Vom Himmel hoch, da komm ich her…

Robert Leicht

Morgenandacht im NDR

(Aus: J.S. Bach, Partita II für Violine solo, BWV 1004, Takte132, 2. Viertel – 145, 1. Viertel)

Die letzte Woche des alten Kirchenjahres neigt sich ihrem Ende zu – ein Neues Jahr beginnt: morgen! Am ersten Advent! Unser Todesgedenken, unsere Angst, Hoffnung und Traurigkeit kreisten in diesen morgendlichen Minuten die ganze Woche lang um Johann Sebastian Bachs Chaconne d-moll – einen Satz aus seiner zweiten Partita für Violine solo, in den er lauter Choralzitate eingeflochten hatte, die um das Thema „Tod und Auferstehung“ kreisten. Hörbar gemacht wurde uns diese geistlich-musikalische Montage durch das Hillard Ensemble und Christoph Poppen.
Doch mitten in diesem Totentanz auf das Sterben seiner Frau Maria Barbara geschieht nun etwas ganz Überraschendes: die Tonart schlägt in einem Mittelteil um von d-moll um nach D-Dur – und in dem Klangteppich scheint, verborgen noch zunächst: Adventsmusik auf; wir hörten gerade den Anfang dieses Mittelteils. „Wie soll ich Dich empfangen und wie begegn ich Dir...“ Aber nun ein kleines Wunder: In seinem Weihnachtsoratorium, vierzehn Jahre später, in der ersten Kantate, wird Bach den nämlichen Choral singen lassen – freilich nicht auf die ursprüngliche Melodie des Liedes, sondern auf die Melodie das Passionschorals „O Haupt voll Blut und Wunden“ in seiner Molltonart. „Dein Zion streut dir Palmen“, dieser Satz aus dem Adventslied, aus dem Lied auf die erste Ankunft, spielt nämlich an auf Jesu letzte Ankunft in Jerusalem. Erst die Palmen –  dann das Kreuz.
Und das Wunder? Schon 1720, in der Trauermusik der Chaconne, lässt Bach das Adventslied „Wie soll ich dich empfangen“ auf die Melodie des Passionschorals „O Haupt voll Blut und Wunden“ anklingen – freilich damals nach Dur gewendet. Ob wohl Bach damals im Auge hatte, was mir erst beim Studium für diese Andachten aufgegangen ist? Dass nämlich das Kopfmotiv des Passionslieds identisch ist mit dem Kopfmotiv des zweiten Teiles des Adventsliedes?
Einmal moll, einmal Dur – einmal Passions-, dann Adventszeit: Erst das Sterben, dann das Leben – ob in Bachs geistlicher Musik oder in der christlichen Theologie und Glaubenserfahrung: Der Tod hat ein schweres, aber nicht das letzte Wort. „Den Tod niemand zwingen kunnt!“ Das ist letztlich seit Ostern ein Imperfekt – also: vollendete Vergangenheit. Und die Adventszeit kündigt den Einbruch des wirklichen Lebens in unsere scheinbar nur vom Tod gekennzeichnete Welt an. „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, dieses Luther-Lied („der will euch führn aus aller Not“) reißt uns heraus aus aller Todesgefangenschaft und Trauer, so wie dies auch Johann Sebastian Bach widerfuhr, als er dieses Lied von einer rettenden Ankunft in die Trauermusik auf seine Frau einflocht:

Vom Himmel hoch, da komm ich her,
Ich bring euch gute neue Mär;
Der guten Mär bring ich so viel,
Davon ich singn und sagen will.

(Aus: J.S. Bach, Partita II für Violine solo, BWV 1004, Takte152 – 177, 1. Viertel)