Predigt beim Ökumenischen Gottesdienst zum Auftakt der ökumenischen Pilgerreise ins Heilige Land

Bischof Dr. Gerhard Feige (Magdeburg)

Es gilt das gesprochene Wort.

Einleitung

„Ich fahre nicht ins Heilige Land, ich lasse mir meinen Glauben doch nicht kaputt machen."

So hat sich mir gegenüber mal ein gläubiger Christ geäußert. Anscheinend ließ es sich für ihn aus der Ferne leichter glauben, dass Gott hier Mensch geworden sei mit allen Konsequenzen bis zum Tod am Kreuz und Jesus viele Wunder gewirkt habe, als mit den konkreten Orten in Berührung zu kommen.

Jetzt sind wir im Heiligen Land. Kommen wir nach dieser Reise als Menschen zurück, die ihren Glauben verloren haben?

Wunder in der Bibel

Zugegeben, die Wundergeschichten der Bibel, die sich in der Region abgespielt haben sollen, in der wir uns gerade befinden, empfinden wir als aufgeklärte Menschen als befremdlich. Da sollen Lahme plötzlich wieder gehen können, Blinde sehen und Aussätzige werden rein. Einfach so, durch die Zuwendung und Berührung Jesu Christi. Wie viele Menschen geheilt wurden, ist uns nicht bekannt. Einige Wundergeschichten beschreibt die Heilige Schrift sehr genau: die Abdeckung des Daches, damit der Lahme zu Jesus gelangen kann (Mk 2,1–12), die Heilung eines Mannes in der Synagoge am Sabbat (Mk 3,1–6) und das Reinwerden einer Frau durch die bloße Berührung des Gewandes Jesu (Mt 9,18–22). Von der Verwandlung von Wasser in Wein (Joh 2,1–12) und von der wundersamen Speisung der Fünftausend mit nur fünf Broten und zwei Fischen ist die Rede (Mk 6,30–44). Sogar von einer Wiederauferweckung eines Toten wird gesprochen (Lazarus – Joh 11,1–45). Andere Wundergeschichten wiederum werden gesammelt überliefert, wie wir es eben in der Schriftlesung gehört haben.

Wunder in der katholischen Kirche

Auch heutzutage spielen Wunder in der katholischen Kirche immer noch eine Rolle. Jährlich pilgern viele tausend Menschen zu Wallfahrtsorten auf der ganzen Welt in der Hoffnung, dort Heilung zu finden – ob von seelischen oder körperlichen Leiden ist zumeist ganz unterschiedlich. Am bekanntesten dürfte hier der Wallfahrtsort Lourdes sein. Für die Selig- und Heiligsprechungsverfahren sind entsprechende Wunder nachzuweisen. Hier geht es meist um eine medizinisch nicht erklärbare Heilung von einer unheilbaren Erkrankung.

Wunder allgemein

Offensichtlich haben Wunder aber auch sonst – trotz aller Säkularisierungstendenzen – immer noch oder wieder aufs Neue Hochkonjunktur. Wenn man jedenfalls den Begriff Wunder in die Internetsuchmaschine eingibt, stößt man auf massenweise Veröffentlichungen zu diesem Thema, manche sehr ernst gemeint, andere hingegen eher zwielichtig.

Wunder in der Medizin

„Wunder wirken Wunder", so lautet auch der Titel eines neuen Buches, das der Kabarettist und Mediziner Eckhart von Hirschhausen geschrieben hat. Darin geht es natürlich hauptsächlich um medizinische Wunder, um den berühmten Placebo-Effekt, aber auch um den Zusammenhang zwischen körperlichen und psychischen Symptomen. Wie viel Kraft haben unsere Gedanken tatsächlich, unseren Körper, unsere Gesundheit und unsere Umwelt zu beeinflussen? Darüber scheint in der Medizin noch zu wenig nachgedacht worden zu sein, die Wissenschaft hat die Magie verdrängt. Zugleich findet sich in dem Buch auch ein witziger Denkanstoß. „Jesus" – so heißt es da – „konnte Wasser in Wein verwandeln. Aber ist es nicht mindestens so erstaunlich, dass der menschliche Körper in der Lage ist, über Nacht aus dem ganzen Wein wieder Wasser zu machen?"

Wunder und Forschung

Wunder, so lautet die gängige Definition, sind Ereignisse, die nach den Regeln unserer Welt nicht geschehen dürften. Der Kirchenvater Augustinus hat einmal gesagt: „Das Wunder ist nicht ein Widerspruch zu den Naturgesetzen, sondern ein Widerspruch zu dem, was wir von diesen Gesetzen wissen." Denken wir einmal 100 Jahre weiter. Bis dahin wird die Medizin weitere große Fortschritte gemacht haben und vieles erklären können, was uns heute noch unerklärlich zu sein scheint. Haben die Wunder dann ausgesorgt? Leben wir dann in einer „wunder-freien Welt" und belächeln die Gutgläubigkeit, Naivität und Unwissenheit unserer Vorfahren?

Theologische Deutung von Wundern

Warum erzählt uns die Bibel solche Wundergeschichten? Warum heilt Jesus kranke Menschen und unterstützt damit eine soziale Integration der Betroffenen? Denn das waren ja die meisten Menschen mit einer Krankheit, sie waren ausgestoßen und nicht dazu in der Lage, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In der mittelalterlichen Theologie wurden die Wundertaten Jesu zumeist als historische Fakten vermittelt, später erfolgte ihre Interpretation dann immer mehr – wie aber auch schon bei einigen Alten Kirchenvätern – in einem übertragenen Sinne. Jesus will uns mit diesen Wundertaten eine besondere Botschaft vermitteln. Sie sind ein Ausblick auf das Reich Gottes, das in ihm schon gegenwärtig, aber noch nicht vollendet ist. Darin wird es einstmals kein Leid und keine Krankheiten mehr geben. Die alle Wunderheilungen übersteigende Liebestat Jesu Christi am Kreuz befreit uns schon jetzt aus der Sklaverei der Sünde. Wir sind erlöst, ist das nicht das eigentliche Wunder?

Nun könnte man sagen, dass diese Geschichten alte Erzählungen sind, die mit der heutigen Lebenswelt nichts mehr zu tun haben. Damals waren die Menschen eben noch gutgläubig. Nein, so halte ich entgegen: Gott handelt an uns, auch heute, vielleicht nicht unbedingt spektakulär, meistens im Kleinen. Sein Reich ist bereits angebrochen, und wir sind dazu berufen, trotz unserer Unvollkommenheit daran mit zu arbeiten. Manchmal ist Gott dabei auch für Überraschungen gut und kann – wie es so schön heißt – auf krummen Zeilen gerade schreiben. Martin Luther hat einmal gesagt: „Die Welt ist voll alltäglicher Wunder." Ich wünsche uns, dass wir das Staunen über das Unerklärliche nicht verlieren und auch in den kommenden Tagen darauf vertrauen, dass Gott an uns handelt.

Schluss

Um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: „Ich fahre nicht ins Heilige Land, ich lasse mir meinen Glauben doch nicht kaputt machen."

Jetzt sind wir hier im Heiligen Land am Beginn unserer gemeinsamen Pilgerreise. Ist das nicht auch schon ein kleines Wunder? Wenn ich mir die letzten 50 Jahre unseres ökumenischen Dialogs anschaue und vor allem in Erinnerung rufe, wie die vorherigen Reformationsjubiläen durch ein Gegeneinander geprägt waren, dann ist es zumindest schon erstaunlich, dass wir nun gemeinsam an den Ursprungsorten des Christentums unterwegs sind.

Mögen wir durch die gemeinsame Zeit im Glauben gestärkt werden und Gottes Nähe erfahren. Dann werden wir nicht als Menschen zurückkommen, die ihren Glauben verloren haben, sondern als solche, die ihn umso glaubwürdiger leben und verkünden.