Predigt am 3. Juli 2005 in der St. Marien-Kirche zu Berlin (5. Mose 7,6-12)

Wolfgang Huber

I.

Die junge Frau ist mir unvergesslich. In Ranchi im Norden Indiens lernten wir sie kennen. Sie fasst Vertrauen und berichtet, wie sie sich auf ihre Hochzeit freut. Wen sie denn heiraten werde, fragen wir in unserer Mitfreude. Das wisse sie nicht, antwortet sie. Ihre Eltern hätten den Bräutigam ausgewählt; sie habe ihn noch nicht kennen gelernt.

Uns ist eine solche Vorstellung fremd. Den geliebten Menschen müssen wir selbst erwählen, das kann uns niemand abnehmen. Inzwischen erlauben wir uns dabei mancherlei Fehlerquoten und finden, wir müssten für die Wahl, die wir einmal getroffen haben, nicht unbedingt ein ganzes Leben lang einstehen. Aber im Grunde wissen wir, dass das verkehrt ist. Einen Menschen zu erwählen, heißt, zu ihm ohne jede Einschränkung ja zu sagen.

Wenn ein Sohn seinen Eltern das erste Mal die von ihm geliebte Frau vorstellt, oder wenn eine Tochter ihre Eltern mit dem Mann bekannt macht, den sie liebt, dann tun die Eltern gut daran, die Wahl mit Respekt wahrzunehmen. Einwände der Eltern werden Sohn oder Tochter in ihrer Entscheidung nur bestärken. Der Sohn hat die Frau seines Lebens nicht gewählt, weil sie die reichste, am besten ausgebildete oder schönste ist, die sich denken lässt. Er hat sie ausgewählt, weil er sie liebt. Die Tochter hat sich für den Mann ihres Lebens nicht entschieden, weil er am besten verdienen und sich am fürsorglichsten um die Kinder kümmern wird. Wie das geht, wird sich erst noch weisen. Ihre Liebe gilt ihm.

Die großen Weichenstellungen unseres Lebens haben es mit einer solchen Wahl aus Liebe, mit einer solchen Erwählung zu tun. Menschen erwählen einander und teilen das Leben miteinander. Sie widmen ihr Leben einer Aufgabe, der sie sich ganz hingeben.  Solche „Erwählung“ ist der Stoff, aus dem unser Leben gemacht ist.

II.

Erwählung ist auch der Stoff, aus dem Gottes Verhältnis zu uns Menschen gemacht ist. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Diese Zusage Gottes haben wir vorhin unserem Täufling Arwin Semmler zugesprochen. Wir haben Gottes Liebe bezeugt, die diesem Menschenkind gilt, ungeteilt und ohne jeden Vorbehalt. Es ist eben ein Gotteskind. Wir haben uns daran erinnert, dass Gottes Liebe jeder und jedem von uns zugewandt ist. Es ist eine Wegzehrung, die wir dringend brauchen.

Zu den Besonderheiten der biblischen Botschaft gehört, dass sie diese göttliche Erwählung nicht nur einzelnen Menschen zuspricht, sondern auch einem Volk – dem Volk Israel. Besonders eindringlich geschieht das in den großen Reden, die sich im 5. Buch Mose finden. Sie sind ein Vermächtnis des Mose vor seinem Tod und vor Israels Übergang über den Jordan in das von Gott verheißene Land.

Die Befreiung aus Ägypten ist gelungen, die lange Wüstenwanderung ist überstanden. Aber in dem Land, das Gott verheißen hat, wohnen auch andere Völker. Wie kann Israel da bestehen? Es kann bestehen, weil es erwählt ist. In der Predigt des alten Mose an sein Volk heißt es:

Du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker - denn du bist das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat.

III.

Keine Liebesgeschichte hat mehr Widerspruch geweckt als die Erwählung Israels. Diese Einwände äußern sich bis zum heutigen Tag immer wieder in Formen der Judenfeindschaft und des Antisemitismus, die beschämend sind. Unter heutigen Schülern ist "Jude" ein vergleichbares Schimpfwort wie "Looser".

Die Vorstellung von der Erwählung eines Kollektivs trägt allerdings auch ein tiefes Problem in sich. Sie verbindet sich leicht mit dem Gedanken, die einen seien den andern überlegen. Auch die Rede des Mose enthält solche Töne, wenn sie Gottes Barmherzigkeit denen vorbehält, die ihn lieben, und seine Vergeltung denen ankündigt, die ihn hassen. Dadurch soll die Mahnung unterstrichen werden, sich an Gottes Gebote zu halten – eine notwendige Mahnung. Aber dass Gottes Liebe durch solche menschliche Liebe erworben werden könne, führt, mit allem schuldigen Respekt für den alten Mose, in die Irre. Denn Gottes Barmherzigkeit lässt sich nicht erwerben, auch nicht durch Gesetzestreue. Gott macht Israel nicht zum stolzen auserwählten Volk; und die Heiden werden nicht zu Völkern zweiter Klasse. Die Erwählung Israels erklärt sich nicht durch spezielle Qualitäten, die für Gottes Zwecke besonders vorteilhaft sein könnten.

Denn diese Erwählung findet nicht im Rahmen einer Stellenausschreibung statt: Gesucht wird ein Volk, das folgende Qualitäten nachweisen kann. ... Ein solches Missverständnis mag vor dem Hintergrund aktueller Erfahrungen nachvollziehbar sein. Heute müssen die meisten Menschen sich der Mühle solcher Ausschreibungen aussetzen. Berufliche Positionen erringt man nicht dadurch, dass jemand sagt: Ich habe dich erwählt. Auch die abgeschlossene Ausbildung garantiert nicht mehr den entsprechenden Beruf.  Bewerbungen gehören zur Normalität des alltäglichen Existenzkampfes. Die Hoffnung, dann der Glückliche zu sein, der aus der großen Zahl der Bewerber ausgewählt wird, ist nicht nur aus Karrierestreben zu erklären. In einer Gesellschaft, in der Menschen ihr Selbstwertgefühl noch immer zu großen Teilen aus ihrer Arbeit beziehen, sind solche Bestätigungserfahrungen von erheblichem Gewicht.

Und doch geben sie über Wert und Würde eines Menschen keine Auskunft. In der Predigt des Mose heißt es: Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker - denn du bist das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat.

Gott hat seine Zuneigung und Liebe in der Erwählung Israels einem schwachen Volk in großer Not zukommen lassen. Mit einem Kampf um eine Vormachtsstellung oder um Privilegien hat dies nichts zu tun. Die eigentlich entscheidende Frage ist die nach dem Wozu der Berufung.  Für Israel bedeutet Berufung, auf die Treue Gottes mit eigener Treue zu antworten. Deshalb haben die göttlichen Gebote eine so hohe Bedeutung. Denn in ihrer Befolgung zeigt sich diese Treue.

IV.

Als Christen vertrauen wir darauf, dass wir die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel auch für uns selbst weitererzählen dürfen. Aber auch wir haben für unsere Erwählung kein anderes Unterpfand als Gottes Liebe, die uns in Jesus Christus begegnet.

Auch die Kirche Jesu Christi ist kein Club der Starken. Schon nach dem Zeugnis des Neuen Testaments ist das so; und es ist heute nicht anders. Der Apostel Paulus berichtet, das Bekenntnis der Christen zu dem gekreuzigten Erlöser erscheine den Griechen als eine Torheit und den Juden als ein Ärgernis. Paulus aber kehrt diesen Gedanken um und spricht davon, dass die Weisheit der Welt eine Torheit vor Gott ist.

Das ist ziemlich weitsichtig gedacht. Auch heute wird die Botschaft Jesu Christi landauf landab immer wieder zur Torheit erklärt. Deshalb bekennen sich so wenige im Alltag ihres Berufslebens dazu, dass sie Christen sind. In der Wirtschaft, in den Medien, in den Schulen ist diese Zurückhaltung besonders ausgeprägt. Es passt nicht in die Landschaft. Wo nur der Eigennutz herrscht – oder wie man heute vornehmer sagt: die Eigenverantwortung – , hat es keinen Sinn, sich dazu zu bekennen, dass man auf die Nächstenliebe abonniert ist. Wo nur zählt, was sich rechnet, hat es keinen Sinn zuzugeben, dass man mit Gottes Liebe rechnet, von der man gar nicht wissen kann, wie sie sich auszahlt.

Und doch: Was in unserer Gesellschaft als töricht gilt, trägt eine eigene Weisheit in sich. Wir gewinnen die entscheidenden Gewissheiten für unser Leben nicht aus materieller Sicherheit. Den Sinn unseres Lebens erahnen wir erst, wenn wir wissen, für welche Aufgabe wir bestimmt, wofür wir erwählt sind. Erwählung bedeutet für uns als Christen, in eine besondere und eben nur mir geltende Aufgabe meines Lebens gestellt zu sein. Erwählung ist auch eine Zumutung, die über meine eigenen Kräfte hinausgeht, für deren gutes Ende freilich Gott selbst bürgt: Fürchte Dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; Du bist mein.

Niemand wird dadurch abgewertet. Es geht um eine Differenz ohne Diskriminierung, um eine Abgrenzung ohne Ausgrenzung. Nie dürfen wir vergessen: Gottes erste Liebe galt dem kleinsten unter den Völkern. Deshalb gilt sie auch heute den Schwachen, Ausgegrenzten ganz besonders.

Ich halte es deshalb für ein gutes christliches Motiv, wenn wir in diesen Tagen aufgefordert sind, unsere Stimme den Armen zu geben und Gerechtigkeit für Afrika einzufordern, wie es gestern auch in unserer Stadt durch Aktionen und ein großes Konzert geschah. Und wenn dabei ungewöhnliche Mittel ergriffen wurden, fördern sie hoffentlich den guten Zweck. Ich jedenfalls habe um dieses Ziels willen gern neben Claudia Schiffer gestanden. Und ich halte es für richtig, wenn einer unserer Kirchtürme, der Kirchturm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, für diese Botschaft benutzt wird: „Deine Stimme für die Armen!“ Denn ob wir unserer Erwählung treu sind, zeigt sich darin, ob wir den Schwachen die Treue halten.

Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, wird nicht auf die Idee kommen, er sei besser als andere Menschen. Aber er wird sich hineinstellen in die Zeugnisgemeinschaft derer, die allein Gott die Ehre geben und sich deshalb für den Mitmenschen beugen, der ihre Hilfe braucht. In diese Zeugengemeinschaft ruft uns die Taufe. Darum haben wir sie heute gefeiert – in der großen Zeugnisgemeinschaft der einen Christenheit auf Erden.

Amen.