Ratsbericht - Mündlicher Teil (A)

6. Tagung der 12. Synode der EKD 2019 in Dresden

Vorsitzender des Rates der EKD, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm

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Es gilt das gesprochene Wort

„…aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen“ (Apg 1,7).
Vom Warten auf Gottes Kairos in unserer Zeit
 

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Anruf hat mir kürzlich gezeigt, welche Kraft das Netzwerk Kirche hat. Der Anruf kam vom neuen Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer. Es war am Tag nach dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle. Ich leitete in meiner Funktion als Sprecher gerade die halbjährliche Plenumssitzung des Bayerischen Bündnisses für Toleranz. Der mitteldeutsche Landesbischof machte einen Vorschlag, den ich sofort noch in die Sitzung des Bündnisses einbringen konnte: Überall in Deutschland sollten Menschen am darauffolgenden Tag dem Beispiel in Halle folgen und zu Beginn des Sabbatgottesdienstes eine Menschenkette um die Synagoge bilden, um die Synagoge symbolisch zu schützen.

Unser Bayerisches Bündnis für Toleranz beschloss spontan, sich zu beteiligen. Vor Beginn des Sabbatgottesdienstes hielten wir am nächsten Tag dann tatsächlich eine Kundgebung vor der Synagoge ab, bei der auch die Landtagspräsidentin sprach, um dann zusammen mit einer großen Menge von Menschen, darunter Minister, Abgeordnete, Religionsvertreter und viele bekannte Gesichter aus der Zivilgesellschaft, die Menschenkette zu bilden. In ganz Bayern und in ganz Deutschland, und natürlich in Halle selbst, fanden ähnliche Aktionen statt. Josef Schuster hat nach Halle festgestellt, dass er sich an keine vergleichbare Solidarität in Deutschland nach antisemitischen Angriffen erinnern könne.

Wir haben an diesem Tag unsere Trauer und unser Erschrecken zum Ausdruck gebracht. Die Trauer galt den beiden Menschen, die von dem Täter erschossen wurden. Dass er eines seiner Opfer in einem Döner-Stand suchte, deutet darauf hin, dass seine menschenfeindliche Einstellung sich auch gegen Muslime richtete. Die Jüdinnen und Juden, die in der Synagoge von Halle den Yom-Kippur-Tag feierten, blieben nur durch eine beherzte Verbarrikadierung der Tür von einem Blutbad verschont.

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Wir haben vor den Synagogen in München und vielen anderen Orten unsere tiefe Verbundenheit mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern zum Ausdruck gebracht. Aber das war nicht nur eine Gefühlsäußerung. Es war und ist verbunden mit einer Verpflichtung, die wir eingegangen sind: Wir werden in unserem Alltag aktiv für die Menschenwürde eintreten und gegen Rassismus und Antisemitismus eintreten. Und überall Kontra geben, wo ganze Menschengruppen wegen ihrer Herkunft, wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert werden. Nicht zuletzt deswegen hat der Rat der EKD den Berliner Theologen Christian Staffa zum Antisemitismusbeauftragten berufen. Christian Staffa ist seit langem engagiert in den Themenfeldern Antisemitismus und Demokratiekultur sowie im christlich-jüdischen Dialog.

Und ich wiederhole, was ich an jenem Tag vor der Synagoge am Münchner Jakobsplatz gesagt habe: Wir werden die zur Rede stellen, die Rechtsradikalen Deckung geben, auch dann, wenn sie selbst nicht so denken. Wenn im Bundestag und im Landtag vertretene Parteien rechtsradikale Ideen in ihren Reihen dulden, dann disqualifizieren sie sich im demokratischen Diskurs. Wir werden nie zuschauen, wenn solche Einstellungen in unserem Land salonfähig werden. Juden, Christen, Muslime, Humanisten und Menschen anderer Überzeugungen - wir werden alle gemeinsam aktiv eintreten für unsere Demokratie und die Menschenwürde, der die Demokratie verpflichtet ist!

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I. Zur geistlichen Situation der Kirche

Liebe Schwestern und Brüder, das Evangelium und die Kirche, die es weitergibt, hat auch heute viel mehr Kraft als wir es selbst manchmal glauben. Das sollten wir in der Zukunft noch viel besser zeigen, darauf auch mal stolz sein, diese Kraft des Evangeliums selbst ausstrahlen!

Denn ich bin davon überzeugt, dass vor allem eine geistliche Herausforderung vor uns liegt. Gerade wer den Hinweis auf das Wirken Gottes und die Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten nicht als Beruhigung gegenüber den Indikatoren einer kleiner werdenden Kirche sieht, wird den Zusammenhang zwischen Gottes Wirken und menschlichem Wirken neu zu verstehen suchen.

a) Kairos und Chronos – zur Weisheit aller Kirchenreform

Der vielversprechendste Weg dazu ist ein Blick auf die biblischen Wachstumsgleichnisse. Ihr tiefster Sinn ist die Vermittlung von Gottvertrauen angesichts der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten. Die Natur wird zum Bild dafür, dass der Mensch zwar etwas tun kann, der Erfolg aber letztlich Gottes Werk bleibt.

Das Himmelreich, so sagt Jesus nach dem Zeugnis des Markusevangeliums, gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte. Das Senfkorn ist das kleinste unter allen Samenkörnern; wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum, dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen (Mk 4,30-32). Eigentlich ist es gegen jede Vernunft, zu erwarten, was da passiert. Wer ohne Vorwissen auf ein Senfkorn schaut, würde es nicht glauben, wenn jemand ihm vorhersagen würde, dass daraus ein Baum werden könnte, so groß, dass Vögel darin wohnen können. Und doch ist es so. Das Bildmaterial aus der Natur lenkt den Blick auf die Erfahrungen in der Welt, die zeigen: manchmal kann aus etwas Kleinem etwas ganz Großes entstehen. Nicht nur in der Natur ist es so. Auch in der Welt lassen sich dafür viele Beispiele finden. Auf eines dieser Beispiele, die friedliche Revolution in der DDR, werde ich gleich noch eingehen.

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Dass aus ganz Kleinem Großes werden kann, ist der eine Hinweis, den die Bibel uns in unseren Fragen nach der Zukunft der Kirche gibt. Darum sollten wir – gerade wenn wir notwendige Reformbemühungen bekräftigen – zugleich viel selbstbewusster darstellen und erzählen, wieviel Segensreiches tagtäglich schon jetzt nur dadurch möglich wird, dass es die Kirchen gibt:

Jeden Tag wird in den Gemeinden und Einrichtungen überall in Deutschland getröstet und Mut zugesprochen. Jeden Tag wird überall in Deutschland jungen Menschen im Konfirmandenunterricht und im Religionsunterricht Orientierung gegeben. Jeden Tag steht die Diakonie überall in Deutschland den Schwachen und Verletzlichen bei. Jeden Tag sind Pfarrerinnen und Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeitende, Hauptamtliche wie Ehrenamtliche, manchmal nicht nur tagsüber, sondern auch nachts, ansprechbar und im Einsatz, ohne auf ihre Arbeitsstunden zu schauen. Jeden Sonntag und oft auch an anderen Tagen wird überall in Deutschland in Gottesdiensten und Predigten Kraft und Orientierung gegeben. Jeden Tag singen irgendwo in Deutschland Menschen in den kirchlichen Chören und gehen danach froh wieder nach Hause, und wenn sie Konzerte geben, öffnen sie für viele andere den Himmel. Jeden Tag erwächst viel Segen aus dem Engagement der Menschen in der Kirche.

Und dennoch brauchen wir Veränderung. In welchem Geist wir auf sie zugehen, darauf bezieht sich ein anderer Hinweis der Bibel. Er nimmt die Frage in den Blick, was der Mensch machen kann und was nicht:

Es gibt eine Szene in der Apostelgeschichte des Lukas, die von einem Kairos spricht, von einem besonderen Gottesmoment also. Die Jünger, die mit Jesus zusammengekommen sind, fragen ihn: Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel? Und Jesus sagt zu ihnen: Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat; aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ (Apg 1,7). Das sind nach dem Bericht der Apostelgeschichte die letzten Worte Jesu vor seiner Himmelfahrt und der Beginn einer ungeahnten Ausbreitung des Glaubens.

Die beiden griechischen Worte, die hier für „Zeit und Stunde“ verwendet werden, chronos und kairos, geben einen wichtigen Hinweis: es gibt bestimmte Momente in der Zeit, im chronos, in denen etwas gelingt, ohne dass wir es erwarten, in denen viel Arbeit und Mühe plötzlich Früchte trägt, in denen sich etwas Neues entwickelt, das nicht einfach aus dem Alten abgeleitet werden kann.

Für uns als Kirche heißt das: Warten lernen auf solche Kairos-Momente. Um es mit einem Wort Dietrich Bonhoeffers zu sagen: Neben dem Beten und dem Tun des Gerechten, Warten lernen auf Gottes Zeit. Niemand sollte Aktivität und Kontemplation gegeneinander ausspielen. Aber die größere Herausforderung, der wir als Kirche heute gegenüberstehen, ist nicht, dass wir zu wenig tun, sondern dass wir zu wenig hören, auf Gott hören, seinen Wegen nachspüren und unser Tun darauf ausrichten, den Erfolg unseres Tuns in seine Hand legen. Dass wir den Glauben wachsen lassen und die Liebe, die daraus kommt, in uns spüren und dann auch ausstrahlen, darum geht es.

Gott gibt nicht nur Wachsen und Gedeihen, sondern auch den rechten Augenblick zum Aufblühen. Und darauf zu achten, das ist klug. Denn nie wiederholt sich etwas einfach. Ein Vorschlag, der in der einen Zeit nicht funktioniert hat, kann in einer anderen Zeit Erfolg haben. Und die handelnden Personen können in der einen Zeit ins Leere laufen und in einer anderen Zeit den richtigen Moment, den Kairos erwischen. Die Erfahrung zeigt, dass nicht nur wir die Zukunft beeinflussen, sondern darin auch noch ein anderer wirkt, der macht, dass die Saat wächst, während wir schlafen und aufstehen. Manchmal muss man lange warten, aber es gilt ja die alte Weisheit: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht!

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b) Unverzagt und mit Augenmaß

Liebe Geschwister,

als Kirche die Glaubwürdigkeit des Evangeliums im konkreten Handeln ins Licht zu stellen, das spielt auch bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unserer Kirche eine zentrale Rolle. Bei der letzten Tagung der EKD-Synode haben wir einen 11-Punkte-Plan verabschiedet, der jetzt Punkt für Punkt abgearbeitet wird. Wir werden bei dieser Synodentagung davon hören.  Diesmal kommen die von sexualisierter Gewalt Betroffenen auch im Plenum und in den anschließenden Workshops selbst zu Wort. Jeder Fall sexualisierter Gewalt ist eine offene Wunde in der Gemeinschaft der Kirche. Dass Leben zerstört wird, wo es doch geschützt und bewahrt werden sollte, ist der tiefste Widerspruch, den man sich vorstellen kann. Es ist deswegen gut, dass wir uns übermorgen einen ganzen Vormittag Zeit nehmen werden, um über dieses Thema zu reden und hoffentlich daraus weitere Hinweise für einen verantwortungsvollen Umgang damit gewinnen. Schon jetzt danke ich Bischöfin Kirsten Fehrs und dem ganzen Beauftragtenrat für ihren ungeheuren Einsatz im gesamten vergangenen Jahr!

Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit sind auch gefordert, wenn es darum geht, die richtigen Antworten auf das zu finden, was die Anfang Mai veröffentlichte Studie von Forschern der Universität Freiburg ergeben hat. Die Zahlen der Freiburger Forscher prognostizieren bei Fortschreibung der gegenwärtigen Trends einen Rückgang der Zahl der Kirchenmitglieder um rund 50 Prozent bis 2060. Ein Teil dieses Rückgangs ist demographischen Veränderungen geschuldet, die feststehen. Die Menschen, die 2060 39 Jahre alt sein werden, sind schon geboren. Ein weiterer Teil hat mit gesellschaftlichen Großtrends zu tun, die nur schwer zu beeinflussen sind, etwa, dass die Menschen nicht mehr aus Zwang oder Konvention Gemeinschaften angehören, sondern sich frei dafür entscheiden (und das bejahe ich ausdrücklich!).

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Darüber hinaus bleibt aber ein weites Feld, auf dem wir Menschen für die Kirche gewinnen oder zurückgewinnen können. Dazu braucht es drei Dinge:

Erstens den selbstkritischen Blick auf unser gegenwärtiges kirchliches Handeln und die Strukturen, die es prägen. Wo stehen wir dem Evangelium selbst im Weg? Haben wir die nächste Generation ausreichend beteiligt? Wie staatsanalog sind wir noch? Wie können wir eine „Kirche mit leichtem Gepäck“ werden?

Zweitens eine konsequente Ausrichtung unseres kirchlichen Handelns auf das Ziel, dass Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche das Evangelium hören und die Liebe Gottes erfahren und daraus Kraft und Orientierung gewinnen können. Nicht die Menschen müssen sich an unsere gewachsenen Strukturen anpassen, sondern wir müssen unsere Strukturen so verändern, dass sie bestmöglich den Menschen dienen.

Und drittens eine geistliche Erneuerung als Basis dafür, dass wir die im Glauben gegründete Liebe und Hoffnung, von der wir sprechen, selbst ausstrahlen. Das gilt für die Kirchenleitung genauso wie für alle Glieder der Kirche. Überall in Deutschland haben sich Christinnen und Christen auf den Weg gemacht, die im Evangelium gegründete Ausstrahlungskraft unserer Kirche für die Zukunft so nachhaltig wie möglich zu stärken. Denn die Zukunft der Kirche entscheidet sich nicht an ihren Mitgliedschaftszahlen, sondern an ihrer im Evangelium gegründeten Ausstrahlungskraft. Alle gemeinsam sind wir Kirche und werden mit fröhlichem Gottvertrauen die Zukunft gestalten.

Zukunftsprozesse haben natürlich die Aufgabe, Veränderungen anzustoßen, um tatsächlichen Herausforderungen zu begegnen. Aber sie haben auch die Aufgabe, sichtbar zu machen, was schon jetzt genau in die richtige Richtung läuft, und diejenigen zu ermutigen, die diese Richtung einschlagen. Das einmal neu deutlich zu machen, könnte vielleicht auch diejenigen ins Boot holen, die solchen Zukunftsprozessen vor allem deswegen skeptisch gegenüberstehen, weil sie ihre eigene, schon bestehende gute Arbeit durch das entsprechende Reformpathos abgewertet fühlen. Es ist ja richtig, dass es an vielen Orten in Deutschland schon jetzt Aufbrüche gibt, die Mut machen. Oft haben sie mit besonders überzeugenden Personen zu tun. Oft sind es aber einfach gute Ideen, die auch anderswo aufgegriffen werden können. Und wir können uns nicht leisten, solche Ideen nicht aufzugreifen.

Wir werden übermorgen von der Arbeit des Z-Teams hören. Z-Team, das ist die von der Synode eingesetzte Arbeitsgruppe zur „Zukunft auf gutem Grund“ – die sich mit den Kernerfahrungen des Reformationsjubiläums und der verschiedenen Zukunftsprozesse in den Landeskirchen und bei der EKD beschäftigen soll. Dass das Hören auf die Bibel in dem Bericht über unsere bisherige Arbeit des Z-Teams eine wichtige Rolle spielen wird, ist eine bewusste Schwerpunktsetzung.

Die Haltung aber, die allem Nachdenken zugrunde lag, ist Vertrauen, Zuversicht und Unverzagtheit. Präziser gesagt: Das Vertrauen in Christus.

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass direkt nach den Wachstumsgleichnissen im 4. Kapitel des Markusevangeliums die Geschichte von der Stillung des Sturmes steht. Sie spricht direkt in eine immer wieder von Untergangsszenarien irritierte oder gar verängstigte Kirche hinein. Während sich auf dem See ein großer Windwirbel erhebt, und die Wellen in das Boot schlagen, in dem Jesus und die Jünger sich befinden, sodass das Boot schon voll wird, schläft Jesus. Und sie weckten ihn auf und sagen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? So wie wir in unseren ängstlicheren Stunden als haupt- oder ehrenamtlich Mitarbeitende in der Kirche vielleicht manchmal auch fragen: Meister, wir strampeln uns ab. Wir verbringen ganze Tage und Nächte, um die richtigen Konzepte für einen Aufbruch in der Kirche zu entwickeln. Und trotzdem steigen die Kirchenaustrittszahlen! Fragst du nicht nach der Zukunft deiner Kirche? Aber Jesus steht auf und bedroht den Wind und spricht zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legt sich und es kommt eine große Stille. Und er sagt nur: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?

Diese Basis muss immer wieder sichtbar werden, wenn wir uns heute über die Zukunft der Kirche Gedanken machen. Wir sind mitunter zu fixiert auf das vermeintlich Machbare und auf die Strategien, die das Machbare möglich machen. Glauben und Vertrauen verfolgen keinen Zweck. Das sollte wieder in den Vordergrund treten. Glauben leben und Liebe üben – das ist der zwecklose Zweck, die absichtslose Absicht des Glaubens, zu dem wir gerufen sind. Relevanz, Resonanz, Mitgliederbindung sind nie einfach nur quantitative, sondern immer auch qualitative Begriffe.  Ihre Bedeutung gründet sich auf die Existenz im Glauben und in der Liebe. Denn wenn man den Glauben um Gottes Willen lebt und fröhlich gestaltet, kann man den Martin Luther zugeschriebenen Satz verstehen: „Arbeitet als würde alles Beten nichts nützen; und betet als würde alles Arbeiten nichts nützen!“

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c) Frömmigkeit und Praxis - Lernen von den ostdeutschen Kirchen

Immer wieder habe ich in den letzten Monaten gemerkt, wie sehr es Erfahrungen aus den ostdeutschen Kirchen sind, die mir wichtige Hinweise für eine aus dem Vertrauen lebende, ausstrahlungsstarke Kirche der Zukunft geben. Als Ratsvorsitzender der EKD habe ich in den letzten Jahren zahlreiche Gemeinden in Ostdeutschland besucht und mit ihnen Gottesdienst gefeiert. Mit einer Serie von Besuchen in den ostdeutschen Kirchen hat der Rat der EKD insgesamt in diesem Sommer hier einen besonderen Schwerpunkt gesetzt. Und als bayerischer Landesbischof habe ich bei unseren jährlichen Begegnungen mit unserer mecklenburgischen Partnerkirche intensive Einblicke in das kirchliche Leben in einem gesellschaftlichen Umfeld gewonnen, das sich von dem volkskirchlichen bayerischen Umfeld grundlegend unterscheidet.

Jedes Mal bin ich von diesen Begegnungen nicht mit weniger, sondern mit mehr Hoffnung wieder nach Hause gefahren. Und vielleicht ist es gerade jetzt wichtig, das zu sagen, da die Geschwister in der sächsischen Kirche nach dem Rücktritt ihres Landesbischofs durch eine schwere Zeit gehen. Liebe Brüder und Schwestern hier in Sachsen, danke für Euren besonnenen Umgang mit dieser Situation! In Eurem Bemühen, die entstandenen Gräben wieder zu überwinden, habt Ihr unsere volle Solidarität und unseren Beistand im Gebet!

Was mich bei meinen Begegnungen in den ostdeutschen Gemeinden oft inspiriert, ist eine glaubensgewisse Selbstverständlichkeit beim Umgang mit Situationen, die aus dem Umfeld, das mir eher vertraut ist, als eigentlich nicht mehr handhabbar gelten würden. Manchmal – da gibt es nichts zu beschönigen - ist es auch einfach aufrechtes Bekennen in einer weitgehend skeptischen oder sogar feindlichen Umwelt, das ich wahrgenommen habe, wo die Zahl der Christen klein ist und der Wind den Christen ins Gesicht bläst.

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Vor allem aber habe ich Menschen erlebt, die fröhlich und selbstbewusst ihren Glauben leben. Etwa beim regionalen Kirchentag in Freyburg an der Unstrut, in der Nähe von Naumburg in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Am Vorabend des Gottesdienstes saß ich mit Kirchenvorstehern und hauptamtlichen Mitarbeitern zum Abendessen im Pfarrgarten in Laucha zusammen. Die Pfarrerin ist neben der Kleinstadt Laucha auch noch für 13 Dörfer darum herum verantwortlich. Viele der Pfarrerinnen und Pfarrer im Kirchenbezirk haben mehr als zehn Predigtstellen zu versorgen. An dem Abend begegnete ich Ehrenamtlichen, die selbstbewusst Leitungsverantwortung ausüben, einer Pfarrerin, die durch ihre engagierte und liebevolle Arbeit weit über die Gemeindegrenzen hinaus eine der prägenden öffentlichen Persönlichkeiten ist, und einem Kantor, der durch kostenlosen Musikunterricht für alle Kinder, die im Kirchenchor singen, viele neu für die Kirche interessiert. Am nächsten Morgen durfte ich in der Freyburger St. Marienkirche 12 Menschen taufen, davon 7 Erwachsene. Es war ein fröhlicher Gottesdienst mit vielen Kindern und jungen Eltern. Und wer mehr über die Arbeit dort erfahren möchte, braucht nur das neue Chrismon-Heft zu 30 Jahren Mauerfall zu lesen, in dem auch eine Reportage über die Gemeinde in Laucha enthalten ist.

Immer wieder habe ich eine Kirche erlebt, die bei Mitgliedschaftszahlen von 10-15 Prozent ausstrahlungsstark öffentliche Kirche ist. Sie ist es, weil sie beherzt „Kirche mit anderen“ ist, weil sie öffentlich wahrgenommen wird als Institution, die sich nicht nur um sich selbst dreht, sondern für das Gemeinwesen engagiert. Die politisch Verantwortlichen wenden sich an sie, weil sie dringend auf Bündnispartner in der Zivilgesellschaft angewiesen sind, die nicht nur ihre eigenen Verbandsinteressen vertreten, sondern sich anrühren lassen von der Not von Menschen, die sich um die gemeinsame Zukunft sorgen und bei allen manchmal fast nicht lösbar scheinenden Problemen Hoffnung ausstrahlen.

Genau eine solche Kirche wollen wir sein. Eine Kirche des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Dass sie eigentlich unmöglich Scheinendes erreichen kann, wenn Gott den Kairos dazu schenkt, haben wir vor 30 Jahren erlebt.

Ich habe damals als Theologiestudent und dann junger Assistent an der Universität Heidelberg intensiv teilgenommen an den Aktivitäten des „Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“ und dabei von Heidelberg aus auch gespannt verfolgt, wie engagierte Christinnen und Christen in der DDR zu den ökumenischen Versammlungen in Magdeburg und Dresden zusammengekommen sind.

Unter der Überschrift „Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe unsere Erwartung“ kam die 3. Ökumenische Versammlung am 26. bis 30. April 1989 hier in Dresden zusammen. Vorausgegangen war vom 12. bis 15. Februar 1988 eine erste Vollversammlung, ebenfalls in Dresden, mit 146 Delegierten aus 19 Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, und vom 8. bis 11. Oktober 1988 die 2. Vollversammlung in Magdeburg.

In dem Schlussdokument der 3. Versammlung in Dresden hieß es über den Reformbedarf in der DDR: „Umgestaltung ist erforderlich in Richtung auf mehr Offenheit auch im weltanschaulichen Bereich und eine dementsprechende Kultur des Meinungsstreites, denn das Abgrenzungsdenken, die Verbindung des Machtmonopols der Partei mit dem ideologischen Wahrheitsmonopol und die Selbstrechtfertigungszwänge des Staates, in die er durch seine eigenen Glücksversprechungen gerät, verhindern die Bildung einer bewussten und kritischen Öffentlichkeit“ (Ziffer 32).

Führende Figuren der christlichen Friedensbewegung der DDR, wie der in diesem Jahr 90 Jahre alt gewordene Erfurter Propst Heino Falcke oder der, ebenfalls in diesem Jahr, 75 Jahre alt gewordene Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer spielten eine zentrale Rolle für die gesellschaftliche Bewegung, die dann vor in diesen Tagen genau 30 Jahren dazu führte, dass Gebete und brennende Kerzen das Unmögliche möglich machten: eine friedliche Revolution in einem bis an die Zähne bewaffneten und von einer perfektionierten Geheimpolizei gesicherten Staat, die noch wenige Jahre vorher kaum jemand für möglich gehalten hätte.

Aus Ostdeutschland – das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen - kam die erste und einzige erfolgreiche gewaltfreie Revolution in der gesamten deutschen Geschichte. Der ehemalige Vorsitzende des DDR-Ministerrates Horst Sindermann sagte dazu: „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Sie haben uns wehrlos gemacht."

30 Jahre danach ist es gut, sich an die Quellen zu erinnern, die diese große geschichtliche Wende ermöglichten. Dass die Kirchen in der DDR den Glauben nicht mit religiöser Innerlichkeit verwechselten, sondern das Beten, das Tun des Gerechten und das Warten auf Gottes Zeit, von dem ich eben schon gesprochen habe, als untrennbar zusammengehöriges Zeugnis des Glaubens verstanden, das war dafür ganz bestimmt ein wesentlicher Faktor.

Eine der wichtigsten Erfahrungen, die heute genauso aktuell ist wie damals und die wir als Evangelische Kirche in Deutschland von der Kirche der DDR aufnehmen können, ist die enge Verbindung von Frömmigkeit und gesellschaftlichem Engagement. Sie bewährt sich heute wie damals besonders an den drei Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, die gleichermaßen nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Es ist kein Zufall, dass diesen drei Begriffen auch mehrere Themen zugeordnet werden können, die uns als Kirche in den letzten Monaten besonders beschäftigt haben, und auf die ich deswegen noch eingehen möchte: die Friedensethik ist das zentrale Thema dieser Synodentagung, die Seenotrettung ist eine Frage der Gerechtigkeit und die Diskussion um den Klimawandel ist eine direkte Konsequenz aus dem Engagement für die Bewahrung der Schöpfung. 

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II. Friedensethik

Diese Synodentagung beschäftigt sich mit dem Thema Friedensethik in einer Zeit, in der zahlreiche kriegerische Konflikte weltweit die Hoffnung auf friedlichere Zeiten in die Ferne haben rücken lassen. Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation vor 30 Jahren sahen viele von uns die Chance auf friedlichere Zeiten gekommen. Diese Hoffnung ist nicht in Erfüllung gegangen.

Das „Konzept gemeinsamer Sicherheit“ wie es die Charta von Paris 1992 aufnahm, schien geeignet, Interessengegensätze friedlich auszugleichen. Diese Hoffnung schwand schon in den 2000er Jahren. Die Friedensdenkschrift der EKD 2007 und die Berufung eines Friedensbeauftragten 2008 – es war von Anfang an Renke Brahms – waren Reaktionen auf diese neue Herausforderung. Die Entstehung weiterer Konfliktursachen durch den Klimawandel, die Versteppung ganzer Landstriche, den Kampf um Zugang zu Wasser, aber auch die Entstehung digitalisierter Waffensysteme haben noch einmal neue Risiken und friedensethische Herausforderungen entstehen lassen.

Gegenwärtig erleben wir, dass sogar ein Mitglied des NATO-Bündnisses, dem unser Land selbst angehört, in ein Nachbarland einmarschiert und damit grundlegende Normen des Völkerrechts verletzt. Dass die Kurden im Norden Syriens, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Mördermilizen des IS wirksam bekämpft werden konnten, von ihrem Partner USA jetzt fallen gelassen werden und Nordsyrien Russland, der Türkei und dem syrischen Machthaber Assad überlassen wird, ist eine Niederlage einer an Recht und Ethik orientierten internationalen Politik. Die Ohnmacht, die viele von uns, mich eingeschlossen, dabei empfinden, ist ein Anlass mehr, mit Dringlichkeit friedensethische Konzepte zu entwickeln, die in einer solchen Situation Orientierung für konkretes Handeln geben können.

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Der Rat der EKD hatte deswegen schon 2014 ein Forschungsprojekt „Orientierungswissen Gerechter Friede“, angesiedelt an der FEST in Heidelberg, in Auftrag gegeben, aus dessen Symposien inzwischen eine 20-bändige kleine Bibliothek mit Grundlagenwissen entstanden ist. Aber auch die Akademien und natürlich die Landeskirchen haben die friedensethischen Fragen aufgegriffen und zunehmend auf uns selber angewandt: Wie sieht eine Kirche aus, die nicht nur über Friedensethik nachdenkt und spricht, sondern die sich selbst auf einen Weg des gerechten Friedens begibt? Das wird uns auf dieser Synodaltagung beschäftigen.

Nach meiner Wahrnehmung ist der Grundkonsens in Fragen der Friedensethik innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland, aber auch in der Ökumene weltweit in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Der Konsens ist groß, dass die Anwendung militärischer Gewalt nie eine zu erstrebende Option ist, sondern immer eine Niederlage. Eine Niederlage nämlich für das Bemühen, Konflikte gewaltfrei zu lösen, eine Option, die immer den Vorrang haben muss. Der klare Vorrang der Prävention durch zivile Mittel, durch Diplomatie, durch Entwicklung, durch einen restriktiven Umgang mit Waffenexporten, verbindet ein breites Spektrum der friedensethischen Positionen in unserer Kirche. Es ist ja bemerkenswert, dass es in den Diskussionen um mögliche militärische Interventionen hierzulande oft gerade Stimmen aus der Spitze der Bundeswehr waren, die Bedenken äußerten. Das Töten von Menschen, auch das ist eine breit getragene ethische Einsicht, bedeutet auch dann Schuld, wenn es zum Schutz vieler anderer Menschenleben als nicht vermeidbar erscheint.

Gleichzeitig haben sich neue Fragen ergeben, die zeigen, wie wenig eindeutig aus christlicher Perspektive die Anwendung militärischer Gewalt einfach kategorisch ausgeschlossen werden kann. Die Beispiele dafür sind bekannt und werden zu Recht in den Diskussionen immer wieder genannt. Nach inzwischen sieben Besuchen in dem kleinen zentralafrikanischen Land Ruanda und vielen Gesprächen mit Freunden, Kirchenleuten und politisch Verantwortlichen dort hat sich meine Einschätzung konsolidiert, dass beim Völkermord 1994, dem innerhalb von 100 Tagen fast eine Million Menschen zum Opfer fielen, die Weigerung der UNO-Verantwortlichen, den anwesenden UNO-Soldaten zum wirksamen Schutz der Menschen auch den Einsatz von Waffengewalt zu erlauben, ein klares moralisches Versagen darstellt.

Damit sich das nicht wiederholt, muss die ethische Diskussion so geführt werden, dass sie auch Handlungsoptionen in den Blick nimmt, die auf eine solche Situation reagieren, Der richtige Hinweis auf das vorausgegangene Versagen, mit friedlichen Mitteln Konfliktprävention zu betreiben, reicht dazu nicht aus. Eine Sozialethik, die nur dann funktioniert, wenn man sie nicht auf konkrete Situationen anwenden muss, wäre ja eine schlechte Sozialethik. Deswegen müssen wir in unseren kirchlichen Positionen einerseits die Gründe für das Versagen der Prävention benennen: den weltweiten Waffenhandel und die auch in Deutschland noch immer zu wenig restriktive Waffenexportpolitik gehören genauso dazu wie der Irrsinn eines weltweiten Rüstungsbudgets von über 1,8 Billionen Dollar, dem lächerliche Summen für zivile Konfliktprävention und -lösung gegenüberstehen.

Andererseits müssen wir aber auch ethische Maßstäbe zum Umgang mit den durch das Versagen der Prävention faktisch entstandenen Gewaltsituationen entwickeln. Wir müssen auch denen, die in der Politik nach unserem Rat fragen und die ausdrücklich Rat von ihrer evangelischen Kirche erwarten – und das sind zum Glück nicht wenige! – Antwort geben können, was auf der Grundlage friedensethischer Einsichten konkret getan werden kann.

Das insbesondere in den Diskussionen im Weltkirchenrat verwendete Stichwort „just policing“, so unrealistisch die damit verbundene Vision gegenwärtig sein mag und so wenig Polizeigewalt und militärische Gewalt klar voneinander abgegrenzt werden können,[1] markiert aus meiner Sicht die Suchrichtung dafür: Wie kann der Grundgedanke des Schutzes der Schwachen durch das Recht, der die ethische Basis polizeilichen Handelns auf nationaler Ebene bildet, auf die internationale Ebene übertragen werden? Welche internationalen rechtlichen Rahmenbedingungen können die Voraussetzung dazu bilden und welche Zwangsmittel müssen zur Verfügung stehen, damit das Recht auch durchgesetzt werden kann?

Die Antwort ist für mich offen. Aber schon die Frage zu stellen, hat friedensethische Bedeutung. Sie impliziert nämlich, dass es Situationen gibt, in denen die Ablehnung militärischer Gewalt ebenso unter ethischem Rechtfertigungszwang steht wie deren Bejahung. Ich wünsche mir, dass wir uns dem damit angedeuteten Dilemma bei unseren Diskussionen der nächsten Tage tatsächlich stellen.

Lassen Sie mich eines aber auch noch deutlich sagen: Die Legitimität militärischer Gewaltanwendung kann sich aus meiner Sicht nie auf die Betonung der strategischen und wirtschaftlichen Interessen des je eigenen Landes gründen. Der Universalismus der christlichen Grundorientierungen spricht eine andere Sprache. Und wir sind als Land bisher sehr gut damit gefahren, dass bei allen Diskussionen um die Legitimität militärischer Gewaltanwendung nicht Wirtschafts- und Handelsinteressen im Zentrum standen, sondern die Menschenrechte. So soll es auch bleiben!

[1] Sie dazu im Friedenstheologischen Lesebuch „Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens“, S. 225-229, den Beitrag von Friedrich Lohmann, Menschenrechte, Beistandspflicht – Gewaltverzicht.

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III. Seenotrettung

Soll die Evangelische Kirche aktiv die zivile Seenotrettung im Mittelmeer unterstützen? Das war die Frage, mit der sich die Kirchenkonferenz und der Rat der EKD im Juni zu beschäftigen hatten, nachdem eine Woche zuvor eine Resolution des Deutschen Evangelischen Kirchentages die EKD genau dazu aufgefordert hatte. Ich selbst hatte Anfang Juni bei einem Besuch des damals beschlagnahmten Schiffes „Seawatch 3“ in Sizilien, noch bevor das Thema durch die Festnahme der Kapitänin Carola Rackete breite öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr, meine persönliche Solidarität mit den zivilen Seenotrettern zum Ausdruck gebracht. Mit dem Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, hatte ich den „Palermo-Appell“ veröffentlicht, in dem wir, unterstützt von vielen öffentlichen Persönlichkeiten, das Ende der Kriminalisierung der Seenotretter, die Wiederaufnahme der staatlichen Seenotrettung und einen politisch abgesicherten Verteilmechanismus für gerettete Flüchtlinge gefordert hatten. 

Der Rat der EKD, unterstützt durch die Kirchenkonferenz, beschloss dann, diesen Schritt zu gehen: Ja, wir werden uns für ein zusätzliches Rettungsschiff einsetzen! Wir wollen diejenigen unterstützen, die ehrenamtlich auf dem Mittelmeer Leben retten, weil sie dem Ertrinken nicht tatenlos zusehen wollen. Sondern humanitär handeln und Menschenleben retten, wo staatliche Seenotrettung fehlt und Europa droht, seine Werte zu verlieren. Auch wir als Kirche wollen da nicht tatenlos zusehen. Seit Jahren warten wir auf überzeugende Lösungen der europäischen Regierungen. Auch die EKD-Synode hat wiederholt gefordert, legale und sichere Zugangswege für Schutzsuchende zu eröffnen, ein solidarisches Verteilsystem in Europa zu schaffen, faire Asylverfahren zu gewährleisten. An all diesen Forderungen halten wir weiter fest – aber wir setzen uns eben auch ganz konkret für dieses Rettungsschiff ein.

Und wir haben einen starken Partner gefunden, denn Seawatch sucht in ganz Europa nach einem zusätzlichen Schiff für die Seenotrettung. Seit Wochen erreichen mich und die EKD viele Spenden- und Unterstützungsangebote – so viele wie bei keinem anderen Thema! Und wir können jetzt sagen: Am 3.  Dezember wird eingeladen zu einem breiten gesellschaftlichen Bündnis „United 4 Rescue“, auf Deutsch: „gemeinsam retten“. Und wir starten unter dem Hashtag #WirschickeneinSchiff eine online-Spendenkampagne. Deswegen sage ich schon heute: Helfen Sie dann mit, spenden Sie und erzählen Sie anderen von diesem Bündnis für zivile Seenotrettung, damit wir möglichst vielfältig helfen können. 

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Der Beschluss stieß auf einen breiten öffentlichen Zuspruch, aber auch auf ein sehr kontroverses Echo. Während einige kritisch reagierten und sogar mit Kirchenaustritt drohten, brachten andere ihre nachdrückliche Unterstützung und große Freude zum Ausdruck. Manche traten wieder in die Kirche ein oder – vor allem von jungen Leuten war das zu hören - entschieden sich gegen einen schon einmal ins Auge gefassten Austritt.

Und so sehr mich jeder angedrohte oder gar vollzogene Austritt aus der Kirche schmerzt, ich bin davon überzeugt: Es ist richtig, Seenotrettung im Mittelmeer zu unterstützen. Denn der Satz stimmt ja nach wie vor: „Man lässt keinen Menschen ertrinken. Punkt“.

In manchen Zuschriften wurden wir aufgefordert, lieber in Afrika zu helfen als Menschen im Mittelmeer zu retten. Aber man darf eben beides nicht gegeneinander ausspielen. Die Hilfe für Menschen in Lebensgefahr im Mittelmeer ist nur ein Baustein in einer Gesamtstrategie diakonischen Handelns der Kirche. Sie beginnt mit der Bekämpfung der Fluchtursachen, für die sich die Kirchen ja seit vielen Jahrzehnten tatkräftig einsetzen. In unserem internationalen Netzwerk begleiten wir als Kirchen Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen wollen, schon in ihrem Ursprungsland. In dem Programm „Symbols of Hope“ des Lutherischen Weltbundes etwa werden die Menschen in Nigeria durch Video-Zeugnisse von Rückkehrern vor dem lebensgefährlichen Weg durch die Wüste gewarnt (siehe dazu: https://www.lutheranworld.org/news/dangerous-dream-brighter-future?fbclid=IwAR16wU43eSAXSDQfyZDINfQiASBFRqGTuNdUzP_tFQ9_RPCjvf_mEk2Crz8 und https://www.lutheranworld.org/content/symbols-hope). Und es werden Perspektiven im eigenen Land aufgezeigt, die Menschen zum Bleiben bringen können.

Viele, die sich trotzdem auf den Weg machen, sterben in der Wüste oder landen in den schlimmen Lagern in Libyen. Dort sind Zwangsprostitution und Sklavenarbeit an der Tagesordnung. Menschen, die das erleben, wollen nur weg und begeben sich in lebensgefährlichen Booten aufs Mittelmeer. Manche geraten in Seenot und drohen zu ertrinken. Damit sie nicht ihrem Schicksal überlassen werden, sind die zivilen Seenotretter mit ihren Schiffen unterwegs. Sie wollen wir unterstützen. In die libyschen Lager, die alle Menschenrechtsstandards mit Füßen treten, können die Geretteten nicht zurückgeschickt werden. Andere Länder in Nordafrika – das hat inzwischen ja auch Bundesinnenminister Horst Seehofer deutlich gemacht – stehen gar nicht zur Verfügung.

Man kann bei diesem Thema unterschiedlicher Meinung sein. Dass solche Fragen bei uns kontrovers diskutiert werden, ist gut protestantisch. Was ich mir wünsche ist, dass wir die Diskussion darum in wechselseitigem Respekt führen. Denn darüber gibt es bei allen unterschiedlichen Ansätzen keine zwei Meinungen: Einfach nur zuzuschauen wie Menschen ertrinken, ist keine Option. Denn jeder Mensch ist geschaffen zum Bilde Gottes. Dafür gilt es, in den konkreten humanitären Herausforderungen einzustehen!

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IV. Klimawandel

Gerade in diesen Monaten sind die Zeitungen und Nachrichtenportale – noch mehr als früher – voll von den gravierenden Veränderungen im ökologischen Gleichgewicht dieser Erde. Auch, wenn ich mich hier in diesem mündlichen Ratsbericht auf den Klimawandel konzentriere, zeigt spätestens der Blick in den schriftlichen Bericht des Rates, dass uns das Thema Nachhaltigkeit insgesamt ein großes Anliegen ist. 

Die Veränderungen des Klimas sind dramatisch. Und die Wissenschaftler sagen uns, dass wir, wenn jetzt nichts Einschneidendes passiert, an einen Tipping Point kommen könnten, der mit dramatischen Folgen verbunden wäre.

Die Phänomene, die kürzlich internationale Wissenschaftler im Auftrag des Weltklimarates in Monaco der Öffentlichkeit vor Augen geführt haben und die sich noch wesentlich detaillierter im jetzt vorgelegten Sonderbericht des Weltklimarates nachlesen lassen, sind zahlreich: schmelzende Eisschilde und Gletscher, ein Meeresspiegel, der bis zum Ende des Jahrhunderts um mehr als einen Meter steigen könnte, der Verlust von Arten und Lebensräumen. Auch immer häufigere und heftigere Unwetter und Überschwemmungen gelten demnach als wahrscheinlich. All diese Phänomene sind inzwischen klar wissenschaftlich belegt. Am Sonderbericht des Klimarates waren mehr als 100 international renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Autoren beteiligt, fast 7000 wissenschaftliche Studien und Publikationen wurden ausgewertet, Zehntausende Kommentare von Wissenschaftlern eingearbeitet.[2] Wer das ignoriert oder als bloße „Meinung“ abtut, leidet unter Realitätsverweigerung und verabschiedet sich aus einer ernsthaften demokratischen Debatte.

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Auf der anderen Seite scheinen wir an einen Punkt gekommen zu sein, an dem auch die positiven Gegenkräfte eine völlig neue Dynamik gewonnen haben. Das öffentliche Aufrütteln, das auch wir als Kirchen seit Jahrzehnten immer wieder vergeblich versucht haben, scheint jetzt durch den Anstoß einer 16-jährigen Schülerin aus Schweden gelungen zu sein. Es könnte sein, dass wir nun tatsächlich an der Schwelle der Großen Transformation stehen, von der auch in den Papieren und Stellungnahmen der Kirchen seit Jahren die Rede war.

Das, was die Bundesregierung dazu jetzt in ihrem Klimapaket an Vorschlägen vorgelegt hat, reicht dazu nicht aus. Nicht nur zahlreiche Klimawissenschaftler, sondern auch viele Ökonomen unterschiedlicher Schulen haben deutlich gemacht, dass der jetzt vorgesehene Einstieg in die CO2-Bepreisung noch keine nennenswerte Lenkungswirkung erzeugt. Was stimmt nicht in unseren politischen Prozessen, wenn diese Reaktion der Gesellschaft bisher keinerlei Wirkung für das politische Handeln gezeigt hat? Warum bleibt die Politik an dieser so wichtigen Stelle hinter der inzwischen immer größer gewordenen gesellschaftlichen Bereitschaft zur Veränderung zurück – jetzt, wo genau der Kairos dazu da wäre? Es wäre ein Zeichen von Größe, wenn die Bundesregierung diese gesellschaftliche Dynamik wahrnehmen, auf sie reagieren, sie nutzen und ihr Klimapaket deutlich nachbessern würde!

Der Einsatz für angemessene Antworten auf den Klimawandel hat bereits eine lange Geschichte. Als Beispiel ein Zitat:

Wir plädieren „für die Entwicklung einer Kultur, die in Harmonie mit der ganzen Schöpfung lebt; für die Erhaltung der Erdatmosphäre und damit für die Überlebensfähigkeit der Welt; für die Bekämpfung der Ursachen der gefährlichen Veränderungen der Atmosphäre, die das Klima der Erde grundsätzlich zu verändern drohen und viel Leid mit sich bringen“.

Was heute wie ein Manifest von Fridays for Future klingt, stammt aus einer Zeit, in der Greta Thunberg noch nicht einmal geboren war: aus dem Jahr 1990. Da versammelten sich vor nun fast 30 Jahren die Kirchen der Welt im südkoreanischen Seoul zur Schlussversammlung des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Dringlich appellierten sie an die Politiker in aller Welt, endlich konsequente Maßnahmen zur Begrenzung der Klimaerwärmung zu treffen.

Die Kirchen haben es nicht geschafft, die damals veröffentlichten Forderungen ins Zentrum der globalen politischen Debatte zu rücken. Auch hier gilt vermutlich die Dynamik von Chronos und Kairos: es muss erst der rechte Augenblick kommen, damit sich ein lange gereifter Gedanke Gehör verschaffen kann. Für mich ist das Anlass, dafür zu werben, dass wir als Kirche auch dann deutlich und klar unseren Öffentlichkeitsauftrag wahrnehmen, wenn wir nicht gleich gehört werden.

In dem 2011 vom Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltfragen veröffentlichten Gutachten über die notwendige Große Transformation heißt es: „Die Erfolgsaussichten einer „Transformation von unten“ steigen, wenn es auf breiter Front durch Pioniere des Wandels gelingt, in ihren jeweiligen Promotorenrollen … klimaverträgliche Lebenspraxen im Alltagsleben plausibel, ja selbstevident zu machen und sie als Standardoption zu verankern“ (S.277). Dem kann man nur zustimmen. Dass die Kirchen bei dieser Aufgabe eine zentrale Rolle spielen müssen, steht für mich fest.

Und die breiten Allianzen, die sich in den letzten Monaten gebildet haben und die nicht nur verschiedene gesellschaftliche Gruppen verbinden, sondern auch verschiedene Generationen, machen Hoffnung. Besonders macht die Tatsache Hoffnung, dass junge Leute treibende Kräfte eines Themas geworden sind. Vielleicht steckt darin mehr Potential für eine neue Relevanz der Kirche für junge Menschen als alle möglichen Programme, die wir zur Bindung der Jugend an die Kirche bisher entwickelt haben.

Eine Erfahrung, die in diese Richtung weist, habe ich kürzlich bei einem großen Kongress an der CVJM-Hochschule in Kassel gemacht. Neben Uwe Schneidewind, dem Präsidenten des Wuppertalinstituts für Klima, Umwelt und Energie und Vorsitzenden der Kammer für nachhaltige Entwicklung, und der durch ihre Kirchentagspredigt vielen bekannt gewordenen Hannoverschen Pastorin Sandra Bils war ich eingeladen, um über die Rolle der Kirchen bei der großen Transformation zu sprechen. In einem Hörsaal voll mit jungen Leuten, die v.a. dem CVJM-Spektrum zuzurechnen waren, brandete bei unseren Vorträgen immer dann besonders viel Beifall auf, wenn, etwa bei den Themen Seenotrettung oder Klimaengagement, die Verbindung von Frömmigkeit und konkreten Engagement für die Welt zur Sprache kam. Junge Leute fordern Glaubwürdigkeit. Und offensichtlich sehen sie solche Glaubwürdigkeit der Kirche gerade auch da, wo sie sich einmischt. Mich haben im vergangenen Jahr wenige Veranstaltungen so inspiriert wie der zutiefst von frommer Zuversicht und daraus erwachsender konkreter Nächstenliebe geprägte Geist, den ich bei dem Kongress in Kassel gespürt habe.

Schluss

Fromme und fröhliche Zuversicht, das, liebe Schwestern und Brüder, ist die Haltung, mit der wir als Evangelische Kirche in Deutschland in die Zukunft gehen. Wir sind unendlich reich gesegnet, mit Menschen, die mit viel Liebe für ihre Kirche einstehen, mit kreativer Energie, die an vielen Orten zu Aufbrüchen führt, mit einem Ausmaß an materiellen Möglichkeiten, die weltweit ihresgleichen suchen und vor allem mit Geisterfahrungen, über die wir nicht verfügen, die uns aber zuteilwerden, wenn der Kairos dazu da ist.

Wir werden weiter nach Wegen suchen, um das Unsere zu tun auf dem Weg zu einer mutigen und ausstrahlungsstarken Kirche der Zukunft. Aber wir werden es tun im vollen Bewusstsein, dass wir weder Zeit noch Stunde wissen, sondern allein Gott.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich als Kind in der Schule darauf gewartet habe, dass das Samenkorn, das wir in kleine Joghurtbecher gepflanzt hatten, endlich aufgeht. Und da, wo irgendwann ein kleines Pflänzchen hochkam, war die Freude und das Staunen groß. Wo nichts kam, wurde neu gesät, bis wir alle ein Pflänzchen hatten.

Lasst uns staunen und uns freuen, wo Gott uns die Erfahrung neuen kirchlichen Lebens schenkt. Und lasst uns geduldig warten, wo der Erfolg noch ausbleibt. Dass Gott die Saat wachsen lässt, darauf dürfen wir fest vertrauen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

[2] https://www.tagesschau.de/ausland/klima-ipcc-101.html

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Ratsbericht - Mündlicher Teil (A)

Vorsitzender des Rates der EKD
Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm