Predigt zum Neujahrstag im Dom zu Berlin (Sprüche Salomos Kapitel 16, Vers 9)
Manfred Kock
"Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt."
(Sprüche Salomos Kapitel 16, Vers 9)
"Wieder ein Jahr als Ring
in den Baum gewachsen,
der still steht und ahnungslos kreist
mit der Erde
aber die Geschöpfe
merken nicht, dass sie kreisen
und Jahre sie einkreisen
atemstark
wie den Baum."
So lautet das Neujahrsgedicht von Rose Ausländer.
Jahresringe, Kreislauf des Jahres, die Uhr - ein Kreis.
Wie oft schon erlebten wir den Übergang: fröhlich, ausgelassen oder betrübt und in Sorge; mancher auch makaber einsam - Dinner for one -
Jahresringe, Wiederkehr im Kreislauf des Jahres:
Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Wir reifen vielleicht, stehen vor einer neuen Chance.
Neues Spiel, neues Glück.
Aber in Wahrheit ist unsere Zeit kein Kreislauf.
Nichts kehrt wieder, jeweils ein neuer Ring.
Nichts können wir wiederholen.
Jeder Augenblick einmalig.
Jedes Jahr ein Jahr als Ring in den Baum gewachsen:
Wir merken das am Wachstum unserer Erfahrungen. Das kann uns beglücken.
Wir merken auch das Nachlassen, den Verfall unserer Kräfte. Wir sterben jeden Tag.
"Und stäubend rieselt in sein Grab,
was einstens war lebendge Zeit."
(Annette von Droste-Hülshoff)
Jahresringe, aber kein Kreislauf.
Die Zeit tickt ins Unbekannte. Noch leben wir.
Und so fassen wir zusammen, blicken zurück und nach vorn.
Wir bewerten und wir planen,
wir ahnen, was kommt,
und ahnen es nicht.
Wir erinnern uns an das, was war.
Wir stellen uns vor, was kommen mag.
Das ist notwendig, damit wir leben.
In uns ist Neugier auf die Zukunft, das ist gut.
Wir wagen Prognosen, wir fassen Vorsätze.
Wir hoffen - es sei denn, die Last unserer Vergangenheit nähme uns die Lust auf die Zukunft.
Jedenfalls ist gewiss, Zeit haben wir immer zu wenig,
und Zeit vergeuden wir immer zu viel.
Der Predigttext für diesen Tag entstammt der jüdischen Weisheit. Die Sprüche Salomos, so nennt sie die Tradition, sind eine Sammlung von Sprichworten.
Das Besondere an dieser Weisheit, die da überliefert wird, ist: Sie bringt den Weg durch die Zeit mit Gott in Verbindung.
"Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg. Der Herr allein lenkt seinen Schritt." (Spr. 16, 9)
Beim Ablauf des menschlichen Planens kommt Gott ins Spiel, das ist ganz einfach formuliert. "Der Mensch denkt - Gott lenkt."
Der Spruch hat ein Gespür dafür, wie ungewiss Zeit und Geschichte sind.
Wir verfügen über reichliche Erfahrung, wie alles anders kommt, als wir es planen, berechnen und hoffen.
Das Schicksal hobelt alles glatt.
Aber selbst dieses Bild stimmt nicht.
Wir haben oft glatte Vorstellungen, aber wir treffen auf unberechnete Hindernisse.
Wir denken und planen, aber die Zukunft steht nicht in unserer Hand. Keine Planung, mag sie noch so bedacht sein, ändert etwas daran.
Gott kommt in unser Nachdenken und Vordenken, mit dem Sprichwort aus biblischer Weisheit -, heute am 1. Januar, am Beginn des Jahres.
Es ist so einfach formuliert: Gott allein lenkt unseren Schritt.
Beim zweiten Hören wird klar: Ein Erfüllungsgehilfe unserer Entscheidungen ist Gott nicht. Es wäre zu simpel.
Gott, der Lenker unserer Schritte, das ist keine selbstverständliche Lebensweisheit. Sie muss erprobt und erlitten sein in der Erfahrung von Jahrhunderten.
Nichts Fatalistisches ist daran, wenn es heißt: "Der Mensch denkt, Gott lenkt.", obwohl es im ersten Hören so klingen mag. Der Spruch zielt auf den rechten Gebrauch der Vernunft.
Das ist ein sinnvoller Ratschlag für das kommende Jahr - für uns Christen, für die Kirche, für die Menschen, die Verantwortung tragen in diesem Land. Die biblische Weisheit sagt: Autonome Vernunft bietet keine Gewähr, richtig zu denken und zu handeln. Sie muss vielmehr qualifiziert sein. Sie muss wissen, woher sie kommt und wohin sie zielt.
Übertragen und angewandt auf unser wissenschaftliches Zeitalter heißt das: Forschungen, Wissenschaft sind nicht zweckfrei, sondern sind der Humanität verpflichtet. Sie dürfen auch nicht den Interessen weniger Privilegierter dienen. Die Folgen der mit der Kraft menschlicher Vernunft entwickelten Technik sind zu beachten und zu bewerten im Blick auf Gottes menschenfreundliche Weisungen.
Die Werte, welche unsere Gesellschaft immer wieder verkündet, sind diese: Lernbereitschaft, Flexibilität, Anpassung, Durchsetzungskraft, Wachstum. Es sind Werte, die Erfolg versprechen. Sie dominieren Werbung, Politik und Wirtschaft. Die Versorgung mit Gütern und Unterhaltung der Menschen sollen mit Hilfe solcher Werte optimiert werden.
Der Mensch denkt und forscht und entwickelt und gerät im Gefüge dieser gängigen Werte in Sachzwänge, die auf Vermehrung der Vermögen ausgerichtet sind.
Ihnen kann der Mensch nicht entweichen, solange er ausschließlich auf sich selber gestellt ist.
Es vermehrt sich das Vermögen der Vermögenden und die Armen gehen leer aus.
Die biblische Weisheit öffnet die Gedanken auf Gott hin. Er lenkt. Seinem Bild sollte menschliches Denken also entsprechen. Das Denken zielt, wenn es denn dem Lenken Gottes entspricht, auf die Menschlichkeit des Menschen.
Solche Lebensweisheit ist erprobt und erlitten in der Erfahrung der Jahrhunderte. Gott ist der "für uns", so hat er sich dem Mose bekannt gemacht: Ich bin der "für euch da ist". Er ist der Gott mit dem Antlitz Jesu von Nazareth. Er lenkt also unser Denken - , der mit den gekreuzigten Armen.
So werden wir mit unserem Planen auf den Boden geholt, bewahren uns vor leichtfertigen und frommen Sprüchen.
Viele Menschen haben globale Visionen für die Rettung der Welt. Aber schon die kleinen Schritte sind so schwer. Ganze Völker brauchen Rettung vor Hunger und Krieg. Aber schon die wenigen Armen bei uns selber können wir kaum retten.
Meere stehen vor dem Umkippen. Aber die Rettung eines einzigen verschmutzten Baches kostet fast unbezahlbar viel.
Es ist ganz und gar unmöglich, diese Welt so zu gestalten, dass sie leidfrei und heil wäre. Es läuft vieles anders als es sollte. Aber unsere Einsichten erzeugen doch spannende Erkenntnisse für die Zukunft.
Wir erkennen nämlich: Unser Tun und Lassen hat Folgen. Die Schmerzen der Welt sind ihr von uns Menschen zugefügt, die schlimmsten wenigstens.
Und umgekehrt: Unsere guten Vorsätze, würden wir sie verwirklichen, hätten auch eine positive Wirkung.
Unsere Forderungen an uns selbst für das neue Jahr und unsere Erwartungen an die politisch Verantwortlichen können wir benennen. Diese versprechen uns ja auch eine ganze Menge: Abbau der Arbeitslosigkeit, der Spannungen und Leiden in den Krisengebieten.
Und dennoch: Gottes Lenken durchbricht den Zusammenhang von Tun und Ergehen.
Also: Unsere Lebenszeit ist keine KARMA-Episode. Wir müssen, Gott sei Dank, nicht alles auslöffeln, was wir uns einbrocken. Und wir erleben auch schöne Tage, die wir nicht wirklich verdient haben. Jeder Augenblick ist ein Geschenk und eine neue Chance.
So kann sich unser Menschenherz, indem es sich seinen Weg erdenkt, auf den verlassen, der die Schritte lenkt.
Er ist nicht einfach eine Schicksalsmacht im Hinterstübchen unseres Hirns, um unsere Vorbehalte und das Ungewisse zu ordnen. Er will vielmehr unseren Schritten seinen heilenden Namen eingeben, er ist es, der für uns da ist.
Wie immer wir das Jahr einschätzen, eher grau und düster, wie die Realisten meinen, oder eher klar und hell, wie die Optimisten es sich denken, unsere Schritte in seinem Namen lassen uns den Aufbruch und die Chancen des Kommenden besser erkennen.
Der Mensch denkt - Gott lenkt:
Es geht um bessere Erkenntnis.
Die ständig steigenden Bedürfnisse lassen viele über ihre Verhältnisse leben. Jetzt soll das Sozialsystem weiter umgebaut werden, als sei ausgerechnet da die größte Verschwendung im Gange, wo Menschen an der Armutsgrenze leben.
Es ist ein Zirkel, in dem wir gefangen sind. Gesellschaftliche Hoffnung kann nur dann wachsen, wenn wir genau das einschränken, was zur betörenden Ablenkung und zur weiteren Ankurbelung der Wirtschaft gebraucht wird im ständig steigenden Konsum. "Der Mensch denkt sich seinen Weg, aber Gott lenkt seinen Schritt." Diese alte Weisheit will uns bessere Erkenntnis zuteil werden lassen. Lassen wir uns nicht täuschen von den Göttern unserer Zeit. Lassen wir die Wirklichkeit Gottes an uns heran, dann wird uns schon bald klar, die alten Bilder - "Haste was, dann biste auch was." - funktionieren nicht mehr. Die goldenen Kälber zerbrechen. Die Versprechungen vermehrten Wohlstandes sollen uns nicht mehr zum Tanz verführen.
Wir lernen noch ein anderes. Wir müssen nicht mehr das Leiden vermeiden um jeden Preis. Ein neues Jahr ohne Sorgen und Schmerzen wird es nicht geben. Das ist es auch nicht, was wir wirklich brauchen. Was wir brauchen, ist einzudringen in das Geheimnis Christi, ihn unseren Weg lenken lassen. Das ist die Chance des neuen Jahres.
Es soll Neues geben in unserem Leben. Träume sollen reifen zur Erfüllung, und Erfüllung wird neue Verheißung.
Alleine schaffen wir es nicht. Wir brauchen die anderen. Wir brauchen die Freunde und Freundinnen. Menschen, denen wir vertrauen, und Gott, in dem wir unsere Pläne entdecken.
"Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg. Aber Jesus allein lenkt unseren Schritt."
Er kennt unsere Herzen besser als wir selbst. Er befreit uns für den Tag, für diesen, für den Anfang jeden neuen Tages.
Andreas Gryphius:
Mein sind die Jahre nicht,
die mir die Zeit gewonnen;
mein sind die Jahre nicht,
die etwa möchten kommen;
der Augenblick ist mein,
und nehm ich den in acht,
so ist der mein,
der Jahr und Ewigkeit gewahrt.