläa umhergezogen ist und eine Jüngerschar um sich gesammelt hat, die ihm nachfolgte, und dem Christus, dem wir heute nachfolgen. Jesus sagt zu Maria: „Rühre mich nicht an!“ Ab jetzt wirst du mich nicht mehr in Fleisch und Blut bei mir haben, sondern der Heilige Geist wird dich meine Gegenwart im Herzen spüren lassen. Und zu uns sagt er: „Ihr habt mich nie in Fleisch und Blut gesehen. Aber seid gewiss, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Und ich höre Jesus weiterreden. Ich höre ihn am heutigen Ostersonntag zu uns hier in der Münchner Matthäuskirche sprechen:

„Ihr fragt, wie ihr mich in eurem Leben heute erfahren und spüren könnt? Schaut auf Maria. Wendet euch wie sie um zu mir, immer und immer wieder. Lest die Worte der Menschen, denen ich begegnet bin. Denn in den Zeugnissen dieser Menschen – Maria, Johannes Petrus und den vielen anderen - begegne ich auch euch.  All diese Zeugnisse reden von der Liebe, in der ihr meine Kraft erfahrt! Ich habe von nichts so leidenschaftlich gesprochen wie von der Liebe, die allen Menschen gilt, auch den Feinden. Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. In der Liebe habe ich selbst die Einheit mit Gott als meinem Vater erfahren, in der Liebe bin ich die Einheit mit Gott als meinem Vater. Und ihr alle seid eins mit mir, wenn ihr in der Liebe bleibt. Und wenn ihr an mich glaubt, dann kann euch nichts mehr trennen von der Liebe Gottes, weder Tod noch Leben noch irgendetwas anderes. Ihr dürft jetzt aus Glaube, Hoffnung und Liebe leben, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

So, höre ich Jesus über die Liebe reden und uns das in Erinnerung rufen, was die biblischen Zeugnisse über ihn sagen. Und nehme für mich an diesen Ostersonntag eine klare Wegweisung daraus mit:

Lasst uns unsere Herzen und Sinne öffnen für den auferstandenen Herrn und sehen, wo wir Liebe empfangen und er uns darin begegnet. In dem Menschen, der uns Trost gibt, wenn wir traurig sind, in der Umarmung, die wir genau in dem Moment bekommen, in dem wir sie brauchen können. In der Erfahrung, dass wir in der Dunkelheit plötzlich Licht sehen. Und in dem tiefen Gefühl, dass er da ist, wenn auch nur zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind. Christus ist da, wo wir Liebe empfangen. Und er ist da, wo wir Liebe weitergeben, indem wir einen Kranken besuchen, indem wir Solidarität mit den Schwachen üben, indem wir einem Fremden freundlich begegnen, indem wir versuchen Frieden zu stiften und unseren Nächsten zu lieben.  

„Ich bin da, wo ihr Liebe empfangt und weitergebt. Überall da bin ich gegenwärtig. Ich habe mein Versprechen gehalten, dass ich bei euch bin alle Tage bis an der Welt Ende!“

Das, liebe Gemeinde, höre ich Jesus zu jedem und jeder Einzelnen von uns sagen. Und ich höre ihn an diesem Ostersonntag mit eindringlichen Worten auch zu uns als Kirche sprechen und sagen:

„Was ist los mit euch? Warum seid Ihr so verzagt? Habt ihr es nicht gehört? Ich bin bei euch alle Tage! Merkt Ihr nicht, wie gesegnet Ihr seid? Warum starrt Ihr so viel auf Zahlen, auf Haushaltszahlen und auf Mitgliederzahlen, auf das Grab dessen, was alles nicht geht und was alles nicht mehr ist, anstatt den Horizont zu sehen, den Gott für Euch öffnet!? Anstatt einfach aus der Kraft, aus der Liebe, aus der Hoffnung zu leben? Feiert das Leben, das Gott Euch geschenkt hat! Feiert den Sieg des Lebens, in das ich aus dem Dunkel des Todes kommend, euch vorausgegangen bin!“

Ja, liebe Gemeinde, was können wir, wenn Jesus so zu uns spricht, anderes sagen als: Danke, Jesus, dass du da bist! Danke, dass wir uns immer wieder von Neuem zu Dir hinwenden dürfen wie Maria! Danke, dass du uns neues Leben, neue Kraft, neue Hoffnung schenkst!

So antworten wir Jesus und rufen dann voller Freude: Der Herr ist auferstanden!!! Er ist wahrhaftig auferstanden!

AMEN!