Predigt zum Himmelfahrtstag, im Berliner Dom (Johannes 17, 20-26)
Wolfgang Huber
Der Predigttext für den heutigen Himmelfahrtstag steht am Ende der Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium. Es sind Verse aus dem hohepriesterlichen Gebet Jesu für seine Jünger. Dort heißt es:
“Ich bitte aber nicht allein für sie – die Jünger – , sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.
Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe der Grund der Welt gelegt war. Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen.”
(Johannes 17, 20-26)
1.
Himmelfahrt ist unter den christlichen Feiertagen der widerborstigste. Viele tun sich schwer mit dem Inhalt dieses Tages. Deshalb hat man ihm auch manche zusätzliche Funktion angedient. “Vatertag” ist eine solche Funktion; und seit es nicht mehr so viele Väter gibt, redet man vom “Herrentag”. Kutschfahrten unterschiedlicher Art werden unternommen; das Bier fließt reichlich. Sonne und Alkohol röten die Nasen. Vom scheinbar spröden Sinn des Tages wird auf diese Weise abgelenkt.
Aber so spröde der Himmelfahrtstag auch erscheint, so wichtig ist er doch. Himmelfahrt ist die unentbehrliche Entsprechung zu Weihnachten. Die Botschaft von Christi Himmelfahrt ist das notwendige Gegenstück zur Weihnachtsbotschaft. Die Himmelfahrt, also Jesu Rückkehr zu seinem Vater, ist die ergänzende Gegenbewegung zu Weihnachten, zur Menschwerdung Jesu. In der Menschwerdung lässt sich Gott in Jesus restlos auf uns Menschen ein. Er identifiziert sich mit uns. In seiner Himmelfahrt wird der gekreuzigte und auferstandene Christus wieder zu Gott aufgenommen. Der menschgewordene Messias wird restlos identifiziert mit Gott.
Die Bekenntnistradition der Kirche hat diese doppelte Bewegung schlicht und anspruchsvoll zusammengefasst: Jesus Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Mit den Worten des Bekenntnisses von Nicäa haben wir uns das vorhin zu eigen gemacht. Wir haben das Bekenntnis gesprochen, das die gegenläufigen Bewegungen von Weihnachten und Himmelfahrt verbindet: “Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen ... Er ist aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters.”
Dass Jesus wahrer Mensch ist, wird bestätigt durch den Weg vom Himmel zur Erde und dort von der Krippe ans Kreuz. Dass er wahrer Gott ist, wird bekräftigt durch die Rückkehr zu dem himmlischen Vater, mit dem er eins ist.
Am Himmelfahrtstag geht es um Jesu Einssein mit seinem Vater. Um einen Vatertag handelt es sich tatsächlich. Aber es ist ein anderer Vatertag, als er mit unseren Kutschfahrten unter Männern gemeint ist. Es ist ein wirklicher Vatertag!
2.
Von der Beziehung Jesu mit seinem Vater handelt auch der Predigttext für diesen Tag. In seinem hohepriesterlichen Gebet wendet Jesus sich an seinen Vater. Stellvertretend tritt er vor ihn. Wir werden zu Zeugen einer Zwiesprache zwischen Sohn und Vater.
In diesem großen Gebet meditiert Jesus drei Beziehungsfelder.
Zunächst geht es um die Beziehung zwischen Vater und Sohn, sodann um die Beziehung zwischen Jesus und den Jüngern, schließlich um die Beziehung Jesu zu denen, die nicht mehr Zeugen seines Wirkens sein konnten.
Jesus interessiert sich nicht allein für seine eigene Beziehung zu Gott. Und er hat auch nicht nur die im Blick, die sich mit ihm auf den Weg durch Galiläa begeben haben, auf einen Weg mit ungewissem Ausgang. Er denkt auch an die Menschen, die durch das Zeugnis der Jünger zum Glauben kommen. Sein Gebet erstreckt sich dadurch bis auf uns. Durch viele Generationen hindurch sind wir mitgemeint. Auch wir gehören zu denen, die “durch ihr Wort an mich glauben” oder auch noch glauben werden. Die “Autorität des bittenden Christus” meint auch uns, auch diese Gemeinde heute im Berliner Dom.
Nur eine einzige Bitte hat er für sie alle, eine einzige Bitte auch für uns. Er hat nur die Bitte, dass wir “alle eins sind”.
3.
Da meldet sich Widerspruch. Allzu bekannt klingen uns die Parolen in den Ohren: “Einigkeit macht stark”. Aber stimmt das denn überhaupt?
Schauen wir nur auf unsere eigene Geschichte: “Ein Volk, ein Reich, ein Führer ....” Nur Zerstörung hat diese Parole gebracht. Oder wie es im Kehrvers der sogenannten Nationalhymne der weiland DDR hieß: “Deutschland, einig Vaterland!” Wie verlogen das war, hat sich spätestens mit dem Bau der Mauer hier in Berlin gezeigt. Es war folgerichtig, dass die Hymne nur noch als Lied ohne Worte abgespielt und abgesummt wurde. Aber ist es heute wirklich anders? “Einigkeit und Recht und Freiheit...”. Glaubt das jemand? Ich will die drei Motive nicht gering schätzen – Einigkeit, Recht, Freiheit – ; aber dass sie seit der Wiedervereinigung nun wirklich “des Glückes Unterpfand” seien, ist uns Deutschen nicht gerade ins Gesicht geschrieben – weder in Ost noch in West.
Dass Einigkeit und Einheit alle Dinge zum Guten wenden, ist nicht erwiesen. Nicht einmal in der Politik garantieren Einigkeit oder Einheit den Erfolg. Oft genug ist das Gegenteil der Fall: Wo man – zumeist von oben – ganz stark auf die Einigkeit drückt, unterdrückt man zu leicht und zu schnell die Wahrheit.
Die Freiheit erledigt man gleich mit. Denn wirklich frei sind wir nur dann, wenn wir auch zugeben dürfen, dass wir nicht einig sind. Es gibt keine Erkenntnis der Wahrheit, ohne dass wir aushalten, uneins zu sein. Wo unterschiedliche Meinungen nicht mehr ausgetragen werden, ist auch die Einigkeit steril, unfruchtbar, abweisend. Eine Familie, die sich nur deshalb verträgt, weil niemand seine Meinung sagt, ist wie eine Festung, bei der die Zugbrücken hochgezogen sind. Niemand kommt rein, aber auch niemand raus. Eine Wissenschaft ohne Kontroverse ist nur noch verlogen, mehr nicht. Eine Kirche ohne Streit um die Wahrheit zeigt damit nur, dass ihr die Wahrheit gleichgültig ist. Wir alle nähern uns der Wahrheit nur durch Versuch und Irrtum an; und wenn wir den Irrtum nicht mehr riskieren, entfernen wir uns zugleich von der Wahrheit. Näher kommen wir ihr dadurch nicht.
Soll dieser Wechsel von Versuch und Irrtum, soll dieser Streit um die Wahrheit ausgerechnet an den Kirchentüren Halt machen? Haben die Einheitsparolen nicht auch in der Kirche schon viel Unheil angerichtet? Wie viele Menschen sind im Namen der einen Kirche und der einen Wahrheit schon umgebracht worden?! Und wie viele von ihnen hatten doch in Wahrheit auf so bittere Weise Recht! Manche Häretiker haben weit weniger Schuld auf sich geladen als ihre hoch-kirchlichen Richter!
Wie trostlos wäre die Kirchengeschichte verlaufen, wenn es in ihr nicht auch Spaltungen gegeben hätte? Wenn die Reformatoren nicht aufgetreten wären, die wir im Rund dieses Domes in der vorderen Hälfte sehen – wie stünde es dann um unseren eigenen, persönlichen Glauben? Wenn die Fürsten, die wir in der hinteren Hälfte der Domrundung sehen, nicht bei der Durchsetzung der Reformation geholfen hätten – wären wir dann der Wahrheit näher gekommen? Zur Geschichte des Christentum gehören die Spaltungen, weil die Wahrheit nur zum Vorschein kommt, wenn über sie gestritten wird. Manche Einigungsbestrebung der Gegenwart verdankt sich der Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheitsfragen und der “Wurschtigkeit” gegenüber der eigenen Tradition. Dass uns solche Indifferenz der Glaubenseinheit näherbringt, glaube ich nicht. Auch der Ökumene kann nur dienen, wer die eigenen Überzeugungen ernst nimmt.
4.
Aber trotzdem gilt: Bei den Spaltungen kann es nicht bleiben; mit ihnen können wir uns nicht abfinden. Die “Autorität des bittenden Christus” spricht dagegen. Aber worin besteht die Bedingung der Einheit? Warum bleibt sie das Ziel? Jesus antwortet in seinem Abschiedsgebet auf diese Frage mit einem einzigen Satz:
“Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein…”
Allein in der Einheit von Vater und Sohn, in der Zusammengehörigkeit zwischen dem Herabkommen des wahren Gottes zu uns Menschen und der Aufnahme des wahren Menschen zu Gott finden wir die Einheit, um die es ernstlich geht.
Die paradoxe Einheit und gegenläufige Verbindung von Menschwerdung und Himmelfahrt, von Gott und Mensch in Christus ist das Geheimnis unseres Glaubens. Sie ist die entscheidende, aber auch die einzige Bedingung für Einheit und Wahrheit der Kirche.
Die Einheit der Kirche ist also nicht schon dort, wo Kirchentümer in sich gefestigt und geschlossen dastehen, nach dem Motto: Einigkeit macht stark! Kirchen, die wie Festungen wirken, mit hochgezogenen Zugbrücken, spiegeln nicht die Einheit, von der hier die Rede ist – diese menschenfreundliche und gottoffene Einheit von Vater und Sohn. Kirchen, die nicht unterwegs sind zu neuerer und besserer Erkenntnis der Wahrheit, antworten nicht auf den doppelten Weg Jesu Christi vom Himmel zu uns Menschen und aus unserer irdischen Geschichte heraus wieder zum himmlischen Vater.
Nicht auf die organisatorische Einheit kommt es an, auch nicht darauf, dass die gesamte Christenheit sich durch einen Sprecher auf Erden vertreten lässt. Auf die geistliche Einheit kommt es vielmehr an, darauf, dass wir uns alle durch den einen Christus bei Gott vertreten lassen – und dass wir alle miteinander auf die Stimme dieses einen Hirten hören.
Wenn wir gemeinsam anfangen, auf ihn zu hören, werden wir freilich auch miteinander mehr anfangen. Die ökumenische Gemeinschaft wird sich dann verstärken, beinahe von selbst. Dass wir hier in Berlin auch das kommende Pfingstfest wieder miteinander feiern – mit einer Nacht der offenen Kirchen als Höhepunkt – , ist dafür ein gutes Zeichen. Dass wir auf den großen ökumenischen Kirchentag hier in Berlin im Jahr 2003 zugehen, ebenfalls.
“Damit wir alle eins seien”. Diese Bitte deckt weder den Fanatismus der unverbesserlichen Kirchenspalter noch die Gleichgültigkeit derer, denen alles egal ist. Die Bitte Jesu nimmt den einen Gott wichtiger als unsere verschiedenen Gottesbilder. Sie hält von dem Zusammenklang des Bekenntnisses mehr als von der Dissonanz unserer Versuche, es nachzusprechen.
“Damit wir alle eins seien”. Diese Bitte Jesu können wir in Anspruch nehmen – auch dadurch, dass wir uns von Jesus an ein und denselben Tisch einladen lassen, allen konfessionellen Differenzen zum Trotz.
Auch ein misslungener, ja unhaltbarer Entwurf für die Feier des Abendmahls beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt kann und braucht niemanden von uns davon abzubringen: “Damit wir alle eins seien” – das ist der Auftrag, der uns gestellt ist. Er nötigt uns dazu, Fehler zuzugeben und zu korrigieren. Er ermöglicht uns den Neubeginn.
“Damit wir alle eins seien”. Vielfältig sind die Antworten auf diesen Auftrag. Der Chor dieser Antworten wird lauter, Gott sei Dank. Amen.