Bibelarbeit: Eine Grenze hast du bestimmt, daß sie die nicht überschreiten (Psalm 104,9)

Jürgen Ebach

6. Tagung der 9. Synode der EKD in Amberg

Prof. Dr. Jürgen Ebach

Mit der Bibel, so meine ich, sollte man nicht begründen, was man ohne sie genau so vertreten würde; mit Bibeltexten soll man nicht illustrieren, was man auch ohne sie für richtig hält. Etwas anderes ist es, Worte der Bibel mit der Gegenwart so ins Gespräch zu bringen, dass der Bibeltext und die gegenwärtige Situation einander befragen, einander auch ins Wort fallen können. Ob das biblische Wort dann zur Bestärkung wird oder zu einem "Gegenwort", ist nicht von vornherein ausgemacht. Rezepte enthält die Bibel allemal nicht, vollends, wenn es – wie beim Stichwort "Globalisierung" – um einen Komplex von Problemen, aber auch Chancen zu tun ist, die es in biblischen Zeiten in dieser Weise nicht gab. Vielleicht hilft die Bibel überhaupt weniger dazu, die richtigen Antworten zu finden als richtige Fragen. In einer Zeit, in der mehr Antworten produziert und auf dem Markt angeboten als wirklich kritische Fragen gestellt werden, wäre es nicht wenig, wenn das Hören auf einen Bibeltext vorgefertigte Denk- und Einstellungsmuster auch nur um ein Geringes verrückte. Und wenn dann manch biblischer Text in der Gegenwart geradezu verrückt klingt – weltfremd etwa oder allzu moralisch –, muss das kein Schaden sein.

Ein Letztes vorweg: Es ist Vieles und Schreckliches geschehen in den letzten Wochen. Dass nach dem 11. September nichts mehr so sei wie zuvor, halte ich für eine Übertreibung, und doch ist die Welt nicht mehr die gleiche. Die Grenzen, die am 11. September auf furchtbare und durch nichts zu rechtfertigende Weise verletzt wurden, die Grenzüberschreitungen, auf die das eine so schreckliche Antwort war, die weiteren Grenzüberschreitungen, die es nach sich zieht und ziehen wird – all das schiebt sich vor mein, vor unser Thema. Ich kann und will in dieser Bibelarbeit keine Beurteilung der Weltlage unternehmen, aber ich will und kann auch nicht über ein Wort der Bibel reden, ohne dass dabei die Gegenwart vor Augen ist, in die hinein und der gegenüber es zu Wort kommen soll. So wird bei meinem Versuch, den 104. Psalm und das Schwerpunktthema der Synode in ein Gespräch zu bringen, manches zwischen den Zeilen bleiben.

Aus Psalm 104 habe ich für diese Bibelarbeit vor allem einen, den 9. Vers ausgewählt. Mir schien es nicht falsch, zum Thema "Globalisierung" eine Art "Gegenwort" ins Zentrum zu stellen, das Wort "Grenze". "Eine Grenze hast du bestimmt, daß sie die nicht überschreiten." So steht es in Ps 104,9, und diese Grenze, die Gott ein für alle Male gesetzt hat, ist den Wassern der Urflut bestimmt, damit sie nie wieder die Erde und was auf ihr lebt, ins Chaos versinken lassen. Aber dieser Vers steht nicht für sich allein, er steht in einem Psalm, der als ganzer einen sozusagen "globalen" Blick hat. In den Blick kommt die bunte und schöne, aber auch von Konflikten durchsetzte Welt als Gottes Schöpfung. Da gibt es mehr als die Menschen und ihre Lebensbedürfnisse, da gibt es Vögel und Wildesel, aber auch die Löwen und ihre Opfer, da gibt es das bedrohliche Meer und in ihm den Leviathan, da gibt es Erdbeben und Vulkanausbrüche. Es ist diese Welt, und diese Welt mit all ihren Gegensätzen wird zum Lob des Schöpfers. Aber es gibt eine Grenze, doch bevor sie und dabei das Wort "Grenze" selbst im Gespräch mit Psalm 104 und anderen biblischen Worten Thema werden soll, möchte ich Ihnen den ganzen Psalm vorlesen. Ich lese ihn in der Übersetzung, die eine Gruppe von Theologinnen und Theologen für den Deutschen Evangelischen Kirchentag 1995 in Hamburg gemeinsam erarbeitet hat. Der Eigenname Gottes, der in den vier Konsonanten j-h-w-h geschrieben wird und dessen Aussprache niemand mehr kennt, ist in jüdischer Tradition in dieser Übersetzung mit dem "Rufnamen" Gottes, der allein Gott vorbehaltenen Herrschaftsanrede "Adonaj" wiedergegeben. Es ist ein langer Psalm, aber er enthält vieles, das Sie womöglich, auch wenn Sie den Psalm oder einige seiner Sätze kennen, unter dem Stichwort "Globalisierung" noch einmal neu hören werden.

1 Segne, meine Kehle, Adonaj!
Adonaj, mein Gott, du bist so groß,
in Glanz und Hoheit bist du gekleidet
2 In Licht hüllst du dich wie in einen Mantel,
den Himmel spannst du aus wie eine Zeltbahn,
3 Du zimmerst in den Wassern deine hohen Gemächer,
du bestimmst Wolken zu deinem Wagen,
du fährst auf den Flügeln des Windes daher,
4 Winde machst du zu deinen Boten,
zu deinen Dienern Feuer und Lohe.
5 Du hast die Erde fest auf ihre Pfeiler gegründet,
daß sie nie und nimmer wanke.
6 Urflut bedeckte sie wie ein Kleid,
auf den Bergen standen Wasser.
7 Deinem Drohen wichen sie,
vor deiner Donnerstimme hasteten sie davon,
8 stiegen auf Berge hoch, in Täler nieder
hin zum Ort, den du für sie gesetzt hast.
9 Eine Grenze hast du bestimmt,
daß sie die nicht überschreiten,
daß sie nicht zurückkehren und die Erde bedecken.
10 Du sendest Quellen in die Bachtäler;
so laufen sie zwischen Bergen dahin;
11 tränken alle Tiere des Feldes;
Wildesel löschen ihren Durst;
12 Über ihnen wohnen die Vögel des Himmels,
aus den Zweigen erheben sie die Stimme.
13 Berge tränkst du aus deinen hohen Gemächern;
so wird von der Frucht deiner Werke die Erde satt.
14 Gras läßt du sprießen für das Vieh
und Saatgrün für die Arbeit der Menschen,
um Brot hervorzubringen aus der Erde
15 auch Wein, der das Menschenherz erfreut,
um das Antlitz glänzend zu machen;
Öl und das Brot, das das Menschenherz stärkt.
16 Es trinken sich satt die Bäume Adonajs,
die Zedern des Libanon, die du gepflanzt,
17 daß die Vögel dort nisten;
die Störchin – auf Wipfeln ist ihr Haus.
18 die hohen Berge gehören den Steinböcken,
Felsklüfte sind der Klippdachse
19 Du hast den Mond gemacht zum Maß der Zeiten;
die Sonne kennt ihren Lauf.
20 Bringst du Finsternis und es wird Nacht,
regen sich alle Tiere des Waldes.
21 Die jungen Löwen brüllen nach Beute,
von der Gottheit ihre Speise zu fordern.
22 Strahlt die Sonne auf,
ziehen sie sich zurück und lagern in ihren Höhlen.
23 Da ziehen die Menschen aus zu ihrem Tun
und zu ihrer Arbeit bis zum Abend.
24 Wie sind deiner Werke so viel, Adonaj!
Alle hast du sie mit Weisheit gemacht;
erfüllt ist die Erde von dem, was du dir geschaffen hast.
25 Da – das Meer: groß und weit sich dehnend;
dort ist Gewimmel ohne Zahl,
kleine Tiere zusammen mit großen.
26 Dort ziehen Schiffe dahin,
der Leviathan, den du gebildet hast, mit ihm zu spielen.
27 Alle harren sie auf dich,
daß du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit.
28 Gibst du ihnen, nehmen sie;
öffnest du deine Hand, sättigen sie sich mit Gutem.
29 Verbirgst du dein Antlitz, sind sie verstört;
entziehst du ihnen ihren Atem,
schwinden sie dahin und werden wieder zu Staub.
30 Sendest du deinen Atem, werden sie erschaffen,
und du erneuerst das Antlitz der Erde.
31 Die Majestät Adonajs habe Gewicht für immer,
mögest du, Adonaj, dich deiner Werke freuen!
32 Du blickst die Erde an, und sie erbebt,
du rührst an die Berge, und sie rauchen.
33 Singen will ich Adonaj, solange ich lebe,
aufspielen meinem Gott, solange ich bin.
34 Möge dir gefallen mein Psalmsingen;
ich aber, ich will mich freuen an Adonaj.
35 Verschwänden doch die Sündigen von der Erde,
und die Frevelnden möge es nicht mehr geben!
Segne, meine Kehle, Adonaj! Halleluja!

Der Mensch spielt nicht die Hauptrolle in der Welt, wie sie in diesem Psalm in den Blick und zu Wort kommt. Aber der letzte Vers bringt Menschen auf prekäre Weise ins Spiel. Sünder – das können allein Menschen sein. Der Löwe, der seine Speise von Gott fordert und erhält, sündigt nicht, wenn er das Schaf tötet und frisst. Aber mehr noch als die fragwürdige Sonderstellung des Menschen in Ps 104 klingt der Vernichtungswunsch im Ohr: "Verschwänden doch die Sündigen von der Erde, und die Frevelnden möge es nicht mehr geben!" Ist das nicht jene Mentalität, für die die Welt in Ordnung wäre, wenn nur die Bösen erst vernichtet wären? In der Frage, wer jeweils die zu vernichtenden Bösen seien, unterscheiden sich die Ideologien – im Denkmuster selbst, das Welt und Menschen in Gute und Böse aufteilt, unterscheiden sie sich weniger.
Ich komme darauf zurück, aber ich will zunächst beim 9. Vers des Psalms einsetzen und zuerst beim Wort "Grenze" selbst. Es hat nämlich eine bemerkenswerte Herkunft. "Grenze" ist eines der wenigen slawischen Wort im Deutschen. Das alte deutsche Wort für Grenze ist Mark. "Grenze" ist also zunächst das Grenzland. Man könnte, etwas sophisticated, was im Zuge der Vereinigung Europas geschieht, somit als Re-Germanisierungsprojekt bezeichnen: Wo die Grenzen waren, soll die Mark hinkommen! (Im ehemals jugoslawischen Bosnien ist heute die DM offizielle Währung.) Allerdings ist auch das mit der Mark schon wieder überholt, denn nun kommt der Euro. Auch da gäbe es philologisch-mythologisch Erhellendes zu sagen ...

Ich zitiere den ersten Satz in Ps 104,9 im Hebräischen: gvul-samta bal-ja'avorun – "Eine Grenze hast du bestimmt, daß sie die nicht überschreiten". In der lateinischen Vulgata lautet der Satz: "Terminum posuisti, quem non transgrediuntur". In der englischen New Reversed Standard Version heißt es: "You set a boundary that they may not pass". Martin Buber verdeutscht: "Du hast ihnen eine Schranke gesetzt, die überschreiten sie nie". "Terminus", "boundary", "Schranke" – in den unterschiedlichen Wiedergaben zeigt sich etwas Schillerndes im Wort- und Problemfeld "Grenze" selbst.

Mit dem Wort gvul (Grenze) hat es noch etwas auf sich, das ich Ihnen erzählen möchte. Wie ähnliche Worte in anderen Sprachen hängen mit diesem Wort im Hebräischen und verwandten Sprachen mehrere Ortsnamen zusammen, so der Name der phönikischen Hafenstadt Gubla, hebr. geval, das heutige libanesische Djebeil nördlich von Beirut. Von dort bezogen die Griechen einen großen Teil des Papyrus, den sie daher wie die Stadt Byblos nannten. Die Bezeichnung wurde dann zu der für ein Buch, biblion, biblos, schließlich zum Namen des Buches, der Bibel.

Über mehrere Stufen geht also das Wort "Bibel" zurück auf das Wort "Grenze". Das führt zu weiteren Fragen: Wie steht es denn bei der Bibel mit ihrem Geltungsanspruch und dessen Grenze? Ist der biblische Wahrheitsanspruch selbst grenzenlos? Doch wie verträgt er sich dann mit einem eben solchen Anspruch eines anderen Heiligen Buches, etwa des Korans? Welche Grenzen sind zu überwinden, welche zu respektieren, wo unterschiedliche und unvereinbare Wahrheitsansprüche gegeneinander stehen, vor allem dann, wenn sie je für sich globale Geltung fordern? Wo immer von Globalisierung die Rede ist (ein nahes griechisches Wort dafür wäre übrigens "Katholizität"), meldet sich Grenzenlosigkeit als Vision und als Gefahr. Es gab eine Zeit, in der man von einer "Globalisierung" vor allem negativ sprach. ("Das darf man nicht globalisieren" oder: "In dieser Globalisierung stimmt das nicht.") Globalisierung warf man denen vor, die sich in einer komplexen Frage zu undifferenziert äußerten, Unterschiede und Grenzen verwischten. Dieser alte Sprachgebrauch sollte durch den neuen nicht einfach verdrängt werden. Womöglich enthält die Formulierung "Globale Wirtschaft verantwortlich gestalten" (das Schwerpunktthema dieser Synode) selbst eine contradictio in adjecto. Es könnte ja sein, dass Globalisierung selbst die Grenzen des Verantwortbaren überschreitet. Wenn Politik (eine ebenso böse wie wahre Beschreibung) die Kunst ist, eigene Interessen als allgemeine auszugeben oder zu universalen Sachzwängen zu erklären, dann wäre der Appell, globale Wirtschaft verantwortlich zu gestalten, bereits im Ansatz kritisch zu befragen. Wenn das aber nicht so sein muss oder wenn uns gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als es dennoch zu versuchen, dann wäre die Frage nach den einzuhaltenden Grenzen mit ins Zentrum der Überlegungen und Planungen, ins Zentrum der Praxis zu stellen. Im unmittelbaren Zusammenhang von Ökonomie und Recht – genauer: der Grenze zwischen beidem – kommt "Grenze" (gvul) in der hebräischen Bibel prägnant zu Wort.

Nicht sollst du verrücken die Grenze (gvul) deines Nächsten, die deine Vorfahren eingegrenzt haben (gavla) auf dem Erbbesitz, den du zum Erbe bekommst in dem Land, das dir Adonaj, dein Gott, zu eigen gibt!
So steht es in 5. Mose 19,14. Und im Buch der Sprüche (Prov 23,10) heißt es:
Verrücke nicht die Grenze (gvul), auf Dauer nicht (bzw. in anderer Lesart: Verrücke nicht die Grenze der Witwe), und dringe nicht ein in das Feld der Waisen!

Die Grenzen der personae miserae, für die hier die Witwen und Waisen stehen, sind besonders zu achten, weil sie selbst sie nicht ausreichend schützen können. Die Option für die Armen als vorrangiges Ziel menschlicher Arbeit an der Gerechtigkeit hat hier seinen biblischen Grund. Um die Arbeit an der Gerechtigkeit geht es dabei, keineswegs um die Herstellung der, gar der perfekten Gerechtigkeit.

Grenzenlose Gerechtigkeit ("infinite justice") kann nie und nimmer an biblischer Gerechtigkeit ausgerichtet sein. Grenzenlose Gerechtigkeit nämlich wird notwendig zum Terror, zum Terror der Tugend. Selbst Gottes Gerechtigkeit ist nicht grenzenlos. Gerade in Gott selbst, so lerne ich aus der Bibel und vor allem ihrer jüdischen Auslegung, gibt es den Konflikt zwischen Liebe und Gerechtigkeit und die Hoffnung, dass die Liebe die Gerechtigkeit überwinden möge. Die Warnung vor dem Projekt grenzenloser Gerechtigkeit lähmt die Arbeit an der Gerechtigkeit nicht. "Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben", so steht es im Buch der Sprüche (Prov 12, 28). Wo Weg, Gerechtigkeit und Leben aus diesem Zusammenhang gerissen werden, geht immer etwas Entscheidendes verloren. Dabei geht es um das Leben gerade derer, denen Recht und Gerechtigkeit verweigert werden. Der Schutz der von Ausbeutung und Bedrückung Bedrohten ist Gottesrecht, gerade weil er sich nicht im Kräftespiel der Gesellschaft, in den Regeln des Marktes, austariert. Dafür steht auch eine dritte Stelle, an der das Wort gvul (Grenze) vorkommt, nämlich in Hi 24,2 in einer Klage über die Mächtigen, deren Gewalt zur Anfrage an Gottes Macht wird:

Grenzen (gvulot) verrücken sie; sie rauben Herden und weiden sie selbst.

An all diesen Stellen geht es um das Bewahren von Grenzen gerade der Schwachen gegen räuberische Ausbeutung durch die Mächtigen und deren schrankenlose Erweiterung von Macht und Raum. Und auch dies gehört dazu: jesch-gvul – "Es gibt eine Grenze!", das ist der Name einer Gruppe der israelischen Friedensbewegung. Es gibt für sie eine geographische und eine moralische Grenze der Machtpolitik, eine Grenze auch gegen eine schrankenlose Ausweitung der jüdischen Siedlungen in palästinensischen Gebieten.

Von was für einer Grenze ist in Ps 104 die Rede, wenn es heißt: "Eine Grenze hast du ihnen bestimmt, daß sie die nicht überschreiten"? Der Psalm hat die Schöpfung zum Thema. Anders als in der bekannteren Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel kommt in diesem Psalm die Schöpfung als Konfliktgeschehen in den Blick. Wird in 1. Mose 1 die einst totale, globale Urflut durch Gottes souveränes Trennen und Benennen des Materials begrenzt, so donnert, so brüllt im Psalm Gott die Fluten an und verweist sie wie Gegner mit machtvollem Drohwort in ihre Schranken. Die Welt von Ps 104 ist eine bunte und von gegensätzlichen Lebensbedürfnissen bestimmte Welt. Nicht die heile Welt garantiert Gott, geschweige denn eine Welt, die sich als ganze den menschlichen Interessen oder gar den Interessen lediglich mancher Menschen fügt, wohl aber, dass sie nicht wieder ins Chaos versinkt. Damit das nicht geschieht, bedarf es der gegen die chaotische Flut ein für alle Male gesetzten Grenze. Innerhalb dieser Grenzen aber wird ein Leben in Verschiedenheit nicht nur möglich, es wird zum Grund des Schöpferlobs. Die bunte Welt ist keine heile Welt, und jeder Versuch, sie unter eine nur bestimmten Interessen folgende Ordnung zu zwingen, erzeugt statt globaler Ordnung universales Chaos. Der Versuch, den Himmel auf Erden herzustellen, hat in aller Regel eher eine Hölle bewirkt.

Was die Kategorie "Grenze" angeht, so beobachte ich bei mir und vielen meiner Generation eine Mentalitätsveränderung. Am Ende der 60er Jahre war es unsere Leitvorstellung, immer mehr Lebensbereiche aus dem Bunker des vorgeblich Unabänderlichen, das nun einmal so sei, zu befreien und Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Nicht nur aus der Universität wollten wir den Muff vertreiben, auch aus den Schulen und Kirchen, den Elternhäusern, der Presse, der Gesellschaft als ganzer. Alles Autoritäre sollte gestürzt werden, eine freie, wirklich demokratische Republik sollte entstehen (damals war das Wort "republikanisch" noch ein Ehrentitel); Ziel war ein zugleich fortschrittliches wie lustbetontes Leben. Ging es damals darum, Grenzen zu erweitern und zu überschreiten, so ist es in immer mehr Bereichen heute angesagt, Grenzen zu achten und auch Grenzen neu zu bestimmen. Gentechnologie, Apparatemedizin, pragmatischer, wenn nicht interessegeleiteter Definitionszugriff auf die Grenzen von Leben und Tod, Grenzenlosigkeit als Schamlosigkeit der Medien, die Grenzenlosigkeit globaler Ökonomie – die Stichworte mögen genügen. In der Wahrnehmung von Grenzen hat sich etwas geändert.

Erlauben sie mir noch eine Reminiszenz: In meiner Schulzeit hatte ich mir einen Aphorismus des großen Aufklärers und noch größeren Spötters Lichtenberg übers Bett gehängt: "Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird, aber soviel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll." Ich mag diesen Satz noch immer, aber auf eine beunruhigende Weise meldet sich da immer öfter auch die Gegenstimme: Ich kann freilich nicht sagen, dass es gut ist, wie es ist, aber ich fürchte, dass es schlechter werden wird, wenn es anders wird.

Neben die Frage, was zu tun sei, damit es gut wird, tritt immer stärker auch die andere, nämlich, was man lassen muss, damit es halbwegs gut bleibt. Die Grenzen des Wachstums zu akzeptieren, statt geradezu mythisch auf immerwährendes Wachstum zu setzen, mehr noch, Grenzen endlich zu ziehen gegenüber dem Immer-mehr, Immer-schneller, Immer-weiter wird zur Aufgabe. Zum "verantwortlichen Gestalten" gehört auch das, was zu unterlassen ist.

Eine bunte Welt bringt Psalm 104 zu Wort und ins Bild. Da gibt es Löwen und Wildesel, Vögel und Klippdachse. Sie alle dürfen leben in ihrer Weise. Hier muss weder der Löwe Stroh fressen, um seinen Betrag zum Frieden zu leisten, noch muss der Wildesel etwas Nützliches leisten, um leben zu dürfen. Ich lese das auch als eine Vision des Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen. Nicht die eine globalisierte Einheitswelt und -gesellschaft wäre dann zu wünschen – ich wünsche mir auch nicht die Einheitskirche. Stattdessen geht es um "die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen". Diese Formulierung steht in den "Minima Moralia" Theodor W. Adornos und ebenso die Fortsetzung, die in jeder Ökumene, der kirchlichen wie der größeren, der bewohnten Welt als ganzer, die bei jedem Versuch des Zusammenlebens in einem großen oder sehr großen Haus zu beherzigen ist. Man müsse, so Adorno (GS 4, 116) , "den besseren Zustand ... denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann". Zum Leben in versöhnter Verschiedenheit bedarf es der Grenzüberschreitungen wie der Einhaltung von Grenzen. Alles hängt davon ab, mit behutsamer Entschlossenheit wie entschlossener Behutsamkeit Grenzen zu überwinden und Grenzen zu achten und dabei vor allem die Grenzen zwischen den einen und den anderen Grenzen nicht zu verwischen.

Gibt es Kriterien der Unterscheidung zwischen den einen und den anderen Grenzen, denen, die zu überwinden, und denen, die einzuhalten oder gar neu zu erreichten sind? Die Bibel hat dafür kein Rezept, aber der 104. Psalm gibt einige Hinweise, auf die zu hören gut und im Wortsinn notwendig sein könnte. Was das Schöpfungshandeln Gottes betrifft, gibt es da nämlich eine Grundunterscheidung. Vieles ist in einem ganz bestimmten Sprachstil formuliert, nämlich mit Hilfe zeitunabhängiger Partizipien. Würde man das nachahmen, müsste man in V.2 und 3 etwa verdeutschen:

Ein in Licht wie in einen Mantel sich Hüllender ist Gott / ein den Himmel wie eine Zeltbahn Ausspannender / ein in den Wassern seine hohen Gemächer Zimmernder, / ein die Wolken zu seinem Wagen Bestimmender ...

Das alles tat Gott, das tut er, und das wird er tun. Der Lauf der Gestirne ist so beschrieben, die Versorgung der Lebewesen und vieles andere. Von diesem dauernden Tun unterschieden ist aber ein Schöpfungshandeln, das ein für alle Male Wirklichkeit gesetzt hat. Dieses Tun ist in der Sprachform eines Perfekt bezeichnet. Der Satz über die Grenze, die den Urwassern bestimmt ist, dass sie die nicht überschreiten, steht in dieser Sprachform. Hier geht es um ein einmaliges Tun, ein ein für alle Male Getanes. Die Balance zwischen den unterschiedlichen Lebensinteressen der Geschöpfe dagegen, das Leben in einer Welt, in der es Löwen und Wildesel, Menschen und den Leviathan gibt, ist nicht ein für alle Male gesetzt. Sie bedarf je neuer Gestaltung.

Was die Versorgung der Lebewesen angeht, so gibt es in Ps 104 etwas weiteres Wichtiges zu entdecken. Die Tiere bekommen ihre Speise von Gott unmittelbar, die Menschen bekommen dagegen die Rohstoffe, aus denen sie das für ihr Leben Wichtige in eigener Arbeit gestalten. Arbeit und Wirtschaften sind so als eine Grundbestimmung des Menschen formuliert. Dabei ist es bemerkenswert, dass die Arbeit zwar zuerst und vor allem dem Broterwerb dient (das Brot ist deshalb zweimal genannt), dass aber auch Freude und Schönheit (ins Bild gesetzt durch den Wein und das auch für kosmetische Zwecke wichtige Öl) Ziel von Arbeit sind. Nicht die Nützlichkeit ist das Hauptmerkmal der in diesem Psalm beschriebenen, besungenen, gelobten Welt. Vögel kommen in den Blick, weil sie schön singen, andere Tiere, weil sie die Welt bunt machen. Selbst die Vulkane und Erdbeben gehören (ich bin mir der Problematik bewusst) zur Ästhetik der Welt als Schöpfung Gottes. Die Globalität dieser Welt ist nicht das Ergebnis globaler Wirtschaft, und der Mensch ist nicht ihr Herr. Aber am Ende des Psalms kommt dann auf dramatische Weise doch der Mensch ins Zentrum:

Verschwänden doch die Sünder von der Erde, und Frevelnde möge es nicht mehr geben!

jittammu chatta'im min-ha'aräz urescha'im od enam

Sünder und Verbrecher – das können nur Menschen sein. Der Löwe, der von Gott seine Speise verlangt, ist kein Sünder, wenn er das Schaf tötet. Hier kommt der Mensch als der einzige potentielle Schädling in Gottes Schöpfung ins Bild. Er vermag das Gleichgewicht der bunten Welt nachhaltig zu stören, ja, wie wir heute wissen, sie zu vernichten. Aber enthält der Vers über diesen Realismus hinaus nicht auch eine furchtbare Sentenz – und sei es in der Form des Wunsches? Ist es nicht die Bitte um "Schädlingsbekämpfung"? Wie viel Gewalt steckt in diesem Vertilgungswunsch? (Verschwänden doch die Sünder von der Erde, und Frevelnde möge es nicht mehr geben!) Ist es nicht das Zeichen totalitärer Gesellschaften und Religionen (allemale im Plural!), die mit Vernichtung zu bedrohen, die sich den vorgeblich gottgewollten Regeln nicht fügen? Freilich: Der Beter sieht nicht etwa sich und die, die wie er denken, ausersehen, die Frevler zu vernichten. Das immerhin unterscheidet ihn von manchen historischen und gegenwärtigen selbsternannten Vollstreckern des Gotteswillens. Der Psalmenbeter wünscht sich die Bösen weg. Gewaltphantasie trotz allem? Die jüdischen AuslegerInnen haben darüber nachgedacht. Im Traktat Brachot (10a) des Babylonischen Talmud findet sich dazu eine Geschichte, die von Rabbi Meir handelt und mehr noch von seiner Frau Brurja:

In der Gegend des R. Meir gab es Verbrecher, die ihm Kummer bereiteten. Er betete deshalb, dass sie sterben möchten. Seine Frau hörte das Gebet und stellte ihn zur Rede: Meinst du etwa, dass dein Gebet durch den Psalmenvers gedeckt ist: "Mögen die Sünder von der Erde verschwinden!"? Du sollst nicht chatta'im – Sünder, sondern chata'im – Sünden lesen!

Der Unterschied liegt in der vollzogenen oder fehlenden Verdoppelung eines Konsonanten; die Verdoppelung wird im Bibeltext durch einen Punkt im Buchstaben Tet (+) ausgedrückt, doch wurde das entsprechende Punktsystem erst im Mittelalter hinzugefügt, so dass der Konsonantentext tatsächlich beide Verstehensmöglichkeiten zulässt.

Lies nicht chatta’im, sondern chata’im! So Brurja, die Frau des Rabbi Meir, die sich nicht nur an dieser Stelle als womöglich noch klügere Bibelleserin zeigt. Und was den zweiten Versteil angeht, fügte sie hinzu, so werden, wenn es keine Sünden mehr gibt, auch die Frevler nicht mehr sein. Er solle also darum beten, dass sich jene Menschen bekehren. Der Rabbi hörte auf seine Frau und, so schließt die schöne (zu schöne?) Geschichte, die Verbrecher kehrten um von ihrem Tun.

Ob die Lesart der Berurja die ursprüngliche Meinung des Psalms trifft? Ich weiß es nicht. Aber sie gehört zu seiner Lesegeschichte und so auch zu seinem Text. Folgt man der Brurja, so ginge es nicht um die Vertilgung der Sünder, sondern um ihre Konversion zu Nicht-mehr-Sündern. Das Entscheidende ist dabei: Es gibt eine Grenze zwischen "gut" und "böse". Es ist gefährlich, diese Grenze zu verwischen. Aber sie ist nicht die Grenze zwischen "den Guten" und "den Bösen". An der Unterscheidung dieser beiden Grenzen liegt alles – in Ps 104 und gerade in diesen Zeiten.

Liest man mit Brurja, wäre der Schluss des Psalms um seine Gewalt, nicht um seine Schärfe gebracht. Denn dass die Sonderstellung des Menschen in der Welt nicht darin besteht, dass die Welt für ihn und seine Interessen erschaffen wurde, sondern dass allein der Mensch sie gefährden kann – das bleibt auch in dieser Lesart. Eine Idylle ist dieser Psalm nicht, und sein "Halleluja" als allerletztes Wort wie das Gotteslob, das der ganze Psalm ist, dienen nicht der Verzuckerung dessen, was ist. Die bunte Welt ist keine "heile Welt" – es ist eine Welt, in der es reißende Löwen und Erdbeben gibt – es ist diese Welt als eine bunte Welt, eine Welt, in der viele und auch widerstreitenden Lebensbedürfnisse ihren Ort haben. Zu denken und zu hoffen ist eine Welt, zu arbeiten ist an einer Lebenswelt, in der man ohne Angst verschieden sein kann und in der gerade die Grenzen derer geschützt sind, die diesen Schutz nicht von sich aus bewirken können. Im Blick auf eine solche Lebenswelt bedarf es der Überwindung von Grenzen, es bedarf der respektierenden Einhaltung und auch der Aufrichtung von Grenzen, und es bedarf immer wieder der Unterscheidung zwischen den einen und den anderen Grenzen. Eins aber bleibt allemale zu beherzigen, wenn es darum zu tun ist, "globale Wirtschaft verantwortlich zu gestalten". Ich kann es nicht besser sagen als mit dem bereits genannten Namen einer Gruppe der Friedensbewegung in Israel: jesch-gvul – Es gibt eine Grenze!