Predigt zum Weltfriedenstag

Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD, anläßlich des 80. Jahrestages des Beginns des 2. Weltkrieges - ZDF-Fernsehgottesdienst.

Es gilt das gesprochene Wort!

Liebe Gemeinde,

„Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ – dieser Satz Adolf Hitlers ist eine der berühmtesten Lügen der Weltgeschichte. Heute vor 80 Jahren hat er diesen Satz gesagt. Die deutsche Wehrmacht hatte längst vorher in der Nacht mit dem Angriff begonnen. Hitlers Rede vor dem Reichstag stellte den deutschen Angriff auf Polen als defensive Reaktion dar. Die Lüge funktionierte. Hitler schrie am Ende: „Sieg Heil!“ Und der ganze Reichstag stimmte mit ein.

Und heute, genau 80 Jahre später, feiern wir Gottesdienst in einer Kirche, die „Friedenskirche“ heißt. Wir bringen vor Gott all das Leid, all die Abgründe, die Menschen erfahren haben. All die Schuld, die Menschen auf sich geladen haben. 

Und wir bringen vor Gott all das, wofür wir so dankbar sind. Die erlebte Versöhnung, Menschen, die aus der Geschichte gelernt haben und die einander über Grenzen hinweg begegnen. Die deutsch-polnischen Schulen und Universitäten. Wir bringen vor Gott die so vielfältigen Beziehungen, die seit diesem schrecklichen Krieg gewachsen sind und stärker sein sollen als alle Misstöne, die nun wieder aufzukommen drohen.

Das Bibelwort, das uns heute begleiten soll, gibt uns Kraft dafür. Es passt zum Namen dieser Kirche. Es ist ein Wort über den Frieden aus Psalm 34,12-15:

Kommt her, ihr Kinder, höret mir zu! Ich will euch die Furcht des Herrn lehren. Wer ist's, der Leben begehrt und gerne gute Tage hätte? Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht Trug reden. Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!

Der letzte Satz „Suche den Frieden und jage ihm nach!“ begleitet uns als Jahreslosung schon das ganze Jahr. Aber er wird uns hier richtiggehend eingeschärft. „Kommt her, höret mir zu!!!“ Hier spricht jemand, der sich große Sorgen macht. Der Gefahren sieht und unbedingt davor warnen will. „Ich will euch die Furcht des Herrn lehren!“ Er spricht zu Menschen, die das offensichtlich zu vergessen drohen, die Orientierung brauchen. 

Ich höre ihn zu uns heute wieder so eindringlich reden: „Kommt her, höret mir zu!!!“

Denn die Spaltungen in Europa nehmen zu. Auch zwischen Deutschland und Polen drohen alte Ressentiments wiederaufzuleben.  Die Polen als Autodiebe: "Fahr nach Polen, dein Auto ist schon dort". Und die Retourkutsche aus Polen: "Fahr nach Deutschland, deine Möbel und Gemälde sind schon dort" – eine ja durchaus nachvollziehbare Anspielung auf all das Raubgut, das einst aus dem besetzten Polen nach Deutschland kam.

Und die Geißel des Nationalismus, die so viel Unheil über Europa gebracht hat.

In Polen Kräfte, die, ihr Land bedroht sehen auf der einen Seite von Muslimen, die als Flüchtlinge nach Europa kommen, und auf der anderen Seite von Politikern in Brüssel, die vermeintlich nationale Interessen gefährden. Oft genug berufen sich die Nationalisten in ihren Aufrufen zum Schutz der eigenen Nation auf Religion. 
Und in Deutschland Politiker, die mit Slogans wie „Deutschland zuerst. Hol dir dein Land zurück“ in Wahlkämpfen auf Stimmenfang gehen. Die uns die Erinnerung an die dunklen Stellen der deutschen Geschichte als eine Gefährdung der eigenen nationalen Identität verkaufen wollen. In Wirklichkeit ist es ja ein Zeichen der Stärke, wenn wir uns auch zu diesem Teil unserer Geschichte bekennen und zu der Verantwortung, die daraus folgt. 

„Höret mir zu!“ – sagt der Psalmbeter: „Ich will euch die Furcht des Herrn lehren“.

Was ist das, die Furcht des Herrn? Gott fürchten heißt jedenfalls nicht, sich vor Gott zu fürchten. Die Furcht des HERRN heißt schlicht, das swir uns darin üben, in der Liebe zu leben. So wie Gott es uns zugedacht hat. Deswegen sagt auch das Buch der Sprüche Salomos: „Die Furcht des Herrn ist das Böse hassen“ (Spr 8,13).

Es zu hassen, wenn Menschen gegeneinander aufgeputscht werden, so dass nur noch die eigenen Interessen zählen und der Blick für die Nöte der Anderen vernebelt wird.

Es zu hassen, wenn Stimmung gegen die Schwachen gemacht wird, wenn Hungrige nicht gespeist werden, Durstigen nicht zu Trinken gegeben wird, Kranke alleingelassen und Fremdlinge missachtet werden, wenn die soziale Gerechtigkeit aus dem Blick gerät.

Es zu hassen, wenn Unsummen für militärische Sicherung ausgegeben werden, wo sie doch so dringend für Entwicklung gebraucht würden.

Es zu hassen, wenn antisemitische oder rassistische Menschenfeindlichkeit neue Nahrung findet.

Das ist doch kein gutes Leben! – sagt der Psalmbeter und fragt: „Wer ist's, der Leben begehrt und gerne gute Tage hätte?“

Und es ist wie ein Wort für unsere Tage, wenn er dann fortfährt: „Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht Trug reden. Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!“

Liebe Gemeinde,

das ist der dringliche Aufruf, den wir am heutigen Tage mitnehmen, an diesem Tag, an dem vor 80 Jahren so viel Unheil seinen Ausgang nahm, an dem Tag, an dem wir nun die Chance haben, an schon erreichte Versöhnung anzuknüpfen und weiter an etwas Neuem zu bauen. Suche Frieden und jage ihm nach – das ist ja ein Satz voller Bewegung. Wir haben den Frieden nicht in der Tasche, wir müssen ihn suchen, immer wieder. Uns immer wieder öffnen für den Frieden, der in unserem Herzen entsteht, wenn wir die Nähe Gottes spüren. Wenn wir spüren, dass Gott für uns da ist. Wenn wir tief in der Seele verstehen, dass nichts uns trennen kann von seiner Liebe, auch nicht unsere dunklen Seiten. Dass Gottes Liebe stärker ist als das, was uns von ihm trennt. Das ist es, was uns in Bewegung setzt, aufeinander zu.

Und es hat konkrete Konsequenzen: Wir begegnen einander wirklich, hören einander zu und verstehen einander, wo immer möglich. Lernen die Welt mit den Augen des anderen zu sehen. Vergessen Achtung und Respekt gerade da nicht, wo wir nur noch den Kopf schütteln wollen. Und – das sage ich ausdrücklich an diesem 1. September des Jahres 2019 - lernen vielleicht einmal wirklich Polen besser kennen. Und sehen, was für ein wunderbares Land mit was für wunderbaren Menschen das ist.

Ich habe in meiner eigenen Biographie erlebt, welchen Unterschied es macht, ein Land aus eigener Anschauung näher kennen zu lernen. Es war nicht Polen, mit dem ich diese Erfahrung gemacht habe, sondern Frankreich. Als ich im Westdeutschland der 70er Jahre Jugendlicher war, waren die Grenzen nach Osten noch zu.

Ich bin als 15-jähriger zum ersten Mal auf Schüleraustausch nach Frankreich gefahren. Und auch die beiden Jahre darauf habe ich jeweils zwei Wochen bei einer französischen Gastfamilie gelebt und umgekehrt ebenso lang einen französischen Gastschüler bei mir zu Hause in der Familie gehabt. Schon damals war für mich angesichts dieser Erfahrung unvorstellbar, dass unsere beiden Völker sich in der Vergangenheit so viel Leid zugefügt hatten. Und es war und ist für mich ein Stück Lebensglück, dass die deutsch-französische Freundschaft zum wichtigen Teil meiner Biographie geworden ist. Der Weg zu diesem heutigen Miteinander war kein einfacher. Vielen, die unvorstellbares Leid in den fürchterlichen Kriegen erlebt haben, ist es schwergefallen, denen zu vergeben, die sie oder ihre Lieben misshandelt, vertrieben oder sogar getötet haben. Aber sie haben die Kraft dazu aufgebracht. Der Weg der Versöhnung ist möglich geworden.

Ich wünsche mir, dass wir auch mit Polen den schon begonnenen Weg der Freundschaft weitergehen. Deswegen bin ich so dankbar für all die Menschen, die sich schon heute für die deutsch-polnische Freundschaft engagieren oder sie sogar als Familie schon ganz selbstverständlich leben. Deswegen ist das Zusammenleben über konfessionelle, religiöse oder nationale Grenzen hinweg, das ich hier in Frankfurt an der Oder erlebe und von dem wir hier im Gottesdienst gerade gehört haben, ein echtes Zukunftsmodell.

In einem Europa, in dem die Spaltungstendenzen überhand zu nehmen drohen, wollen wir dafür einstehen, dass der Weg der Versöhnung weitergegangen wird. In einem Europa, in dem Bewegungen sich auszubreiten drohen, die Hassbotschaften aussenden, wollen wir die Liebe starkmachen und selbst ausstrahlen. In einem Europa, indem Arm und Reich immer mehr auseinanderfallen, wollen wir für Gerechtigkeit streiten und Anwälte der Schwachen sein. In einem Europa, das von Intoleranz bedroht ist, wollen wir auf den Reichtum hinweisen, denn es bedeutet, wenn Menschen mit unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergründen friedlich zusammenleben lernen.

„Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!“ Ja, das wollen wir tun. Wir werden gute Tage erleben!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. 

AMEN