Predigtmeditation zu Hiob 14, 1-6 (7-14) 15-17

von Annette Kurschus, Stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Eine Bauernfamilie beim Mittagessen in der Nähe von Gowarczów, auf dem Tisch gekochte Kartoffeln mit Milch.
Ein Offizier streichelt ein Kätzchen. Ein Mann in Uniform liegt am Boden. Tot an- scheinend. Zwei Frauen am Spinnrad. Fliehende Menschen auf Pferdekarren. Militärfahrzeuge in Kolonnen. Soldaten planschen im See. Das sind nur einige der Bilder, die der Wehrmachtssoldat Kurt Seeliger im September 1939 in Polen aufnahm. Im Rahmen einer digitalen Fotoausstellung, von der Bildungs- und Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ als Zeitzeugnisse kuratiert, waren sie in diesem Jahr zu sehen. Es sind Momentaufnahmen,  entstanden im Morgengrauen des Zweiten Weltkrieges, der mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 begann. Sie schillern trügerisch zwischen Alltagsidyll und dem Schrecken des heraufziehenden Krieges, der Millionen Menschenleben kosten wird.

„Stirbt der Mensch, so ist er dahin!“ (V.10) Es sind nüchterne Worte, mit denen Hiob auf das Leben des Menschen blickt. Sein Name ist zum Inbegriff himmelschreienden Leids geworden. Wie die Familie über Kartoffeln und Milch und die Frauen am Spinnrad hatte Hiob erfahren, wie sich das Leben wenden kann, plötzlich und unerwartet, ohne eigenes Dazutun und Dafürkönnen. Hiob, gesegnet mit Ansehen und Wohlstand, mit Frau und Kindern, verliert beinahe alles. Die Knechte und Mägde ermordet, Vieh und Vermögen verbrannt, die Kinder sterben in den Trümmern seines Hauses. Er selbst erkrankt schwer. Übersät mit Geschwüren vom Scheitel bis zur Sohle. Nur einige Freunde halten es bei ihm aus und seine Frau. Doch auch ihr stinkt allmählich sein kranker Atem (Hi 19,25) und nicht nur der. Immerhin war sein Schicksal auch ihres.

Hiob verflucht sein Leben, geht hart ins Gericht mit Gott. Entschieden, aufmüpfig und scharf wie selten wird im Hiobbuch die Klage vor Gott zur Anklage und Anfrage Gottes selbst. Wie kannst du nur? Oder kannst du nicht anders? So viele haben ähnlich gefragt und geklagt, in den Kellern und Schützengräben, verwaist und verwitwet, und tun es auch heute. Es ist eine Grundfrage menschlicher Existenz, die Tertullian im 2. Jahrhundert nach Christus in sein schlichtes „unde malum“ kleidet. Sie ist ewig. Und ewig un- gelöst. Wie kommt das Böse in seinen immer neuen Spielarten in die Welt? Und wie steht es um das Verhältnis zwischen Gott und Mensch angesichts des nächtlichen Bombenangriffs von Wieluń und der Gräuel, die folgen würden? Nicht wenige haben darüber ihren Glauben verloren.

Anders Hiob. Er hält stöhnend und wütend an ihm fest. Überzeugt davon, dass Gott unbedingt und unmittelbar mit seinem Leid zu tun hat, entlässt er ihn weder in den Unglauben noch aus der Pflicht. Durch sein unnachgiebig bohrendes Warum zieht und zwingt Hiob ihn hinein in die Leidensgemeinschaft mit sich selbst. Er führt ihm vor, wie sich das Leben in seiner Haut anfühlt: voll Leid und Unruhe geht es dahin, bis es welkt und flieht wie ein belangloser Schatten. Gott setzt die Frist (V.1-5). Selbst ein Baum ist besser dran, wettert Hiob: abgehauen, sprießt er neu, alte Wurzeln und tote Stümpfe keimen auf „vom Geruch des Wassers“ (V.9). Wie anders der Mensch? „Stirbt er, so ist er dahin“ (V.10).

„Wende deinen Blick von ihm“ (V.6), fleht Hiob, anders kann er nicht Ruhe und seine Freude am Leben wiederfinden. Wende dich doch endlich ab! Das ist unerhört: Nicht die Ferne Gottes ist es, die Hiob beklagt, sondern ausgerechnet seine Nähe, seine quälende und bedrückende Nähe. Sie sei es, die sein Schicksal bedingt. Hier versagt jede Lyrik vom „lieben Gott“, die ihn mild und großväterlich zeichnet und gerade dadurch dem Leid gegenüber sprachlos macht. In Hiobs Welt ist Gott mehr und anders, ja erschreckend anders, als erwartet und gedacht. Das Böse ist Gott überlassen, nicht sich selbst! Hiob gibt ihm klagend Raum, diesem Gott in seiner Andersheit. So (und nur so) können beide in Beziehung bleiben, so (und nur so) kann Hiob weiter mit ihm streiten und gegen ihn, sich auflehnen und auf Antwort warten.

Wende deinen Blick doch ab! Immerhin: Hiob traut Gott zu, seine Not zu wenden – und sei es dadurch, dass er sich von ihm abwendet. Es bleibt ein unerfüllter Wunsch. Denn Gott bleibt ihm. Gott zieht sich nicht zurück aus dem Jammern und Klagen, dem Seufzen und Stöhnen der Hiobswelt, sondern begegnet ihm darin auf Schritt und Tritt – auch wenn die Antworten auf seine Fragen ausbleiben.

Wie anders könnte es doch sein, sinniert Hiob und schlägt nach seiner wütenden Gottesschelte plötzlich leise, beinahe zärtliche Töne an (V.13-17), wie anders könnte es sein zwischen uns, Gott und Mensch? Könntest mich bergen im Reich der Scheol, solange dein Wüten dauert, mich verwahren im Reich der Abgeschiedenen, bis dein Zorn sich legt! Würdest meine Schritte zählen und meine Schuld übermalen. Wenn nicht du, wer sonst? Meinst du, einer der stirbt, kann wieder leben?

Ich staune, wie hautnah Hiobs Leiden dem Sterben Jesu an dieser Stelle kommt und wie sich hier hauchzart eine österliche Lebensahnung in seine Welt schleicht. Mag es sein, dass Gott, der anscheinend so teilnahmslos Schweigende, sich gerade in dieser leisen Ahnung so gewaltig zu Wort meldet? Mag es sein, dass Gott, der so entsetzlich Ferne und doch so bedrückend Nahe, in Hiobswelt dem Bösen gerade deshalb so verbunden scheint, weil er es so fest umschlingt und würgt, mit ihm ringt und kämpft, um es endlich niederzustrecken und endgültig tot zu kriegen? Der Ostermorgen Jahrhunderte später wird dies ans Licht bringen: der sich gesehnt hat nach dem Werk seiner Hände (V.15), wird es nicht preisgeben. Nicht eines.

Es bleibt wahr: Hiobs Kinder kehren aus den Trümmern nicht in Mutters Arme zurück. Und wer weiß, was aus ihnen geworden ist – dem Mann mit dem Kätzchen, den Frauen am Spinnrad und den badenden Soldaten. 80 Jahre später haben wir ihrer in Warschau gedacht, deutsche und polnische Christenmenschen. Mit unseren je eigenen Kulturen der Erinnerung konnten Leid und Schuld Ausdruck finden, ebenso das dankbare Staunen über die Schritte zur Versöhnung, die wir seither gehen konnten. Immer braucht es Zeit, manchmal viel davon, um zwischen dem himmelschreienden Leid und der stummen Klage jene Lebensahnung Hiobs wieder zu spüren und Gottes Antwort auf die Spur zu kommen. Und wir waren uns einig: diese kostbare Antwort will verantwortet sein – im Interesse der deutsch-polnischen Freundschaft und eines versöhnten Europa.

 

Die digitale Foto Ausstellung und weitere private Aufnahmen und Dokumente dieses Krieges werden hier gezeigt: https://onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger/


Aus: „Handreichung zum Gestalten von Gedenkveranstaltungen“ zum Volkstrauertag