Predigt zum Reformationstag im english ministry in der Schlosskirche Wittenberg

Reverend Rafael Malpica-Padilla (Evangelical Lutheran Church in America)

„Hartnäckige, unerschütterliche Hingabe

 

Gnade und Friede von unserem Herrn Jesus Christus! Amen

Hier sind wir nun!-  Am 500. Jahresgedenktag der Reformation.

Tatsächlich ist dies ein sehr wichtiger Tag der Kirche und unserer Konfession. Heute gedenken wir - wie auch in jedem anderen Jahr - Martin Luthers und seiner Rolle innerhalb der Reformation der christlichen Kirche. Die Bedeutung dieses Ereignisses war und ist gerade Gegenstand Hunderter Präsentationen, Vorträge und Aktivitäten in aller Welt. Ich glaube nicht, dass Luther sich je vorstellen konnte, wie dieser Tag gefeiert würde. Noch viel weniger, dass ein lutherischer Pfarrer aus Puerto Rico, einer Insel, deren Bekanntschaft und die ihrer Ureinwohner Christoph Kolumbus 25 Jahre vor dem Anschlag der 95 Thesen gemacht hatte, hier an diesem Gedenkgottesdienst predigen würde.

Bei der Vorbereitung dieser Predigt fragte ich mich, „Was soll ich über Luther sagen? So vieles ist bereits über seine Persönlichkeit und seine Bedeutung für die Erneuerung der Kirche geschrieben worden. Lukas Cranach hat uns ja einen hilfreichen Hinweis hinterlassen. 1547 beendete Lukas Cranach der Ältere das Gemälde, das den Altar der Wittenberger Stadtkirche schmückt. Eine der Altartafeln zeigt Martin Luther wie er von der Kanzel predigt. Eine seiner Hände ruht auf der Bibel, die andere zeigt auf Christus am Kreuz als Verkörperung des Wortes Gottes. Luther war besessen vom Wort Gottes. Er lebte sein Leben geleitet, geführt, „verführt von diesem Wort.

In diesem Wort fand er Trost und Frieden für seine geängstigte Seele. Trotzdem verließ ihn eine Frage nie. Beständig befragte er sich selbst, wie kann ich vor Gott bestehen? - Nur aufgrund von Christus und seiner Gerechtigkeit, die uns zugerechnet wird, können wir vor dem ewigen Gott bestehen, wie es Paulus an die Römer schrieb: „Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht 'Der Gerechte wird aus Glauben leben.Hier finden wir den Christus, auf den Luther in seinen Predigten zeigt. Christus ist der Fleisch gewordene Gott. Christus ist derjenige, durch den Gott mit mir die Gemeinschaft wieder herstellt und durch den ich befähigt werde, wieder in Gemeinschaft mit anderen zu treten. Für Luther und die anderen Reformatoren war dies der wichtigste Glaubensartikel. Mit diesem Artikel steht oder fällt die Kirche.

Dieser radikale Anspruch, der in der Rechtfertigungslehre postuliert wird, führte zu vielen Disputen und Verurteilungen. Aber in den letzten Jahrzehnten haben wir viele Fortschritte in unseren ökumenischen Dialogen erlebt. Dies in Besonderem mit der römisch-katholischen Kirche. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1995) will aufzeigen, dass es den unterzeichnenden lutherischen Kirchen und der römisch-katholische Kirche nun aufgrund ihres Dialoges möglich ist, ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigung durch Gottes Gnade durch den Glauben an Christus zu artikulieren. Zusammen bekräftigen wir, dass Rechtfertigung das Werk des Dreieinen Gottes ist; dass Christus selbst unsere Rechtfertigung ist und dass wir „allein durch Gnade durch die Heilstat Christi und nicht aufgrund irgendwelcher Verdienste unsererseits von Gott angenommen werden und den Heiligen Geist empfangen, der unsere Herzen erneuert und uns zu guten Werken befähigt und beruft. (Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung 1.3.16).

Befähigt und berufen, gute Werke zu tun! Somit ist Luthers Verständnis der Rechtfertigung eine verwandelnde Kraft. In Christus finden wir sowohl Gnade (favor) als auch Geschenk (donum). Wie der finnische Theologe Tuomo Mannermaa schreibt: „Die Rechtfertigung hat reale Auswirkungen. Christus, der Erlöser, wirkt nicht nur für uns, sondern auch in uns. Christus in uns, seine Gegenwart in unserem Leben durch den Glauben, macht uns offen für eine ganz neue Welt. Durch Christus befreit, sind wir nicht länger Gefangene unseres „angeborenen Narzissmus (Torvend). Wir können aufschauen und den anderen sehen, besonders den Nächsten in Not. Luthers Verständnis der Rechtfertigung als Verwandlung widerspricht nicht der zentralen Stellung der Sünde in seiner Theologie. Luther versteht Sünde als völlig auf sich selbst bezogen, die menschliche Neigung, alles nur zur Förderung des Selbst zu tun, nur aus Sorge um sich selbst und dabei Ressourcen zu gebrauchen, die als eigene Mittel beansprucht werden und nicht als Gaben Gottes. Luther argumentiert, dass sich die Menschen von diesem Zustand nicht selbst befreien können. Nur Gott kann dies als unverdientes Geschenk an uns bewirken. Gott kann den Sünder ergreifen und ihn umwandeln (Moe-Lobeda). Erst dieses Innewohnen Christi in uns befähigt uns, schrittweise und niemals perfekt mit der Liebe Christi zu lieben, die in uns wohnt. Mit einer Liebe, die Douglas Hare als “hartnäckige, unerschütterliche Hingabe” bezeichnet. Die unablässige Liebe Gottes, die das Zentrum unseres Lebens einnimmt, befreit dieses, um es für das Wort zu gewinnen. Die radikale Liebe Gottes macht uns frei von allen und allem und lässt uns niemandes Untertan sein, sie macht uns aber auch frei zu pflichtbewussten Dienern und Dienerinnen, die allen untertan sind.

Liebe ist das Wesen Gottes. Die Kirchenväter aus Kappadokien haben uns mit einem wunderbaren und doch einfachen Verständnis Gottes beschenkt. Gott ist eine Gemeinschaft, die durch Liebe aufrecht erhalten wird, in der jeder Mensch auf den anderen eingeht. Der lateinamerikanische Theologe Leonardo Boff fasst es in seinem Buch über die Dreieinigkeit großartig zusammen: “Am Anfang”, so schreibt er, “war die Einheit der Drei und nicht die Einsamkeit des Einen.” Es ist dieser äußerste Beziehungswille, der das Wesen Gottes ausmacht, den Gott für die ganze Schöpfung beabsichtigt. Wir sind umgeben von und werden aufgesogen vom perichoretischen, d.h. alles durchdringenden Tanz der Liebe. Es ist Gott durch Christus gegenwärtig im Glauben, der in uns durch seinen Geist wohnt.

Wir leben in einer sehr unruhigen Welt. Die Lösungen für unsere Probleme sind komplex. Aber wenn wir sie genauer betrachten, dann scheinen sie alle eine gemeinsame Wurzel zu haben: Wie sehen wir den anderen und wie beziehen wir ihn ein? Die Liebe Gottes, die wir durch die Gnade im Glauben an Christus empfangen, befähigt uns, das Antlitz Gottes im anderen zu sehen. Dies ist das größte Geschenk Luthers an uns, die Nächstenliebe als Fundament für unsere Beziehungen. Ich bin zutiefst überzeugt: Gäbe es ein drittes Sakrament in unserer Kirche, dann hieße dieses, „der gegenseitige Trost und das gegenseitige Gespräch nicht nur der und mit den Heiligen, sondern auch mit allen Kindern Gottes.

Viele lutherische Stimmen überall in der Welt arbeiten am „Umgestalten / der Transfiguration  Luthers (ein Verfahren in dem eine Figur eines gegebenen Kontextes die Fähigkeit hat,  Katalysator für die Erfahrungen innerhalb anderer Kontexte zu werden). Dabei wird der Nächste in Not zur neuen Sichtweise, um sich Luther wieder zu eigen zu machen. wieder neu zu verstehen. Dieser Luther gefällt den Menschen des Globalen Südens. Ein Luther, der für unser Alltagsleben Bedeutung gewinnt. Ein Luther, der uns Hoffnung gibt, wenn wir mit Situationen konfrontiert werden, in denen unsere Menschlichkeit bis an ihre Grenzen gepuscht wird. Ein Luther, der im Zentrum der sozial-wirtschaftlichen Revolution stand, die der Reformation innewohnt. Es ist die Liebe, die Nächstenliebe Luthers, die uns zu der kritischen Sichtweise befähigt, die wir in der heutigen Welt dringend benötigen, „um uns für Lebenswege zu verpflichten, um diese neu zu gestalten, zu schmieden und uns anzueignen, um die Gleichheit unter den Menschen zu schaffen und eine nachhaltige Beziehung zwischen allen Menschen und mit unserem Heimatplaneten (Lobeda).

Was aber ist mit diesem Luther geschehen? Wo hören wir erneut seine Stimme? In den meisten Fällen – und hier denke ich an meinen nordamerikanischen Kontext – ist Luther doch domestiziert worden. Seine prophetische Stimme wird in unserer Mitte nicht mehr gehört. Er ist zum Gegenstand gelehrter Abhandlungen in unseren theologischen Experimenten geworden. Wir müssen Luther aus seiner babylonischen Gefangenschaft befreien.

In seinen Werken hat Luther in eine sehr unruhige Welt hinein gesprochen. Der ältere und reifere Luther zeigte eine tiefe Besorgtheit um die Ausgeschlossenen und Marginalisierten seiner Zeit. Er drängte die Gemeinschaft der Nachfolger Jesu, ihren Herrn und Meister in den Leidenden zu finden, en los „crucificados de Dios. In Bezug auf die Armen ist das Verständnis Martin Luthers der Gebote gegen Töten, Stehlen und Begehren ernüchternd:

1) Wir übertreten das Gebot „Du sollst nicht töten, wenn wir den anderen nicht helfen und sie darin nicht unterstützen, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen. Wie Luther erklärt, „Wenn du einen siehst, der Hunger leidet und du ihm nicht zu essen gibst, dann hast du ihn verhungern lassen.

2)„Stehlen kann auch beinhalten, „unseren Nachbarn in jeglicher Art zu übervorteilen, die für ihn oder sie einen  Verlust bedeutet … wo immer Handel betrieben wird und Geld für Güter und Arbeit eingetauscht wird.

3) „Du sollst nicht begehren heißt, „Gott will nicht, dass du deinem Nächsten in irgendeiner Weise etwas wegnimmst, das ihm gehört, sodass er nicht Verlust erleide, während du deiner Habsucht frönst (Siehe ELCA:  Ausreichende, nachhaltige Lebensgrundlage für alle).

Da hört er aber nicht auf. In seiner Abhandlung über das Altarsakrament beschreibt er den „glücklichen Austausch nicht nur als ein zweiseitiges Erlebnis, das heißt zwischen Gott und dem Menschen, sondern als ein multidimensionales: „Hier muss dein Herz ins Leben hinausgehen und lernen, dass dies ein Sakrament der Liebe ist. So wie dir Liebe und Unterstützung gewährt worden ist, musst du wiederum Liebe und Unterstützung an Christus in seinen Bedürftigen weitergeben. Denn auf dem Sakrament liegt kein Segen und keine Bedeutung, wenn nicht die Liebe tagtäglich wächst und einen Menschen so verändert, dass er eins werde mit allen anderen. So wird durch dieses Sakrament alle selbstsüchtige Liebe ausgemerzt und wird dem Raum geben, das das gemeinsame Wohl aller sucht.

Die Zeit ist reif, um zu erkennen, dass die Übersetzung von Luther in neue Kontexte hinein „einen Prozess der Transfiguration beinhaltet, in dem das alte, wenn auch relevant in seiner Wiedererscheinung, abstirbt (Westhelle). Das Jahr 1960 sah das Auftauchen dieser „neuen Häretiker in neuen Kontexten für das Luthertum:

Mr. Emmanuel Abraham und Rev. Gudina Tumsa aus der Äthiopischen Evangelischen Kirche  Mekane Yesus, Bischof Manas Buthelezi aus Südafrika, Bischof Josiah Kibira aus Tansania (der erste  Präsident aus dem Globalen Süden im Lutherischen Weltbund), Bischof Helmut Frenz in Chile und Bischof Medardo E. Gomez Soto in El Salvador. Sie alle fingen an, sich Luther von ihrem Kontext her neu anzueignen und seine Bedeutung als ein Werkzeug anzusehen, um Unterdrückungssysteme und Marginalisierungen aufzubrechen, um einer alternativen Realität für das Leben in der Gemeinschaft mit Jesus eine Chance zu geben.

Diese „neuen Häretiker begannen einen Prozess, den wir weiter verfolgen müssen. Die neuen Stimmen, besonders die Stimmen vom Rande her, die der Untergeordneten, sind kritisch und helfen uns, „den Prozess der Neukonfiguration der Reformation in unterschiedlichen Kontexten genau zu untersuchen … (Westhelle). Der brasilianische Theologe Vitor Westhelle zeigt auf eine wichtige Frage, die über uns schwebt: „Wie wird eine institutionalisierte Realität wieder zu einem Ereignis? Oder ganz einfach formuliert, kann und soll die 'Orthodoxie' wieder ihre häretischen Wurzeln finden?

Im Namen Jesu. Amen.

[Es gilt das gesprochene Wort]