Predigt zu Christi Himmelfahrt in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg (Joh 17, 20-26)

Robert Leicht

Damit sie alle eins seien!

Gnade und Friede sei mit Euch von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen

Liebe Gemeinde,
der Predigt-Text für den heutigen Himmelfahrtstag steht im Johannes-Evangelium, Kapitel 17, Vers 20 – 26. Wir hören, wie Jesus spricht:

LUT John 17:20 Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, 21 damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, daß du mich gesandt hast. 22 Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, 23 ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.

24 Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe der Grund der Welt gelegt war. 25 Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich, und diese haben erkannt, daß du mich gesandt hast. 26 Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen.

Liebe Gemeinde!

Wir alle kennen Sätze, in denen sich die Weisheit des Lebens glasklar verdichtet hat – unwiderleglich –  scheinbar unwiderleglich. „Lügen haben kurze Beine!“ – Oder:  „Einigkeit macht stark!“ Aber stimmt das denn überhaupt – das mit der Einigkeit und mit der Stärke?

Schauen wir zunächst auf unsere eigene Geschichte: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer...“ Wie schrecklich war diese Lüge gewesen – trotz ihrer kurzen Beine!
Oder wie hieß  es doch im Kehrvers der sogenannten Nationalhymne der weiland DDR: „Deutschland, einig Vaterland!“ Die Unwahrhaftigkeit dieser Lebenslüge war spätestens nach Mauerbau so offenkundig geworden, dass die SED-Herrschaft die Hymne nur noch als Lied ohne Worte abspielen – und absummen ließ.
Und selbst jetzt: „Einigkeit und Recht und Freiheit...“. Wir wollen diese drei Motive gewiss nicht gering schätzen, aber dass sie seit der Wiedervereinigung nun „des Glückes Unterpfand“ seien, das sieht man den Deutschen nun nicht gerade am Gesicht an –  weder im Osten noch im Westen.

Da sehen wir also sogleich: Einigkeit und Einheit sind unter uns Menschen keineswegs die Garanten von Stärke, nicht einmal in der Politik. Oft im Gegenteil: Wo man ganz stark auf die Einigkeit drückt – von oben! – , unterdrückt man zuerst ganz schnell die Wahrheit – und die Freiheit zugleich.
Ja, wir müssen sogar sagen: Wirklich frei sind wir unter uns Menschen (und als Bürger) nur dann, wenn wir auch frei dazu sind, geradeheraus un-eins zu sein .
Selbst die Wahrheit setzt nach menschlichem Maß den Streit der Meinungen voraus –auch und gerade die wissenschaftliche Wahrheit, die nach der Versuchs- und Diskussionsanordnung von trial and error, von Versuch und Irrtum voranschreitet –  von Irrtum zu Irrtum, von aufgedecktem Irrtum zu aufgedecktem Irrtum, zur Wahrheit for the time being, zur relativen Wahrheit bis zu ihrer nächsten Infragestellung.

Soviel zu unserer allgemeinen Lebenserfahrung. Nun zur Kirche: Muss denn diese Freiheit und Unterschiedlichkeit der Ansichten ausgerechnet an den Kirchentüren Halt machen? Haben nicht auch in Kirche und Kirchengeschichte gerade die Einheitsparolen viel Unheil angerichtet?
Wie viele Menschen sind im Namen der einen Kirche und der einen Wahrheit schon umgebracht worden?! Und wie viele von ihnen hatten doch so bitter recht gehabt – und so viel weniger Schuld auf sich geladen als ihre hoch-kirchlichen Richter? Wie oft bedurfte es auch in der Kirchengeschichte der Trennung und Spaltung, weil anders die Wahrheit nicht zum Vorschein kommen wollte? Und selbst dort, wo wir heute die Spaltung der christlichen Kirchen überwinden (oder doch wenigstens mildern)  wollen – droht nicht selten der faule Formelkompromiss zu Lasten der Wahrheit, allerdings auch das selbstzufriedene Misstrauen im eigenen konfessionellen Gehäuse.

LUT John 17:20 Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, 21 damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, daß du mich gesandt hast. 22 Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, 23 ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.

Dieser Predigttext nimmt sich aus wie ein fulminantes, ein fundamentales Plädoyer für das Gegenteil unserer Erfahrungen: Einigkeit macht stark!

Ein Plädoyer? Nein – (fast) alles andere als das! Jedenfalls alles andere als eine machtvolle Parole, als ein schmissiger Slogan. Es ist eine fast intime Bitte – in Wahrheit ein geradezu besorgtes Gebet.

Das Johannes-Evangelium zeigt uns Jesus im Gebet, nach seinen Abschlussreden, vor der Passion. Eigentlich merkwürdig, dass wir in diesem „hohepriesterlichen Gebet“ zu Zeugen einer Zwiesprache zwischen Vater und Sohn werden.

Da heißt es eben noch zum Ende der Abschiedsreden:

John 16:33 Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Und dann geht es fast übergangslos weiter:

John 17:1 Solches redete Jesus, und hob seine Augen auf gen Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da, daß du deinen Sohn verklärest, auf daß dich dein Sohn auch verkläre...

Sei dem, wie dem sei – in diesem großen Gebet meditiert Jesus nach den Worten des Johannes-Evangeliums die Zukunft in drei Beziehungsfeldern.

Zunächst geht es um die Beziehung zwischen Vater und Sohn ( V. 1 – 8), sodann um die Beziehung zwischen Jesus und den Jüngern (V. 9 – 19).

Unser Predigtext nun setzt ein mit dem Gedanken an all jene, die nicht Tat-Zeugen und Zeitgenossen des irdischen Jesus sind, sondern aufgrund des Wortes der ersten Zeugen zu Glaubenden werden. Gedanken sind dies also auch an uns, an die fernen Nachkommen der Urgemeinde:

John 17:20 Ich bitte aber nicht allein für sie…

– also die Jünger –,

…sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden…

Und nun die erste große, im Grunde die einzige Bitte:

John 17:20 Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, 21 damit sie alle eins seien.

Damit wir alle eins seien! Wie verhält sich das zu unserer Erfahrung, dass unser Unheil mitunter gerade dann anfing, wenn wir uns einig waren – oder zur Einheit zusammengetrieben wurden?

Die Rede ist hier nicht von einer bedingungslosen Einheit – denn alles gerät uns schief, wenn wir etwas so tun: be-ding-ungs-los!

Sondern hier wird sehr genau die Bedingung unserer Einheit angegeben, die Bedingung der wahren Einheit wie der einen Wahrheit. Diese Bedingung ist offenbar nie von vorneherein gesichert, niemals unproblematisch gesichert. Wir können vielmehr, ja, wir sollten wohl diesen Abschnitt des Johannesevangeliums bereits aus der sich abzeichnenden Uneinigkeit in der frühesten Christenheit lesen – jedenfalls nach der Erfahrung des Ausschlusses der Judenchristen aus der Synagoge.

…damit sie alle eins seien:

Diese Gebetsbitte setzt also nicht die Einheit voraus, sondern vielmehr ihre Gefährdung. Dieses besorgte Gebet ist demnach eines der frühesten Kirchengebete überhaupt. Ein ökumenisches Kirchengebet überdies… (Und nicht umsonst trägt eine Enzyklika des gegenwärtigen Papstes über den Einsatz für die Ökumene aus dem Jahr 1995 diese Bitte als Überschrift: Ut unum sint – damit sie eins seien.)

Aber die Einheit der Kirche ist immer in Gefahr, wenn wir die richtigen Bedingungen dieser Einheit nicht erkennen – und wenn wir die falsche Einheit nicht jederzeit entzaubern.

Was ist also die Bedingung der Einheit unter den Bedingungen der Uneinigkeit?

*

Jesu fährt im Gebet (und in unserem Predigttext) wie folgt fort – und nennt diese eine Bedingung:

Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein…

Nun wird uns mit einem Mal klar, weshalb dies der richtige Predigttext für den Himmelfahrtstag ist – ja, was überhaupt der Sinn des Festes Christi Himmelfahrt ist. Jedenfalls nicht der Vatertag, den wir daraus gemacht haben…

Die Himmelfahrt Christi ist – theologisch und in den ultimativen Bildern unseres Lebens und Glaubens gesprochen – das notwendige Gegenstück, die ergänzende Gegenbewegung zu Weihnachten, zur Menschwerdung Jesu. In seiner Geburt identifiziert sich Gott in Jesus restlos mit den Menschen. In seiner Himmelfahrt wird der Gekreuzigte und Auferstandene als Christus restlos identifiziert mit Gott: Wahrer Mensch und wahrer Gott. Wenn wir denn so wollen, ist das – ganz gegen unsere irdischen, sonnigen Kutschfahrten unter Männern – ein ganz wahrer Vatertag!

Und allein diese paradoxe Einheit von Vater und Sohn, von wahrem Menschen und wahrem Gott ist die Bedingung von wahrem Glauben und von wahrer Einheit.

Ein Gott, der wie mit einem Luftkissenfahrzeug über unsere Welt schwebte, der sich eben nicht zu uns beugte und sich nicht wahrhaftig als Mensch erniedrigte, der bliebe ein selbstzufriedener Götze.

Würden wir aber Jesus von Nazareth, der sich bis zum Tod am Kreuz mit unserem menschlichen Leben und Sterben vollends identifizierte –  würden wir ihn nicht ganz als Christus glauben und so als vollends mit Gott identifiziert erkennen, so hätten wir es nur mit einem moralischen Idol unserer Wahl zu tun – mit einem Halb-Gott. Also im Grunde: Nichts Halbes und nichts Ganzes…

Diese paradoxe Einheit von Menschwerdung und Himmelfahrt, von Gott und Mensch in Christus ist das Geheimnis unseres Glaubens. Sie ist die entscheidende, aber auch die einzige Bedingung der Einheit und der Wahrheit der Kirche.

Einigkeit stellt man mühsam her – Einheit findet man vor, als Geschenk.

Nicht unsere Einigkeit als Menschen und Kirchen untereinander macht uns stark, sondern die Einheit von Vater und Sohn, von Gott und Mensch stärkt uns – im Glauben und als Kirche.

Die Einheit der Kirche ist also nicht dort, wo Kirchentümer in sich gefestigt, unfehlbar, geschlossen und vereinheitlich dastehen, nach dem Motto: Einigkeit macht stark!

Die eine Kirche ist nicht schon dort, wo Kirchentümer miteinander wie theologische Machthaber und Diplomaten verhandeln – und am Ende sogar ein einziges Oberhaupt aushandeln.

Weder Paulus noch Petrus waren jemals die Fürsten eines einheitlichen Kirchenregiments gewesen. Oder wie Karl Barth es formuliert hat: „Was aber im Neuen Testament völlig unsichtbar ist, das ist die Existenz einer den einzelnen Gemeinden übergeordneten, ihre Einheit als Gemeinde Jesu Christi von außen her sichernden, eigentlich so zu nennenden Kirchenregierung.“

Warum also, außer zur Regelung des Nötigsten, danach krampfhaft im Äußeren suchen – auf dass wir selbstherrlich sagen könnten: „Einigkeit macht stark“? Anstatt diese Einheit als innere, als geistliche Einheit im Gebet zu suchen und – trotz aller Trennung, aber auch in der ökumenischen Vielfalt – zu erbitten, wie sie Jesus selbst in den Worten des von Spaltungsgefahren und  -Ängsten bedrohten Johannes-Evangeliums erbeten hat:

Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, 21 damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, daß du mich gesandt hast.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen