Predigt zum Bibelkongess in der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar (Micha 6, 8)

Wolfgang Huber

"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott."
(Micha 6,8)

I.

Dieses Prophetenwort wird uns am heutigen Tag vor die Füße gelegt. Es begegnet uns als Wochenspruch für die Woche, die mit dem heutigen 20. Sonntag nach Trinitatis beginnt. Ungerufen will es unserem Nachdenken die Richtung weisen - unserem Nachdenken darüber, wie es um unser Verhältnis zur Bibel bestellt ist, dem "Buch der Bücher", der Heiligen Schrift.

Ja, wie ist es damit bestellt? Hat die Bibel noch einen Ort in unserer Kultur? Gehört sie noch zum Kanon des Wissens und der Bildung? Würde heute noch einer auf die Frage, welches Buch ihm am wichtigsten ist, antworten: "Sie werden lachen, die Bibel"?

Von einem Pfarrer in meiner badischen Heimat erzählte man, er habe nach dem Krieg die Grenze zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone mit einem Koffer voller Bibeln überquert. Als die Kontrolleure kamen und nach dem Inhalt des schweren Koffers fragten, antwortete er nur: "Dynamit". Die Aufregung war groß; es dauerte eine Zeit, bis sie sich legte. Die Bibel - Dynamit?

In evangelischen Kirchen liegt das aufgeschlagene Bibelbuch auf dem Altar. Der katholische Priester küsst die Heilige Schrift, wenn er aus ihr das Evangelium liest. In den orthodoxen Kirchen wird sie in einer feierlichen Prozession in das Gotteshaus getragen. Ungezählt ist die Zahl der Sprachen, in welche dieses Buch übersetzt wurde. Und trotzdem: Die Bibel - Dynamit? Sprengt sie unsere Vorurteile und gewohnten Denkweisen?

II.

Mit einer schlichten Wahrheit hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog im vergangenen Jahr hier in Weimar für Aufsehen gesorgt. Er sagte nämlich: "Kultur und Zivilisation sind niemals ein für allemal fester Besitz. Sie müssen von jedem einzelnen, von jeder Generation immer wieder aufs neue errungen werden. Dazu gehört, dass man seine eigene Tradition kennt." Er sagte das, als hier in Weimar die Veranstaltungen für die "Kulturhauptstadt Europas" eröffnet wurden.

Gibt es denn überhaupt einen "Kanon" unserer Tradition? Diese Frage wurde sofort gestellt. Kann man zum Beispiel festlegen, welche Werke der Weltliteratur dazu gehören? Von Sophokles war dabei die Rede und von Goethe, von Shakespeare und von Bertolt Brecht.

Von der Bibel sprach in diesem Zusammenhang kaum jemand. Dabei ist das Wort "Kanon" zuerst im Zusammenhang mit der Bibel verwendet worden. Denn mit diesem Wort ist in solchen Zusammenhängen ja nicht die musikalische Form gemeint, in der dieselbe Melodie von verschiedenen Sängern nacheinander angestimmt wird. Sondern Kanon - zu deutsch: Maßstab, Richtschnur - meint ursprünglich die Abgrenzung der Schriften, die der Bibel, der Heiligen Schrift der Juden und der Christen, zugehören. An der Abgrenzung des Alten und des Neuen Testaments hat sich die Frage nach einem allgemeingültigen Kanon zuallererst entzündet. Nicht darum also geht es, dass alle - wenn auch mit verschiedenen Einsätzen - ein und dieselbe Melodie singen. Es geht um die Richtschnur dafür, wie verschiedene Texte aus unterschiedlichen Zeiten sich zusammenfügen, welche Texte wichtig und welche weniger wichtig sind.

Das ist gemeint, wenn heute wieder nach einem Kanon gefragt wird, der über die für unsere Kultur wichtigen Traditionen Auskunft gibt. Es ist ein Irrtum, wenn manche sagen, in einer pluralistischen Gesellschaft könne es einen solchen Kanon nicht geben. Richtig ist: Gerade im Pluralismus ist er nötig.

Von Sophokles und Goethe, von Shakespeare und Brecht war in solchen Zusammenhängen die Rede. Von der Bibel sprach kaum einer, von jener vielgestaltigen Bibliothek, die zuallererst zur Bildung eines Kanons herausforderte. Dabei sollte man nicht vergessen: Auch die Bibel gehört zu den Traditionen, ohne die sich unsere Kultur weder verstehen noch weiterentwickeln läßt.

"Früher gab es mal eine europäische Leitkultur", hat der Journalist Josef Joffe dieser Tage in einem Zeitungsbeitrag eingewandt, "früher gab es eine Leitkultur entlang der 4-R-Linie Rom, Reformation, Renaissance, Revolution. ... Ach ja, früher war das wirklich einigende Band, das Klassen und Nationen verknüpfte, die Bibel - vorbei, vorbei."

Können und wollen wir uns mit diesem "Vorbei" abfinden? Wir können es nicht; wir müssen die Botschaft der Bibel in die öffentlichen Debatten unserer Zeit ebenso hineinbringen wie ins persönliche Leben. Wie anders wäre beispielsweise die Diskussion über eine angebliche deutsche Leitkultur in den letzten Tagen verlaufen, wenn man sich dabei an die Bibel erinnert hätte! Gewiss gibt es eine deutsche Kultur - wer wollte das leugnen. Gewiss brauchen wir Heimat in unserer Sprache und unserer Überlieferung - mehr als beim Zappen zwischen Fernsehkanälen zu erwerben ist. Aber gerade unsere deutsche Kultur kennt Höhen und Tiefen, wie wir alle wissen. Buchenwald liegt nahe bei Weimar. Deshalb wollen wir uns hüten, gerade das Deutsche an unserer Kultur zur Leitkultur zu erheben.

Wie wäre es also, so frage ich deshalb, wenn in der Diskussion über eine Leitkultur auch von der Bibel wieder die Rede wäre - nicht nur von Sprache und Rechtsordnung, nicht nur von Kartoffelsuppe und Gamsbart, sondern von der Bibel? Von jenem Kanon, der in sich selbst eine Bibliothek in einem Buch ist, Geschichten davon enthält, was Menschen mit ihrem Gott erlebten, die Jahrtausende überspannen? Was für eine Leitkultur wäre dies, die unter dem Prophetenwort stünde: "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott."

Verbreitet ist heute die Vorstellung, wir könnten von alleine wissen, was gut ist. Es komme nur darauf an, sich aus den vielfältigen Angeboten der Gesellschaft das auszuwählen, was gerade als passend erscheint. Erst spät, manchmal zu spät zeigt sich, dass nicht zusammenpasst, was wir ausgewählt haben. Dann geraten wir in die Lage eines Menschen, der nicht aufgepasst hat. Plötzlich hat er zwei verschiedene Schuhe an; beide drücken und zum Gespött der Leute wird er auch. Was wir die verbreitete Orientierungslosigkeit in unserer Gesellschaft nennen, ist nichts anderes als die Willkür, die versucht, mit zwei verschiedenen Schuhen herumzulaufen. Es stimmt nicht, wenn behauptet wird, in unserer Gesellschaft könne es keine klare Orientierung mehr geben; alles sei unübersichtlich geworden. Nein, es ist nicht alles unübersichtlich; man muss die Orientierung nur in Anspruch nehmen, die uns angeboten wird.

III.

Die entscheidende Orientierung für unser Leben können wir uns nicht selber geben. Sie kommt von Gott. Wer wir sind und was wir sollen, wissen wir nur, weil Gott zu uns spricht. Er spricht uns an und wir können antworten. Er vergibt uns unsere Schuld und ermöglicht uns einen neuen Anfang. Er verspricht uns sein Reich und zeigt uns so einen Weg.

Die Bibel steckt voller Geschichten über Menschen, die sich auf diesen Weg eingelassen haben - von Abraham, der aus seinem Vaterland auszog und sich auf den Weg in das Land machte, das Gott ihm zeigte, bis hin zu den Anhängerinnen und Anhängern Jesu, die das Ungewohnte nicht scheuten, das die Nähe Jesu mit sich brachte. Und Menschen, denen die Bibel zum Buch des Lebens wurde, haben auch selber die Erfahrung gemacht, die in der Bibel wieder und wieder begegnet: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein." Die Bibel gehört zum Reiseproviant von Menschen, die sich nicht entmutigen lassen. Menschen sind das, die sich den Schwierigkeiten ihres Lebens und ihrer Zeit stellen und einen Weg suchen, weil sie sich an die Zusage Jesu halten: "In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden." Zu den Besonderheiten dieses Reiseproviants gehört übrigens: Es wird nie aufgezehrt.

Der Prophet Micha richtet drei Wegweiser auf, die für ein Leben aus dem Glauben, für ein Leben aus der Kraft der biblischen Botschaft entscheidend sind: Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

Der erste Wegweiser heißt: Gottes Wort halten. Der Prophet denkt vor allem an die Gebote Gottes, an seine gute Weisung für ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott und untereinander. Die zehn Gebote fassen diese Weisung kurz und knapp zusammen. Sie geben zuerst Weisung für das Leben mit Gott: die Ehrfurcht vor Gott unserem Vater, der in Jesus zu uns gekommen ist und in seinem Geist bei uns bleibt, ist das erste. Dass wir Gottes Namen nicht missbrauchen und den Feiertag achten, gehört unlöslich dazu. Gottes Gebote geben sodann Weisung für das Leben miteinander. Die Achtung und Fürsorge für die Eltern und das vertrauensvolle Leben in der Gemeinschaft der Familie stehen obenan. Der Schutz des Lebens, die Treue im Zusammenleben der Geschlechter, die Pflicht zur Wahrheit und der Respekt vor dem Eigentum der andern folgen. Der Weg, den Gott uns führen will, ist nicht verborgen; er liegt klar vor uns, wenn wir nur hören, lesen und verstehen wollen.

Die zweite Weisung des Propheten heißt: Liebe üben. Im Zusammenleben mit anderen Menschen brauchen wir nur eine Frage zu stellen. Sie heißt: Was hilft dem andern zum Leben und was kann ich dazu beitragen? Wenn wir diese Frage ehrlich stellen und beantworten, wenn wir tun, was Herz und Gewissen uns sagen, dann gehen wir nicht in die Irre. Denn dann handeln wir aus Liebe. Auch im Umgang mit Fremden den Respekt vor der Würde des andern Menschen wichtiger zu nehmen als unsere Neigung zur Abgrenzung: wie viel klarer wäre vieles, wenn wir uns daran hielten. Die Toleranz der Liebe als Leitkultur: könnte uns das nicht auch in Deutschland helfen?

Die dritte Weisung des Propheten heißt: demütig sein vor deinem Gott. Auch wenn wir Gottes Wort hören, auch wenn wir uns in die Botschaft der Bibel vertiefen, bleiben Rätsel. Auf manches wissen wir keine Antwort. Manches bleibt widersprüchlich - in unserem Leben ebenso wie in der Botschaft der Bibel. Menschliche Enttäuschungen oder rätselhafte Krankheiten - seit Hiob sind sie ein Beispiel dafür. Prüfungen dieser Art demütig aus Gottes Hand anzunehmen, ist der einzige Weg, mit ihnen wahrhaftig umzugehen. Wenn wir mit solchen Erfahrungen vor Gott treten, dann erhalten wir eine neue Kraft, die uns beim Weitergehen hilft.

Das ist eine Demut, die sich nicht bückt, sondern aufrichtet. Wer sich vor Gott beugt, braucht sich vor keinem Menschen zu bücken. Dietrich Bonhoeffer hat diese aufrechte Demut des Glaubens so beschrieben: "Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. ... Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet."

Die Kraft des Glaubens, die sich aus der Bibel speist, gehört nicht der Vergangenheit an. Von ihr gilt nicht das "Vorbei, vorbei", das ihr manche immer wieder nachrufen wollen. Das Buch der Bücher ist kein Buch mit sieben Siegeln. Es bleibt ein Buch des Lebens - auch heute und morgen.

Amen