Rede der Ratsvorsitzenden der EKD, Annette Kurschus, beim Empfang anlässlich des Besuchs des Rates der EKD in Brüssel am 25. Mai 2023

Empfang anlässlich des Besuchs des Rates der EKD in Brüssel

I.

 

„O komm, du Geist der Wahrheit

und kehre bei uns ein,

verbreite Licht und Klarheit,

verbanne Trug und Schein.“

 

So, liebe Gäste des heutigen Empfangs im Haus der EKD in Brüssel, beginnt ein alter Pfingstchoral. An den kommenden Tagen wird er in unzähligen Gottesdiensten angestimmt. „O komm, du Geist der Wahrheit!“: Wohl selten war diese Bitte so dringlich, die Sehnsucht dieses Liedes so aktuell. Die Wahrheit gerät zunehmend unter die Räder. Es scheint schlecht bestellt um den „Geist der Wahrheit“ in dieser Welt.

„Unglaub und Torheit brüsten sich frecher jetzt als je“:

Falschnachrichten werden genüsslich verbreitet. Eine Lüge muss möglichst frech sein, dann gewinnt sie fanatisch überzeugte Leute, die ganze Stadien füllen. Gleichzeitig greift eine beängstigend autoritäre Wahrheitswut um sich. Statt unterschiedliche Meinungen auszutauschen, haut man ein-ander „die Wahrheit“ um die Ohren. Um Recht haben und Recht behalten geht´s. Parteigrenzen werden zur Wasserscheide alternativer Fakten. Vermeintliche „Wahrheiten“ werden benutzt und gebraucht, um sich vonein-ander abzugrenzen und andere auszugrenzen. Der Streit um Wahrheiten macht Menschen zu Feinden.  

Die Bibel spricht vom „Geist“ der Wahrheit, einer Kraft, die weht und bewegt, die atmet und unverfügbar ist. „O komm, du Geist der Wahrheit!“ In diesem sehnsüchtigen Ruf steckt die weise Einsicht: Wahrheit ist weder ein unveränderliches Dogma noch ein verborgenes höheres Wissen. Wahrheit ist nichts, was der eine hat und die andere nicht; nichts, was wir ein für alle Mal besitzen könnten. Vor allem aber ist Wahrheit nicht zu haben ohne Wahrhaftigkeit, ohne den „Geist der Wahrheit“ – das gilt für jeden Einzelnen, mehr aber noch für eine Gesellschaft als Ganze. Jedes Jahr zu Pfingsten singen und beten wir diesen Geist herbei, jedes Jahr zu Pfingsten feiern wir seine befreiende und heilsame Kraft.

In der biblischen Pfingstgeschichte kommt diese Kraft unverhofft über die Anhänger und Anhängerinnen des auferstandenen Jesus von Nazareth. Kurz nach Jesu Tod haben sie sich ängstlich eingeschlossen und zurückgezogen; und dann, plötzlich, werden sie von diesem Geist ergriffen; wie ein Feuer breitet er sich unter ihnen aus, wie ein Sturm kommt er über sie. Die zuvor Verzagten reden begeistert und mit Leidenschaft von dem, was sie erfüllt. Und – so wird erzählt - „ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden“.

Man darf das nicht spektakelhaft missverstehen, als seien Petrus und die anderen Jünger plötzlich zu Fremdsprachengenies geworden. Das pfingstliche Wunder ist ein anderes: Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Religionen und Generationen fühlen sich angesprochen und berührt. Das ist ein Gottesgeschenk: Wenn ich so rede, dass, wer mich hört, empfindet: „Die spricht meine Sprache“, „Die trifft mich ins Herz“. Hier weht der „Geist der Wahrheit“, den niemand machen und herbeizwingen kann.

Solche Wahrheit kann sich nur ereignen, wenn ich einem Du begegne und mich ihm öffne. Aus diesem Geist heraus wird die Kirche geboren – eine Gemeinschaft jenseits von Nation, Familie, Sprache und Kultur. Die Pfingstgeschichte erzählt von einer Globalisierung, die nicht die Uniformierung der Welt ist, sondern Verständigung in der Verschiedenheit. Alle behalten ihre Eigenheiten, jeder hört in seiner eigenen Sprache, jede begreift auf ihre eigene Weise, aber es gibt ein gemeinsames Verständnis, einen gemeinsamen Geist. Es ist wie ein Wahrheitsraum, in dem wir – so unterschiedlich wir sind - miteinander leben können. Der Geist der Wahrheit stiftet Gemeinschaft und lässt Vielfalt zu. Daran ist er zu erkennen.

Ein demokratisches Staatswesen und ein demokratisches Europa sind ohne diesen „Geist der Wahrheit“ als Basis von Verständigung und einer starken Gemeinschaft nicht möglich – davon bin ich überzeugt. Zur Tugend politischer Wahrhaftigkeit gehört für mich die Einsicht: Wahrheit habe oder besitze ich nicht, so wie man Wind nicht festhalten kann. Wind, Atem: Das ist die primäre Bedeutung des hebräischen Wortes ruach. Übrigens ein Femininum, weshalb ich auch gern von der „Geistkraft“ spreche. Sie ist nicht statisch. Sie ist beweglich und bewegt. Wir suchen sie, wir nähern uns ihr an, wir fragen nach ihr, wir verständigen uns immer neu über sie. Der „Geist der Wahrheit“ bewegt zu einer Haltung, die um die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis weiß und gerade darin so groß ist und so weit.

„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“: Dieser Satz wird Jesus in den Mund gelegt. Und leider oft in sein Gegenteil verkehrt, wenn man ihn hernimmt, um christliche Rechthaberei zu bedienen und Menschen, die nicht an Jesus glauben, den rechten Glauben abzusprechen. Aber der Satz sagt ja dies: Wahrheit ist kein abstraktes Arsenal von Richtigkeiten. Wahrheit ist eine Person. Dieser Mensch, der Kranke heilt, Aussätzige berührt, Sündern vergibt und sein letztes Brot teilt; dieser Mensch, der sich hingibt - der ist wahr.

Das ist nicht eins zu eins auf politisches Handeln anzuwenden. In der Politik geht es um die Verhandlung von Interessen, zuweilen um die bittere rationale Abwägung, was das kleinere Übel ist. Politik muss deshalb zuweilen in Distanz zu einzelnen Menschen gehen und ihnen Härten zumuten. Und dennoch: Einer Politik, die ohne Beziehung zu den konkreten Menschen Ideologien und Programme umsetzt, und seien sie noch so hehr, der fehlt es an Wahrhaftigkeit. Unser Sozialminister in Nordrhein-Westfalen, Karl Josef Laumann, hat das in seiner schnörkellosen Art in einer Rede so gesagt: „Man muss die Menschen liebhaben. Und dazu gehört: Man muss sie nehmen, wie sie sind.“ Was für ein wahrer Satz.

 

II.

Es gilt ein frei Geständnis in dieser unsrer Zeit,

ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit,

trotz aller Feinde Toben, trotz allem Heidentum

zu preisen und zu loben das Evangelium.

Ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit! An Bekenntnissen fehlt es im politischen Diskurs nicht: Bekenntnisse zu Europa. Bekenntnisse zum Frieden. Bekenntnisse zur Marktwirtschaft, Bekenntnisse zum Klimaschutz. Besonders gefragt waren nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine Schuldbekenntnisse – die einen in Windeseile abgelegt, die anderen empört verlangt, die dritten strikt verweigert. Als „offenes Bekenntnis“ stelle ich mir eines vor, das nicht zum üblichen Jargon gehört und Stimmung machen soll. Wo sind die wahrhaftigen Bekenntnisse, mit denen ich nicht offene Türen einrenne, sondern mich riskiere und den Streit wage? Die gibt es auch, und die Menschen spüren das. Sie spüren, wenn jemand etwas ausspricht und damit etwas riskiert, sein oder ihr Herzblut dabei vergießt.

Ja, zur Wahrheit gehört auch der Streit, aber einer, der sich von Rechthaberei unterscheidet. Zum politischen Streit um die Wahrheit  gehört darum für mich notwendig das Wissen um die eigene Fehlbarkeit. Wer im Geist der Wahrheit redet, wird Irrtümer und Fehler zulassen und auch eingestehen: Ich habe falsch gelegen, ich habe dazugelernt, ich ändere meine Meinung.

Mich bewegt seit geraumer Zeit die Frage, wie wir in Politik und Öffentlichkeit, in Theologie, Kirche und Gesellschaft mit Fehlern und Fehleinschätzungen, mit Versäumnissen und Verfehlungen und deren Unvermeidbarkeit umgehen und dabei doch wahrhaftig bleiben können. Mir scheint, wir verstehen es in den multiplen Krisen der Gegenwart immer weniger, aufrichtig und menschlich, ernsthaft und barmherzig mit Fehlern und der grundsätzlichen Fehlbarkeit umzugehen. Und zwar sowohl mit unseren eigenen Fehlern wie mit der Fehlbarkeit anderer. Und: wir trauen uns immer weniger das Risiko einzugehen, Fehler zu machen.

Man kann sich das etwa an Diskursen angesichts des Kriegs in der Ukraine verdeutlichen; sei es zur Friedensfrage im Allgemeinen, zur theologisch-kirchlichen Friedensethik oder zu militärisch-strategischen Einzelfragen. Da sind die einen, die unerschütterlich und auch merkwürdig unerschüttert an immer schon gehegten Überzeugungen festhalten, als sei nichts geschehen. Wo jemand neu denkt, wittern sie Prinzipienlosigkeit. Andere erklären vollmundig, ‚wir alle’ hätten ‚immer schon‘ ‚alles‘ ‚ganz anders‘ machen müssen. Und irgendwie klingt dabei mit, sie hätten das ja schon immer gesagt. Wieder andere räumen ‚mit dem Wissen von heute‘ bereitwillig Fehler im Gestern ein und betonen zugleich, `niemand` hätte ja vor dem 24. Februar 2022 gewusst oder gedacht, dass … Und dann sind da noch diejenigen, die sich im Brustton der Überzeugung zu 100% für etwas aussprechen, das sie zuvor zu 100% ablehnten.

Wohlgemerkt, es geht mir hier und heute nicht um das inhaltliche Für und Wider einzelner Positionen und schon gar nicht um einzelne Personen, sondern darum, welche Haltung zu Fehlern und Fehleinschätzungen, zu Nichtwissen und Unwissen hier sichtbar wird. Die einander überlappenden Großkrisen der letzten Jahre und Jahrzehnte, die Finanz-, die Euro- die Migrations-, die Corona-, die Klima-,  – dazu die Mitglieder-, Vertrauens- und Relevanzkrise der Kirchen und nicht zu vergessen der Krieg – sie alle haben eines gezeigt: Die systemische und individuelle Fehlerhaftigkeit, Fehleranfälligkeit und Fehlbarkeit zentraler gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer, anthropologischer und auch theologisch-kirchlicher Annahmen und einzelner Akteur:innen. Ich frage mich: Warum fällt es uns so schwer, diese offensichtliche Tatsache nüchtern ins Auge zu fassen und konstruktiv damit umzugehen? Wie sollen wir bei den grundlegenden Umorientierungen, die angesichts all dieser komplexen Krisenakkumulationen von uns gefordert sind, zurande kommen, ohne dies zu lernen? Und schließlich: Welches wären der Beitrag, die Gaben und Aufgaben von Kirche und Wissenschaft, von Glaube und Theologie in dieser Sache?

Winston Churchill ist nicht selten ein gutes Vorbild. Er wurde als britischer Premier während des Zweiten Weltkriegs gefragt, wie er denn sicherzustellen gedenke, dass Großbritannien nicht die Fehler des 1. Weltkrieges wiederholen werde. Churchill soll geantwortet haben: „Ich bin sicher, dass wir diese Fehler nicht wiederholen werden, wir werden diesmal andere Fehler machen.“ An diesem Satz kann manches auffallen: Etwa die selbstbewusste Demut oder das demütige Selbstbewusstsein, die darin liegen, sich derart sicher zu sein, wenigstens nicht immer dieselben Fehler zu machen. Es gibt schließlich noch so viele andere. Mich beeindruckt besonders der politische und persönliche Mut, in einer solch heiklen Situation die eigene Fehlbarkeit nicht nur einzuräumen, sondern geradezu herauszustellen. Dahinter ahne ich ein Verständnis von Führung und Politik, das im offenen Umgang mit eigenen Fehlern die eigene Kompetenz und den eigenen Führungsanspruch nicht bedroht und infrage gestellt sieht, sondern sogar gestärkt, gepflegt und ermöglicht.

Fehlbar sind wir gerade in unserem Streben nach Wahrheit. Wo der Geist der Wahrheit weht, wird die menschliche Fehlbarkeit nicht aufgehoben. Aber ein anderer, konstruktiverer, barmherziger Umgang damit wird möglich. Damit ist keineswegs gesagt, Menschen irrten prinzipiell und könnten eigentlich überhaupt nichts wissen.  Ich rede nicht der Beliebigkeit oder einer billigen „Schwamm-drüber“-Mentalität das Wort. „Fehlbarkeit“ hat es vielmehr mit der Übernahme von Verantwortung zu tun und lässt es nicht durchgehen, sich ins Allgemeine zu flüchten oder sich billig herauszureden auf die Strukturen oder die Sachzwänge. Weil wir fehlbar sind, bedarf es umso mehr der Bereitschaft zur Verantwortung.  Und es stellt sich die Frage nach fehlerfreundlichen Strukturen und Institutionen. Zugleich macht die Einsicht, dass Fehlbarkeit zum Menschsein selbst gehört, auch einen ‚menschlichen‘ Umgang mit Fehlern, Fehlannahmen und Fehleinschätzungen möglich und notwendig.

Das ist für mich auch eine politische, eine gemeinschaftliche Aufgabe. Weil uns die Fehlbarkeit verbindet, ringen wir miteinander um die Wahrheit. Wahrhaftigkeit, die ihrer eigenen Grenzen bewusst ist, ist die Basis eines demokratischen Miteinanders, die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Gerechtigkeit.

 

III.

In der letzten Strophe des Pfingstliedes heißt es:

„O öffne du die Herzen
der Welt und uns den Mund,
dass wir in Freud und Schmerzen
das Heil ihr machen kund.“

Wahrheit ist kein Selbstzweck, sie dient dem Leben. Eine Politik, der es um Wahrhaftigkeit geht und die sich der Wahrheit verantwortlich fühlt, wird immer eine soziale, lebensdienliche und humane Politik sein. Das Heil, von dem das Pfingstlied singt, liegt nicht bei denen, die „Heil!“ brüllen und Hatz auf Fremde machen. Im Gegenteil. Zu wissen, dass ich die Wahrheit nicht für mich gepachtet habe, heißt nicht – darauf lege ich größten Wert –alles in Relativismus aufzulösen nach dem Motto „Ich habe meine Wahrheit, und du hast deine Wahrheit“. Rechtspopulisten arbeiten gern mit dem demagogischen Vorwurf, sie würden schmerzliche „Wahrheiten“ aussprechen, wenn sie Homosexualität diffamieren, Migranten zur Gefahr erklären und das Parlament verhöhnen. Um es klar zu sagen: Sie lügen. Hier geht es nicht um die Grenzen der Wahrheit, sondern um den Unterschied zwischen Wahrheit und Hass, Wahrheit und einem geschlossenen Weltbild, Wahrheit und Menschenfeindschaft.

„Der Welt die Herzen öffnen“, das ist ein im besten Sinne dieses Wortes „frommer“ Wunsch – gerade in Zeiten, in denen sich jeder selbst der Nächste ist, nationalistische Reflexe aufflammen und Polarisierung und Spaltung an der Tagesordnung sind. Europa darf sich nicht selbst genug sein. Wir haben als Europäer:innen dank unseres Wohlstands und unserer Wirtschaftskraft eine globale Verantwortung. Auch das gehört zu einer wahrhaftigen Politik, die dem Geist der Wahrheit Raum gibt.

Mit großen Schritten geht es auf das Ende der aktuellen Legislaturperiode zu, einige wegweisende Gesetzesvorhaben der EU stehen noch zur Verabschiedung an. Kirchlicherseits interessieren uns besonders diejenigen Vorhaben, die Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung berühren.

„Licht und Klarheit“ wünsche ich den Innenminister:innen der EU-Mitgliedsstaaten für ihre Beratungen, die Anfang Juni auf dem Plan stehen. Da sollen wichtige Weichen gestellt werden für eine Reform des Europäischen Asyl- und Migrationsrechts.

„Licht und Klarheit“, das heißt in diesem Kontext für mich: keine EU-Asylrechtsreform auf Kosten der Menschenrechte! Aus Recht darf nicht Gnade werden. Das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention dürfen nicht derart ausgehöhlt werden, dass sie nur noch leere Worthülsen sind. Verpflichtende Asylverfahren an den Außengrenzen unterwandern auf Dauer die Glaubwürdigkeit der Europäischen Asylpolitik. Aus Flüchtlingsschutz droht Schutz vor Flüchtlingen zu werden, Inhaftierungen und Menschenrechtsverletzungen werden an der Tagesordnung sein. Europa darf sich nicht aus seiner humanitären Verantwortung stehlen. Der Zugang zu fairen und effektiven Asylverfahren auf europäischem Boden muss gewahrt bleiben - ebenso wie menschenwürdige Aufnahmebedingungen.

Ausdrücklich unterstützen wir jede Bemühung um mehr sichere und reguläre Wege in die EU. Statt mehr Grenzschutz, Haftzentren und der Aushöhlung des Asylrechts braucht es einen verpflichtenden Verteilungsmechanismus, der die Außengrenzstaaten im Fall von Überlastung unterstützt. Die unbürokratische Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge sollte hier für die EU-Reform Vorbildcharakter haben.

Heute Mittag haben wir uns im Europäischen Parlament über den Stand der Debatte um die europäische Lieferkettengesetzgebung informiert. Auch hier muss aus unserer Sicht alles getan werden, um nachteilige Auswirkungen auf Menschenrechte, Klima und Umwelt zu vermeiden. Die Erfahrungen zeigen, dass freiwillige Selbstverpflichtungen bei Weitem nicht ausreichen und wir eine EU-weite Gesetzgebung benötigen. Wir setzen uns für eine europäische Regelung ein, die alle Unternehmen und den Finanzsektor erfasst, die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick nimmt, die Rechte Betroffener durch eine zivilrechtliche Haftung stärkt und betroffene Interessensgruppen wie Gewerkschaften und Menschenrechtsverteidiger einbindet.

 

IV.

Ohne den pfingstlichen „Geist der Wahrheit“ werden wir in Europa keines der drängenden Probleme lösen können. Hier berühren sich das Pfingstereignis als Urdatum der Kirche und die Idee eines geeinten demokratischen Europas auf der Basis von Recht und Freiheit.

Die jüdische Philosophin Hannah Ahrendt schreibt in ihrem 1967 erschienenen Essay „Wahrheit und Politik“: „Politisches Denken und Urteilen bewegt sich zwischen der Gefahr, Tatsächliches für notwendig und daher für unabänderbar zu halten, und der anderen, es zu leugnen und zu versuchen, es aus der Welt zu lügen!“ (85). Aktuell scheint mir vor allem die zweite Gefahr die größere zu sein. Wo „Wahrheiten“ politisch instrumentalisiert werden, um Machtansprüche durchzusetzen, und die Lüge auch in demokratischen Staaten zunehmend als politische Waffe eingesetzt wird, führt dies zu einer Deformation der politischen Kultur. Das lässt sich nicht nur in Diktaturen beobachten.

Die Lüge beginnt schon damit, wenn systematisch versucht wird, die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen. Die eigentliche Gefahr aber ist, dass mit dem Verlust der Wahrhaftigkeit am Ende auch die politische Urteilskraft beschädigt wird. Auf diese selbstzerstörerische Kraft der Lüge hat Hanna Ahrendt hingewiesen:

Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“

Hannah Ahrendt beschreibt am Ende die Wahrheit als den Raum, in dem der Mensch leben kann. Sie bleibt Grenze und Grund seines Handelns:

Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das inhärente Versprechen, dass Menschen die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert. Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“

Man könnte dies auch als eine säkulare Beschreibung unseres Angewiesenseins auf den pfingstlichen Geist der Wahrheit lesen. So bleibt unsere sehnliche Bitte und Hoffnung:

O komm, du Geist der Wahrheit,

und kehre bei uns ein,

verbreite Licht und Klarheit,

verbanne Trug und Schein!

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