Virtuelle Kirchen ohne Hierarchien

Immer mehr kirchliche Angebote im Internet

Evangelische Kommentare, 29 (1996), Heft Nr. 7, S. 421-424.

Das Internet

Der französische Philosoph Jean-François Lyotard erhob 1979 am Ende seines Essay "Das postmoderne Wissen" die Forderung, daß die Öffentlichkeit freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten müsse, um einem möglichen Terror durch das System vorzubeugen und Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft zu fördern. Von einer Öffnung aller Informationsspeicher und Datenbanken sind wir auch heute noch weit entfernt, aber im internationalen Computernetzwerk Internet, das praktisch niemandem und zugleich allen gehört, kündigt sich ein Medium an, welches zumindest die Möglichkeit in sich birgt, ein Informationsnetz zu werden, in dem jeder Mensch alle verfügbaren Informationen frei abrufen kann.

Im Internet sind derzeit etwa 40 Millionen Benutzer in 140 Ländern erreichbar, und die Menge der auf den Rechnern abrufbaren Informationen verdoppelt sich jedes Jahr. In diesem globalen Netzwerk kann der einzelne Benutzer in Universitätsbibliotheken nach Literatur suchen, sich an wissenschaftlichen Fachdiskussionen beteiligen, in über 16.000 "Newsgroups" mit weltweit Gleichgesinnten buchstäblich über Gott und die Welt reden, Software direkt vom Hersteller über die Telefonleitung nach Hause schaufeln, mit Freunden und Bekannten Nachrichten austauschen oder schnell einmal nachsehen, wann die Kunsthalle in seiner Stadt eigentlich geöffnet hat. Wahrscheinlich wird man auch weiterhin die großen Werke der Weltliteratur in Buchform und nicht am Monitor lesen, doch Nachrichten und Informationen mit kurzem Verfallsdatum werden zunehmend über dieses Medium verbreitet, ebenso wie Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge, Kulturkalender, regionale und örtliche Veranstaltungshinweise.

Momentan wird dieses Informations- und Kommunikationsmedium erst von einer kleinen Info-Elite genutzt, doch mit benutzerfreundlichen Software-Programmen, sinkenden Preisen für Datenleitungen und der Einspeisung in die Kabelnetze hat dieses Medium das Potential, zu einem wirklichen Massenmedium zu werden. Es steht allerdings zu befürchten, daß mit der zunehmenden Kommerzialisierung und der Einführung globaler Zahlungssysteme die schöne neue Welt der kostenlosen Informationsabfrage dahin sein wird. Von daher wird die eingangs erwähnte Vision Lyotards wahrscheinlich eine Utopie bleiben. Noch spucken jedenfalls die großen Such-Maschinen im Internet die Informationen aus ihren gigantischen Speichern kostenlos aus. Auch der Zugang zur Online-Recherche in Bibliotheken, zu Diskussionsforen, Fachinformationsdiensten und Online-Magazinen wird zumeist noch gratis gewährt.

Christen im Netz

Nachdem sich in den letzten Jahren schon Christen in der englischsprachigen Welt aktiv im Internet engagiert haben und dort heute jeden Tag an die 16.000 neue christliche Informationsseiten publiziert werden, haben auch die Kirchen in Deutschland das Internet als Medium für sich entdeckt. Seit im letzten Jahr die Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern mit ihren Informationen ins Netz ging, sind nun weitere kirchliche Angebote im "World Wide Web", dem Informationsdienst des Internet, zu finden: Hannover, Nordelbien, Württemberg sowie die EKD. Weitere Landeskirchen werden in diesem Jahr folgen: Rheinland, Kurhessen-Waldeck, Hessen-Nassau und einige ostdeutsche Kirchen. Neben den theologischen Fakultäten an den Universitäten, die schon früher im Rahmen der Universitätsinformationsdienste im Netz präsent waren, haben auch viele freie Werke und christlichen Gruppen, darunter der CVJM, der Deutsche Evangelische Kirchentag sowie der Evangeliums-Rundfunk Informationen ins Netz gestellt.

Seit Beginn des Jahres haben auch an die 70 evangelische, katholische und freikirchliche Gemeinden mit einer Selbstdarstellung, aktuellen Nachrichten und Veranstaltungshinweisen den Schritt ins Internet gewagt. Fast täglich kommen neue Gemeinden hinzu. In der katholischen Kirche hat der Aufbruch in die virtuelle Welt des Internet ebenfalls begonnen: Während bei der Deutschen Bischofskonferenz noch über eine Internet-Präsenz nachgedacht wird, haben einige Diözesen und katholische Informationsstellen schon ein recht ansehnliches Angebot im World Wide Web zusammengestellt.

Das christliche Internetangebot macht einen bunten und zugleich verwirrenden Eindruck: ein einheitliches Erscheinungsbild und gemeinsame Standards für die Präsentation der Inhalte sucht man vergebens. Das Internet spiegelt die reale Pluralität der Evangelischen wie der Katholischen Kirche wider, nur daß hier die Hierarchien vollständig aufgelöst sind: der Vatikan steht gleichberechtigt neben der virtuellen Diözese von Jacques Gaillot und dem KirchenVolksBegehren, die EKD gleichberechtigt neben den Angeboten der Freikirchen. Welche Informationsseiten wie oft angewählt werden, entscheidet allein der Benutzer.

Neben aktuellen Informationen aus den Landeskirchen, Bistümern, Akademien, theologischen Fakultäten, Werken, Vereinen, Verbänden, Fortbildungsstätten und Gemeinden werden auch christliche Inhalte wie die Tageslosung, Predigten, Meditationen, Andachten, die Zehn Gebote, das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und diverse Bibelausgaben mit Suchfunktion angeboten. Verlautbarungen und Erklärungen der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, Synodenberichte, Adressen und Kontaktmöglichkeiten zu verschiedenen kirchlichen Stellen finden sich ebenso wie interaktive Angebote zur Seelsorge, Diskussionsforen, Gästebücher und Mailinglisten. Der Evangelische Posauendienst in Deutschland hat eine Tauschbörse für Instrumente eingerichtet, die EKD einen Quiz zum Lutherjahr 1996, und der Deutsche Evangelische Kirchentag bietet Informationen rund um den Kirchentag 1997 in Leipzig an, der mit ausgesuchten Inhalten auch im Netz weltweit zu verfolgen sein wird.

Nicht überall hat die Qualität der Informationen die gleiche Güte: Wenn an Pfingsten die Silvesterpredigt des Pfarrers oder der Pfarrin immer noch auf der Startseite der Kirchengemeinde steht, kann man wohl kaum von einem "aktuellen" Informationsangebot sprechen. Mehr oder weniger vorsichtig wagen sich die Kirchen in dieses neue Medium hinein, sammeln Erfahrungen, und es bleibt zu hoffen, daß die christlichen Informationsangebote zügig und zugleich dem Medium entsprechend ausgebaut werden.

Warum Kirche im Internet?

Was aber motiviert nun Christen, insbesondere die Kirchen zu einer Präsenz in diesem neuen Medium? Zunächst eignet sich das Internet zur innerkirchlichen Information und Kommunikation: Adressen kirchlicher Stellen und die jeweiligen Ansprechpartner lassen sich über Datenbankprogramme oder Such-Maschinen viel schneller als bisher finden, und über E-Mail kann dann gleich mit den entsprechenden Personen Kontakt aufnommen werden. Ergebnisse von Synoden, Mitteilungen der Kirchenämter an die Gemeinden, Pressetexte, Fragebögen, Unterschriftenlisten, Erklärungen und Stellungnahmen zu aktuellen Themen lassen sich über dieses Medium viel schnell, komfortabler und kostengünstiger verbreiten als über die Briefpost oder Fax, weil alle Informationen auf dem Computer weiterverarbeitet oder gleich an Ort und Stelle ausgedruckt werden können. Die deutschen Auslandspfarrer in Südamerika oder Asien müssen nicht mehr bis Ostern auf die Nachrichten des Evangelischen Pressedienstes von Weihnachten warten, sondern können sie an dem Tag über E-Mail empfangen, an dem sie in der epd-Zentralredaktion in Frankfurt abgeschickt werden. Ebenso muß der EKD-Bulletin nicht mehr zu horrenden Portokosten nach Übersee verschickt werden, sondern diejenigen, die irgendwo in der Welt einen Internet-Anschluß haben, können die Nachrichten auf dem World Wide Web-Server der EKD in Deutschland abrufen und auf ihrem Computer in Lima, Rio, Washington, Johannesburg, Malmö oder Tokio abspeichern und ausdrucken. Gerade auch für die Ökumene und den Kontakt zu den Partnerkirchen in anderen Ländern ergeben sich hier interessante Perspektiven.

Die Chancen und Herausforderungen dieses neuen Mediums liegen aber auf einem anderen Gebiet: Im Unterschied zu den herkömmlichen Medien (Printmedien, Rundfunk und Fernsehen) können die interaktiven Möglichkeiten des Internet auch dazu genutzt werden, mit Menschen direkt in Kontakt zu kommen, die nicht regelmäßig kirchliche Veranstaltungen frequentieren: über E-Mail und Diskussionsforen, in denen Kirche zur Kommunikation einlädt. Der Klick mit der Maus auf einen E-Mail-Button fällt vielen Menschen leichter als der Gang zum sonntäglichen Gottesdienst oder zu einem Seelsorgegespräch mit der Pfarrerin oder dem Pastor. Beides kann das Internet nicht ersetzen, aber die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme ist sicher geringer. Das jedenfalls zeigen die Erfahrungen der Internet-Seelsorge. Durch ein interessantes und attraktives Angebot, durch eine ausgewogene Mischung von hochwertigen Informationen, einer offenen und direkten Kommunikation und "Edutainment"-Elementen können Menschen einen ganz neuen Zugang zum Glauben und zur Kirche gewinnen und christliche Inhalte auf neue Weise vermittelt werden.

Ob dies gelingt, wird wesentlich davon abhängen, ob die Kirchen es schaffen, sich auf dieses Medium und seine Benutzer wirklich einzustellen. Die Anfänge sind gemacht, die christlichen Angebote im Internet werden von den "Usern", meist jüngeren Menschen zwischen 15 und 35 Jahren, gut angenommen, und es entstehen täglich neue Kontakte auch zu Menschen, die eigentlich nicht so viel mit der Kirche "am Hut" haben. Die Diskussionsforen zum Thema "Religion und Glaube" in den Online-Diensten CompuServe und T-Online sind jeden Abend voll, und es wäre wünschenswert, wenn sich noch mehr Christen an diesen Gesprächen beteiligen würden.

Andererseits sollte man vom Internet auch keine Wunder erwarten. Die Kommunikations- und Strukturprobleme der Kirchen werden durch das Internet nicht gelöst: Wenn die großen Themen, mutigen Stellungnahmen, originelle Aktionen oder medial wirksame Persönlichkeiten fehlen, wenn die Gemeinden lieber darauf warten, daß die Menschen zu ihnen kommen, statt sich umgekehrt auf den Weg zu ihnen zu machen, wenn in den Mühlen kirchlicher Gremien das prophetische Wort der Kirche systematisch zerrieben wird, wird auch das Internet an dieser Situation wohl kaum etwas ändern. Und es hilft auch nichts, wenn die zumeist jungen Internet-User von der Kirche im Netz recht angetan sind, dann aber von einer verstaubten und unpersönlichen Atmosphäre in den Gemeinden Vorort enttäuscht werden.

Nicht zuletzt würde es den Kirchen und der theologischen Wissenschaft gut anstehen, sich mit den Chancen, Grenzen und Gefahren dieses neuen Mediums und seinen politischen, gesellschaftlichen und ethischen Implikationen auseinanderzusetzen, um bei den anstehenden politischen und juristischen Entscheidungen im Wachstumsmarkt Telekommunikation kompetent mitreden zu können. Um jedoch ein Gefühl für dieses Medium und seine speziellen Kommunikationsformen zu bekommen, reicht es nicht aus, Bücher und Zeitschriften zu lesen und der Sekretärin einen E-Mail-Anschluß einzurichten. Nur wer selbst im Internet recherchiert und nur wer seine E-Mails auch selbst schreibt und beantwortet, bekommt ein Eindruck von dem, was Information und Kommunikation im Internet bedeuten. Auf ins Netz!

CU


Autor: Dr. Matthias Schnell