Predigt von Heinrich Bedford-Strohm zur Jahreslosung 2021

Berliner Dom am 1.1.2021

Liebe Gemeinde im Berliner Dom und im Livestream zu Hause,

wahrscheinlich hat es in den letzten Jahrzehnten selten einen Jahreswechsel gegeben, an dem wir mit so starken Gefühlen ins neue Jahr gegangen sind, vielleicht auch so sehr innerlich mit widersprüchlichen Gefühlen gerungen haben, wie das jetzt, am Beginn des Jahres 2021 der Fall ist. Vor knapp einem Jahr ging es los mit den ersten Meldungen aus China über dieses neue Virus, das das öffentliche Leben einer ganzen Stadt lahmlegte. Weit weg war das damals und kaum jemand hierzulande konnte sich da noch vorstellen, was für ein Jahr das für uns alle werden würde.

Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr und gerade in Deutschland durch die konsequenten Maßnahmen relativ in Grenzen gehaltenen atmeten wir dann erstmal auf. Wenn ich in München abends mit dem Fahrrad durch den Englischen Garten nach Hause gefahren bin, sah ich viele, viele Menschen auf der großen Wiese zusammensitzen und feiern. Es war ein großes Aufatmen und eine Rückkehr der Lebensgeister. Die Warnungen vor der zweiten Welle klangen düster, und es gab auch gute Gründe dafür. Trotzdem haben die meisten von uns gehofft, dass es nicht so schlimm kommen würde. Und manche haben die Möglichkeit einfach verdrängt und wurden leichtsinnig.

Irgendwann warnte die Kanzlerin, dass wir bei solchem Leichtsinn an Weihnachten Infektionszahlen von 20 000 täglich bekommen könnten. Inzwischen wissen wir alle, dass es noch schlimmer gekommen ist. Und machen uns Sorgen, ob die Krankenhäuser die Intensivpatienten noch werden angemessen versorgen können. Viel zu viele Menschen sind schon jetzt gestorben.

Und zugleich gibt es Licht am Horizont. Weihnachten mit seiner Botschaft der Kraft, der Liebe und der Hoffnung, so habe ich es erlebt, hat neue Zuversicht gegeben. Und das Impfen hat begonnen. So dass wir jetzt begründete Hoffnung haben dürfen, dass am nächsten Weihnachtsfest dieser Dom wieder gefüllt sein wird, dass wir wieder singen können, ohne andere zu gefährden, und hoffentlich auch keine Masken mehr nötig sind.

Aber wir werden nicht mehr die gleichen sein wie vorher. Die Erfahrung der Pandemie hat niemanden kalt gelassen. Sie hat uns nachdenklich gemacht. Sie hat uns auch polarisiert. Aber gleichzeitig hat sie uns auch zusammenrücken lassen. Es ist offen, was wir daraus machen.

Mir ist an diesem Neujahrsmorgen in Pandemiezeiten, mitten im Lockdown, nicht wie sonst an Neujahr nach vielen guten Vorsätzen zumute. Dazu geht das, was wir in den letzten Monaten erlebt haben und was wir noch immer erleben, zu tief. Ich habe das Gefühl, dass es mit den üblichen guten Vorsätzen nicht getan ist. Wir sind zu sehr verwundet, zu sehr getroffen von der Ohnmacht gegenüber diesem kleinen Virus, das man überhaupt nur im Mikroskop sehen kann. Dieser Bruch im Lebensgefühl geht einfach zu tief. Was sonst den Einzelnen trifft, der von Krankheit und Tod bedroht ist, macht die Pandemie zu einer gesamtgesellschaftlichen Situation. Es sind alle betroffen. Es sind nicht ein paar Verhaltensänderungen, die mir in den Sinn kommen, sondern etwas viel Grundsätzlicheres. Die Pandemie hat so vieles relativiert, was wichtig zu sein schien. Jetzt geht es um viel Elementareres. Und meistens ist es nicht teuer. Oder es kostet gar nichts. Endlich mal wieder jemanden umarmen, ganz ohne Zögern. Einen unbeschwerten Ausflug machen. Besuch bekommen dürfen, ohne die Kopfzahl zu zählen.

Und: bewusst leben. Viel mehr wahrnehmen, wie kostbar so vieles ist, was ich für selbstverständlich gehalten habe. Dass nicht die Menge meiner Beziehungen das Entscheidende ist, sondern ihre Qualität. Dankbar werden. Es gibt täglich so viel Grund dafür. Das ist es, was mir an diesem Neujahrstag durch den Kopf geht.

Und deswegen horche ich auf, wenn ich die Jahreslosung für dieses Jahr 2021 höre, ein Jahr, in dessen Verlauf hoffentlich irgendwann das Leben nach der Pandemie beginnt. Ein Leben, das neu, das anders werden kann als davor.

 „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“

Barmherzigkeit! Es rührt etwas an in mir, wenn ich dieses Wort höre. Es strahlt das aus, was ich ersehne: die Liebe. Es ist wie ein Wegweiser für den Weg, den ich gehen möchte in diesem neuen Jahr.

Wenn ich das Wort „Barmherzigkeit“ höre, dann kommen mir Menschen in den Sinn, vor denen ich Hochachtung habe oder die ich bewundere. Bekannte Menschen wie in alten Zeiten der Heilige Martin oder in jüngerer Zeit Mutter Teresa. Aber vor allem kommen mir die Menschen in den Sinn, die Barmherzigkeit in diesen Zeiten täglich üben. Am Krankenbett, im Pflegeheim. Sie können nicht auf Abstand bleiben, sie spüren ihre eigene Erschöpfung vielleicht kaum noch, weil sie in der Not einfach funktionieren müssen. Viele tun das als Beruf. Aber manche tun es auch zu Hause an ihren Angehörigen.

Ich denke an die Menschen, die in den Krisengebieten der Welt oder hierzulande den Armen beistehen, an die, die sich in der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer engagieren. Meistens in ihrem Urlaub. Einzig und allein, um Menschenleben zu retten. Barmherzigkeit fragt nicht nach den Umständen. Barmherzigkeit hilft einfach.

Mir fallen viele Menschen ein, die nicht viel reden, sondern einfach handeln. Und meistens macht es keine Schlagzeilen, sondern geschieht ohne viel Aufhebens. Sie tun das nicht, weil sie den Menschen oder Gott gefallen wollen. Sondern sie lassen sich schlicht anrühren von der Not des Anderen. „Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“

Ist das nicht „gutes Leben“? Mehr Barmherzigkeit im Jahr 2021 - ist das nicht eine Perspektive, die viel mehr Licht verbreitet als eine Pandemie je an Dunkelheit schaffen kann?

 „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Warum erreicht dieser Satz unser Herz? Ich glaube, weil wir das Gegenteil gut kennen: Unbarmherzigkeit. Und wir uns alle danach sehnen, dass diese Unbarmherzigkeit endlich aufhört.

Der Ort, an dem sie in den letzten Jahren am deutlichsten sichtbar geworden ist, sind die sozialen Medien.  Über eine lange Zeit haben sich die Hasskommentare immer mehr ausgebreitet. Aussagen über andere Menschen, aus denen nur noch menschliche Kälte sprach, wurden weitgehend hingenommen oder als unvermeidlicher Teil dieser neuen digitalen Kommunikationsformen gesehen. Aber das hat sich geändert. Viele Menschen sagen jetzt: Das kann nicht so weitergehen! Unbarmherzigkeit als Grundton von Rückmeldungen, Gesprächen und persönlichem Austausch verliert an Akzeptanz. Wir haben es satt, dass sie unsere sozialen Beziehungen vergiftet.

Deswegen sind die Worte der Jahreslosung Quelle der Kraft und der Inspiration für etwas Neues. Für Heilung. Eine Heilung, die bei uns selbst beginnt: „Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“ – das ist ein Licht in der Dunkelheit. In dem, was in seinen schlimmsten Ausprägungen mit guten Gründen „Darknet“ – „dunkles Netz“ – heißt, sind diese Worte und das, was sie freisetzen, ein heller Schein.

Der Satz aus dem Lukasevangelium hat auch deswegen solche Kraft, weil er nicht einfach ein moralisches Gebot aufstellt, das wir befolgen sollen: „Seid barmherzig“. Sondern weil er uns daran erinnert, wie sehr wir selbst auf Barmherzigkeit angewiesen sind: „…wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“

Ich wage zu behaupten, dass wir alle Geschichten dazu zu erzähle hätten. Nach einem Jahr, das uns zermürbt hat. Uns verwundet hat. In dem immer wieder die Nerven blankgelegen haben. Und wir eben auch immer wieder ungerecht gegenüber anderen gewesen sind. So mancher Vater, manche Mutter hat Situationen erlebt, wo nach Wochen der Ausgangssperre zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen ist. Wo die Kinder nicht mehr beschäftigt werden konnten. Wo Homeoffice, Eltern sein, Haushalt organisieren, Leben organisieren einfach zu viel war. Wo die Gefühle gegenüber den Kindern durchgegangen sind. Worte gefallen sind, die nicht hätten fallen sollen. Können wir das wieder gut machen? Können wir uns das vergeben?

Oder da, wo wir für viele andere Verantwortung getragen haben. Für das ganze Land. Für die Kirche. Für den Betrieb. Haben wir die richtigen Entscheidungen getroffen? Wem haben wir mit unseren politischen Entscheidungen vielleicht die Existenz zerstört? Wir haben uns oft in einem Zwiespalt befunden. Haben wir dann die falsche Entscheidung getroffen? Wo haben wir nicht genau genug hingeschaut?

Kann man sich selbst vergeben? Barmherzig gegenüber sich selbst sein? Ich kann es nicht aus mir selbst heraus. Jesus Christus spricht: – „Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“. Das soll uns jeden Tag in diesem neuen Jahr begleiten und vor Augen stehen: Gott ist ein barmherziger Gott.

Wenn ich die Augen schließe und warte, welche Bilder in mir hochkommen, dann sehe ich die offenen Arme des Vaters in Jesu Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Das ganze Erbe des Vaters hat er mit seinem Leben auf großem Fuß verprasst, der Sohn. Und als er ganz am Boden ist, beschließt er, nach Hause zu gehen und dort Knechtsdienste zu leisten. Mit bangem Herzen kommt er zu Hause an, doch es erwarten ihn nicht Vorwürfe, Zurechtweisung oder Frondienst. Es erwarten ihn die offenen Arme des Vaters. Und ein Fest der Freude über seine Rückkehr.

Kann es etwas Schöneres geben, als ein solches Zuhause zu haben? Kann es ein tieferes Gefühl des Geliebtseins und des Angenommenseins in der Seele geben als die Beziehung zu Gott als einem Vater oder einer Mutter, deren Liebe stärker ist als alle Fehler, die wir machen? Kann es eine stärkere Basis für Barmherzigkeit gegenüber anderen geben als dass mir Barmherzigkeit widerfährt?

Es ist wie eine Spirale nach oben, die in Gang kommt, wenn wir Gottes Barmherzigkeit erfahren. Es ist eine Spirale nach oben – hin zu einem guten Leben. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!“ – sagt Jesus. Die Erfahrung der Barmherzigkeit weckt in uns die Sehnsucht nach einem Leben, in dem sich die Barmherzigkeit immer mehr ausbreitet. In dem wir gnädiger werden miteinander, weil wir um unsere eigene Verletzlichkeit wissen.

Wenn wir uns in diesem neuen Jahr auf den Weg machen hin zu einem solchen Leben? Wenn die Nachdenklichkeit, die die schlimme Pandemie-Erfahrung bei vielen in Gang gesetzt hat, tatsächlich zu einem Neuanfang führt? Wenn das Jahr 2021 das Jahr der Umkehr zur Barmherzigkeit wird? Wie wäre das?

Wenn wir beginnen, uns über andere zu empören - einen Moment innehalten und uns an die eigenen Unzulänglichkeiten erinnern. In politischen Debatten die Protagonisten von bestimmten Positionen, die wir leidenschaftlich ablehnen, nicht nur als Vertreter dieser Positionen sehen, sondern als Menschen, in all ihrer Not und Verletzlichkeit. Wenn Menschen Fehler einräumen, das nicht als Beweis ihrer Unfähigkeit sehen, sondern als Hinweis auf die Fähigkeit zum Lernen und als Zeichen der Größe. Nicht zuallererst darauf schauen, was jemand geleistet hat und welche Gegenleistung er oder sie dafür verdient, sondern darauf schauen, was er oder sie braucht. Uns nicht auf die Schwächen der anderen konzentrieren, sondern auf die Stärken.

Wie wäre ein solches Leben? Es wäre, liebe Gemeinde, ein gutes Leben! Es wäre ein echter Neuanfang im Jahr 1 nach der Pandemie! Gott möge uns die Kraft dazu schenken. Uns immer wieder die Erinnerung daran ins Herz geben, wie sehr wir selbst auf Barmherzigkeit angewiesen sind. Und uns spüren lassen, wie die Barmherzigkeit gegenüber anderen das größte Geschenk an uns selbst ist.

Jesus Christus spricht: Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Es wird Grund geben in diesem Jahr, uns immer wieder auf dieses kostbare Bibelwort hin auszurichten. So wird dieses Wort eine wegweisende Losung sein. Die Basis für ein gesegnetes Jahr 2021.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN