Eröffnungsgottesdienst der 3. Tagung der 10. Synode der EKD

Propst Dr. Matthias Sens (3. Tagung der 10. Synode der EKD Magdeburg, 7. - 12. November 2004)

Liebe Schwestern und Brüder!

Niemand von uns lebt für sich selbst. Das ist doch eine Binsenweisheit. Wir sind Eltern und Kinder, Brüder und Schwestern, Enkel und Großeltern. Wir sind Magdeburger und Münchner, Deutsche und Polen, Europäer und Afrikaner. Wir sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Produzenten und Konsumenten, Akteure und Zuschauer. Wir sind Liebende und Geliebte, Schenkende und Beschenkte, Fragende und Antwortende.
Und wir sind das alles gern. Wir wollen das sein. Das ist unser Leben. Die Gemeinschaft ist uns wichtig, und die Liebe erst recht. Wenn wir nichts mehr von alledem wären, dann wären wir wirklich Niemand. Und wer will das schon sein: ein Niemand. Und  wir sind's ja auch nicht. Sondern wir sind Du und Ich, Mensch mit anderen Menschen zusammen. So hat uns Gott geschaffen. Gott sei Dank.

Andererseits, liebe Schwestern und Brüder, ist das wirklich so: Niemand von uns lebt sich selbst? Ist das nicht auch eine riesen Provokation? Wird da nicht unsere Freiheit angetastet? Denn das ist  doch ein Traum des modernen Menschen, ganz sich selbst zu leben. Ich muss mich verwirklichen können. Meine Wünsche und meine Interessen und meine Bedürfnisse müssen befriedigt werden. Wir sind das Zentrum der Welt, und von dem her ordnet sich alles andere.
In der DDR gab es die offizielle Losung „Vom Ich zum Wir“. Unter der Hand wurde schnell der Slogan draus: Vom Ich zum Wir – einmal hin und zurück. Ja, und da sind wir nun immer noch und immer wieder.

Wir können auch kaum übersehen, wie viel Einsamkeit es in unserer Gesellschaft im Leben und im Sterben gibt. Viele werden sagen: Ach wenn's doch nur so wäre: Keiner lebt für sich, und keiner stirbt für sich.  Aber wo sind denn die Menschen, an die ich mich halten kann? Wo sind die Menschen, die für mich da sind und für die ich da sein kann? Wo kann ich denn lieben, und wo bin ich geliebt? Und wer wird mir die Hand halten, wenn ich sterbe?

Keiner lebt sich selbst - Probleme damit durchziehen alle Bereiche des Lebens, in der Gesellschaft, in der internationalen Gemeinschaft, in der Einen Welt. Wer nimmt schon genug Rücksicht auf die anderen? Es ist doch mühsam, immer darauf  zu achten, wie sich die eigenen Planungen und Entscheidungen auf die anderen auswirken. Und wie selten ist uns wirklich bewusst, was unsere Art zu leben mit Menschen in anderen Teilen der Welt macht.

Wir fassen uns als Christinnen und Christen dabei kräftig an die eigene Nase. Denn wir merken es ja auch ständig: Es ist gar nicht so einfach, Kirche für andere zu sein.
Gerade das wird uns immer wieder beschäftigen, wenn wir bei unserer Tagung der Synode über das Miteinander der Generationen sprechen oder über die anderen Themen, die in der Kirche und in unserer Gesellschaft jetzt aktuell sind.

Der Apostel Paulus sagt im Römerbrief: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir nun leben oder sterben, wir gehören dem Herrn.
Paulus meint, hier liegt der Schlüssel für das Zusammenleben  unter Christen und als Menschen überhaupt.
Da werden nun aber keine neuen Forderungen aufgemacht, keine langen Listen von Grundsätzen und Regeln, die es einzuhalten gilt, keine immer neuen Bedingungen und gesetzlichen Verpflichtungen. Sondern unser Leben und unser Sterben wird mit Jesus in Verbindung gebracht, mit dem Sterben und mit dem Leben von Jesus.

Wir erinnern uns: Am Ende seines Lebens hat Jesus selbst die größte Einsamkeit erfahren, die man sich denken kann. Die Gemeinschaft, in der er gelebt hatte, war zerbrochen.  Seine Jünger waren auseinander gelaufen und geflohen. Und Gott gegenüber klagt Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Und das, nachdem er alles getan hatte, was man sich denken kann, um eine neue Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander zu begründen. Nun diese Verlassenheit.
 
Aber schon am Kreuz war das nicht das letzte Wort. Das Letzte, was Jesus sagt, ist: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ So stirbt er. Sein Leben und sein Sterben ganz Gott übergeben. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn – das hat Jesus selbst praktiziert, ganz ohne Abstriche und ganz vollkommen.
Das war bahnbrechend.

Und auch Gott hatte sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Er hat den toten Jesus zum Leben erweckt, zu seinem göttlichen Leben, zum ewigen Leben. Er hat damit auch alles das zu neuem Leben erweckt, was Jesus vorher im Gehorsam gegen Gott gesagt und getan hatte. Seine Worte sind nun für immer Worte des Lebens. Seine Taten, durch die er Menschen geheilt und befreit hat, sind Zeichen des Sieges über Sünde und Tod. Seine Gebete lassen für immer den Himmel offen stehen. Jeder hat nun Zugang zum Vater. Der Weg zum Leben ist frei.

Jesus zum Leben erweckt, mit allem, was er gesagt und getan hat. Das ist auch für uns der Beginn des neuen Lebens. Nun können auch wir mit unserem Leben und Sterben ihm gehören. Nun kommt er auch zu uns, und macht uns frei für ein Leben in neuer Gemeinschaft.

Der Apostel Paulus sagt: Jesus, zum Leben erweckt, ist Herr über Tote und Lebende. Worin besteht die Herrschaft Jesu? Nur wenige Zeilen nach unserem Abschnitt können wir es lesen: Das Reich Gottes, das ist Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist.

Liebe Schwestern und Brüder! Gerechtigkeit und Friede und Freude – das sind die großen Ziele der Herrschaft Jesu. Die prägen das Leben bei Gott, die prägen das Leben mit Jesus. Die machen unseren Glauben aus. Wir hoffen auf sie. Wir lassen sie nicht aus den Augen. Wir gehen unbeirrt auf sie zu. Wir beten für sie.  Mit ihnen kommt alles zu einem guten Ende.

Gerechtigkeit, Frieden und Freude – das sind auch große Themen unseres Alltags. Wir brauchen sie überall, bei uns zu Hause,  in unserer Gesellschaft, in der Völkergemeinschaft, in der Einen Welt.
Wir haben das große Thema der Friedensdekade in diesem Jahr im Ohr: Recht ströme wie Wasser.
Gerechtigkeit bleibt unser Thema. Wir lassen  uns von niemandem einreden, dass auch nur zeitweilig anderes wichtiger sein könnte für unser Leben, für unser Land, für unsere Welt.
Mit dem Frieden ist es nicht anders. Er ist jede Anstrengung wert. Jeder kleine Schritt zur Überwindung von Gewalt ist kostbar. Sei es nun zu Hause oder auf der Straße oder in den Krisengebieten unserer Erde.
Und Anderen eine Freude machen, das ist ein Lebenselexier, für jeden Einzelnen und für jede Gemeinschaft. Anderen beistehen, sie trösten und ermutigen, damit sie sich wieder freuen können.
Gerechtigkeit, Frieden, Freude – das sind klare Zeichen dafür, dass wir in einer neuen Gemeinschaft leben.

Liebe Schwestern und Brüder! Es gibt so vieles, was wir tun können. Es gibt so vieles, womit wir zeigen können, dass wir nicht uns selbst leben. Und wir vergessen dabei auch nicht unsere Grenzen. Wir wissen, dass wir mit all unseren Bemühungen die großen Ziele des Reiches Gottes nicht erreichen. Das ist ja auch gar nicht nötig. Wir bewegen uns ja nicht von uns aus und aus eigenen Kräften auf das Reich Gottes zu. Sondern Jesus kommt auf uns zu, holt uns ab und bringt uns auf den Weg. Er lässt unsere Hoffnung nicht untergehen.

Es ist ja auch nicht so, dass wir hier und jetzt möglichst viel an Frieden und Freude und Gerechtigkeit erreichen und erwirtschaften müssten, damit wenigstens etwas bleibt über unseren Tod hinaus.
Nein, es ist umgekehrt. Die ganze Fülle des Friedens und der Gerechtigkeit und der Freude liegt bei Jesus, in seinem Reich, in Gottes Ewigkeit. Und von dort her strahlt sie in unser Leben hinein, aus lauter Gnade und Güte. Von dort her hat das, was wir an Frieden erleben oder für ihn tun, bleibenden Wert. Von dort her erfahren wir Gerechtigkeit für unser eigenes Leben und können Wege der Gerechtigkeit gehen. Von dort her kommt Licht und Freude in unser Dasein, so dass wir schon  jetzt Gott die Ehre geben können. 

Ihr Lieben, aus der Fülle seines Lebens heraus ist Jesus Herr über unser Leben und Sterben. Deshalb gibt es keinen tieferen Trost als diesen: Ob wir nun leben oder sterben, wir gehören dem Herrn.
Wir sagen solche Sätze wohl nur leise und vorsichtig und in großer Demut. Und doch kann und darf es so sein: Wir gehen unsere Wege bei allem Ernst des Lebens in einer heiteren Gelassenheit des Glaubens. Und wir leben – bei allem bitteren Ernst des Sterbens – doch in einer gelassenen Heiterkeit der Hoffnung.

Amen.