Bericht des Rates der EKD mündlicher Teil (A)

4. Tagung der 12. Synode der EKD vom 12. bis 15. November 2017 in Bonn

EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm am Rednerpult vor dem Plenum der EKD-Synode in Bonn
Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.
EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm


Es gilt das gesprochene Wort.

„Von der Freiheit der Kinder Gottes“

Liebe Schwestern und Brüder

Seitdem wir uns vor einem Jahr zur Synode in Magdeburg versammelt haben, ist viel passiert. Für unsere Evangelische Kirche in Deutschland gehört dieses vergangene Jahr mit seinem 500. Reformationsjubiläum sicher zu einem der intensivsten Jahre der jüngeren Geschichte. Aber auch jedem, der die Welt mit wachen Augen wahrnimmt, kann schwindlig werden. Die Nacht der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten wird sich für mich immer mit der Synode in Magdeburg verbinden. Die damals nicht nur bei mir entstandenen Gefühle stehen für vieles, was uns auch heute beim Blick in die Welt bewegt und uns weiterhin Sorgen macht.

Als Christen lesen und deuten wir die Welt im Lichte der Botschaft des Evangeliums. Die biblische Botschaft ist uns Quelle der Kraft und der Orientierung. Vielleicht war es gerade deswegen ein Segen, dass genau in den letzten zwölf Monaten das so lange geplante und erwartete Reformationsjubiläums- und -gedenkjahr gewesen ist. In vieler Hinsicht ist dieses Jahr Anlass zu großer Dankbarkeit. Es hat einen Vitaminstoß für die geistliche und inhaltliche Erneuerung unserer Kirche gegeben, den wir gerade jetzt brauchen. Wir haben einen kraftvollen Reformationstag in Wittenberg gefeiert. Der Staat hat diesen so besonderen Tag nicht nur mit einem Feiertag, sondern auch mit einem Festakt gewürdigt. Am meisten aber haben mich die Berichte von überall her aus dem ganzen Land zu den Reformationsgottesdiensten gefreut. Es war ein großes Erntedankfestgefühl. Auf meiner Facebookseite haben viele von dem erzählt, was auch in zahlreichen Presseartikeln aus den Regionen zum Ausdruck kam: Die Kirchen waren überfüllt. In vielen Fällen mussten sie geschlossen werden, weil einfach kein Platz mehr war. „Wie Weihnachten und Ostern zusammen“ – so war in einer Schlagzeile zu lesen. Und aus den Beiträgen, die ich gelesen habe, sprach echte Begeisterung.

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Aus Heidelberg wurde im Netz berichtet: „Ich bin noch immer ganz überwältigt von gestern Abend. Wann mussten wir je eine Kirche wegen Überfüllung schließen? Mehr als 1200 Leute passen nun leider auch nicht in die Heiliggeistkirche. So etwas habe ich noch nie erlebt, Menschen saßen auf dem Boden, auf den Stufen zur Kanzel, auf den Säulenvorsprüngen... Dieser Reformationsgottesdienst… war ein ganz besonderes Erlebnis. Ein Journalist merkte an: ich dachte, die Leute seien reformationsmüde. Dieser Gottesdienst zeigt ein anderes Bild. Ich bin einfach nur dankbar...“

In einem anderen Kommentar heißt es:

„Und wir in Wuppertal haben einen Zustrom von etwa 3.000 Menschen erlebt, die in unserer "guten Stube", der Stadthalle, den zentralen Reformationsgottesdienst feiern wollten. Ein herzliches Dankeschön an das Stadthallenteam, das alle Nebensäle spontan öffnete, wo immer möglich Stühle heranschleppte, Übertragungsmöglichkeiten installierte. Und DANKE an die improvisierenden Veranstalterinnen/er. Und an die Konfirmanden, die 500 Lutherbrötchen gebacken hatten, die sich die ca. 3.000 Besucher/innen teilten... Die evangelische Kirche sollte nach diesen landweiten Erlebnissen, überlegen, welche Schlüsse sich daraus ergeben.“ Die Aufforderung gebe ich gerne an diese Synode weiter, die sich ja genau der Auswertung des Reformationsjubiläums widmen will.

Für mich ist die erstaunliche Beteiligung an den Gottesdiensten, die oft auch bewusst ökumenisch gehalten waren, eine Frucht der Arbeit vieler Menschen im ganzen Land. Mit viel Kreativität und Leidenschaft wurden zigtausende Veranstaltungen ganz unterschiedlicher Art auf den Weg gebraucht. Und alle haben dazu beigetragen, dass die Inhalte des Reformationsjubiläums die Herzen der Menschen erreichten. Das gilt jenseits aller Diskussionen um erwartete und tatsächliche Besucherzahlen oder Ticketverkäufe. Allen, die sich hier so wunderbar engagiert haben, möchte ich an dieser Stelle einfach von Herzen danken! Heute Abend wird zusammen mit dem Präsidium der Synode Gelegenheit sein, diesen Dank einigen Menschen gegenüber nochmals konkreter zum Ausdruck zu bringen.

Dass wir ganz unterschiedliche Ebenen der Kommunikation mit unterschiedlichen Zielgruppen gewählt haben, hat sich bewährt. Im äußeren Kreis lag die Kommunikation der historischen und kulturellen Bedeutung der Reformation. Hier haben Staat und Kirche aus guten Gründen bei Vielem zusammengearbeitet. Nicht zuletzt dieser Zusammenarbeit ist es zu verdanken, dass schon die Reformationsdekade, und erst recht das Reformationsjubiläumsjahr, zu einem echten Bildungsereignis geworden sind.

Der mittlere Kreis ist die neue Suche nach Gott: Gott neu entdecken, neu erfahren, neu denken – so haben wir das genannt. Auf der Weltausstellung und an vielen anderen Orten sind Menschen, die dem Glauben und der Kirche eher distanziert gegenüberstehen, ins Gespräch über religiöse Fragen gekommen und in vielen Fällen auch neugierig geworden. Es gab Formen wie selbst verfasste Theaterspiele mit Laienschauspielern, die manchmal ein ganzes Dorf oder eine ganze Stadt auf die Beine brachten. Und das von 30 000 Menschen gesungene und von 170 000 Menschen gesehene und gehörte Pop-Oratorium Martin Luther hat mit den gespielten oder gesungenen Inhalten die Herzen von Menschen erreicht, die den Weg zur Kirche normalerweise nicht oder nur schwer finden.

Für den inneren Kreis, von dem alles andere ausging, haben wir den Begriff „Christusfest“ gefunden. Dadurch war immer klar, was Ausgangspunkt aller anderen Kommunikationen ist: Jesus Christus als Grund dessen, was Martin Luther die „Freiheit eines Christenmenschen“ genannt hat. „Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ – sagt Paulus (2. Kor 3,17). Durch diesen Kern, um den genau es Martin Luther und den anderen Reformatoren selbst gegangen ist, wurde der Weg frei zu einem Reformationsjubiläum und -gedenken, das zum ersten Mal in der Geschichte in ökumenisch geschwisterlichem Geist gefeiert wurde. Das, liebe Schwestern und Brüder, gehört für mich zu den geistvollen Wundern des vergangenen Jahres, wofür ich von Herzen dankbar bin!

Zur Ökumene haben Kirchenpräsident Christian Schad und Landesbischof Karl-Hinrich Manzke am Freitag einen eigenen Bericht gegeben. Lassen Sie mich nur so viel hinzufügen: Natürlich gibt es auch nach diesem Reformationsjahr 2017 noch gewichtige Hürden auf dem Weg zu einer sichtbaren Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Kardinal Woelki, über dessen heutige Anwesenheit ich mich sehr freue, hat sie angesprochen. Aber sie sind überwindbar und nicht notwendigerweise kirchentrennend. Es gilt, weiter und noch intensiver miteinander zu reden und einander zuzuhören. Wir werden auch nach 2017 unbeirrt den begonnenen Weg weiter gehen und uns immer wieder von neuem die geistliche Anfrage nahe gehen lassen, die schon Paulus an die Gemeinde in Korinth gestellt hat: „Ist Christus etwa zerteilt?“ (1. Kor 1,13). Und dann die einzig mögliche Antwort darauf geben, indem wir alles tun was wir können, um auf der Basis der einen Taufe die eine Kirche des einen Herrn zu werden. Ich glaube, dass das große wechselseitige Vertrauenskapital, das dieses Jahr gebracht hat, aber auch die Ermutigungen durch Papst Franziskus, eine sehr gute Grundlage dafür sind.

Ich habe im vergangenen Jahr die Erfahrung gemacht, dass menschliche Begegnung und das Vertrauen, das daraus wächst, eine wichtige Triebkraft der Ökumene sind. Das gilt für die vier Begegnungen, die ich in vergangenen beiden Jahren mit Papst Franziskus hatte. Das gilt für meine Teilnahme am panorthodoxen Konzil in Kreta und meinen Besuch bei Patriarch Bartolomaios I. in Istanbul sowie seinen Gegenbesuch in Tübingen im Mai dieses Jahres. Das gilt aber auch für die Konsultationen mit der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau vor 10 Tagen. Und es gilt für die Gespräche mit den Patriarchen der orientalischen Kirchen im Oktober in Berlin. Papst Tawadros II. werde ich am kommenden Samstag anlässlich meines Besuches zur Reformationsjubiläumsfeier der evangelischen Christen in Kairo wieder treffen. Dass die Spitzen des Lutherischen und des Reformierten Weltbunds sowie des Ökumenischen Rates der Kirche an vielen unserer zentralen Reformationsfeiern dieses Jahres selbst teilgenommen haben, zeigt eine Verbundenheit mit uns als Evangelischer Kirche in Deutschland, für die ich sehr dankbar bin.

Ich möchte an dieser Stelle eine Gruppe von Menschen ansprechen, die sich in ganz besonderer Weise in diesem Reformationsjubiläumsjahr engagiert hat: den akademischen Theologinnen und Theologen. Entgegen manchem Eindruck in der veröffentlichten Meinung gab es in Vorbereitung und Durchführung keinen Graben zwischen akademischer Theologie und Kirchenleitung. Die entsprechenden Diagnosen beruhen auf der Verallgemeinerung von einigen wenigen Aufsätzen, die sich mit dem Verhältnis von akademischer Theologie und Kirche im Reformationsjubiläumsjahr befassten und wegen ihres bewusst zuspitzenden und zuweilen auch polemischen Charakters besondere Aufmerksamkeit fanden. Solche Zuspitzungen können notwendige Debatten befruchten. Ich bin aber sehr dankbar, dass der Eindruck, hier handele es sich um einen Konflikt zwischen der akademischen Theologie und der Kirche inzwischen überwunden ist. Dass die Kirche die kritische Begleitung der akademischen Theologie braucht, ist ebenso unbestreitbar wie die Aufgabe der Kirche, für einen institutionellen Kontext einzutreten, der der akademischen Theologie genau eine solche kritische Begleitung ermöglicht.

Aus all den Debatten ist festzuhalten: Weder eine reine Historisierung der Reformation wäre ein angemessener Beitrag von Kirche und Theologie zum Reformationsjubiläum noch eine pure Aktualisierung der Reformation, die aus ideologischen Gründen das einfach ignoriert oder bewusst verschweigt, was den eigenen Aktualisierungen historisch widerspricht. Weder kann man schlichte Brücken von der Reformationszeit in die Gegenwart schlagen und Luther, Zwingli oder Calvin kurzerhand für moderne Gedanken vereinnahmen. Noch kann man sich der Aufgabe entziehen, die Impulse der Reformation im Hinblick auf ihre heutigen Orientierungsleistungen in den Blick zu nehmen.

Heute möchte ich all denen in der akademischen Theologie danken, die sich genau dieser Aufgabe in den letzten Jahren in höchst beeindruckender Weise gestellt haben. Sie alle haben einen riesigen Anteil am Gelingen des Reformationsjubiläums.  Ob es internationale Fachtagungen waren oder die zahlreichen Publikationen oder Vorträge auf allen kirchlichen Ebenen oder auch die Mitarbeit in den Kammern, Kommissionen und Ausschüssen der Landeskirchen und der EKD, und natürlich die Mitarbeit an der Bibelrevision 2017.

Zu den wichtigsten Erträgen des Reformationsjubiläums gehört für mich die Einsicht, dass die vielfach geäußerte Einschätzung, dass theologische Gedanken aus der Welt des ausgehenden Mittelalters uns heute nichts Substantielles mehr zu sagen haben, schlicht falsch ist.

 

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Kirchliche Positionen zwischen Moralismus und Freiheit

Die reformatorische Rechtfertigungslehre ist, davon bin ich überzeugt, für das Problem höchst relevant, das die Seele unseres Landes im vergangenen Jahr vielleicht mehr beschäftigt hat als jedes andere. Ich spreche von „Seele“, weil es hier um Tiefenstrukturen öffentlicher Diskussionen geht, die normalerweise nicht thematisiert werden, weil die Öffentlichkeit keine Sprache dafür hat. Die reformatorische Theologie hatte eine Sprache dafür. Und die Frage ist, ob es uns irgendwie gelingt, sie für heutige Antennen empfänglich zu machen.

Ich habe in meiner Predigt am Reformationstag in Wittenberg einen Satz gesagt, den ich noch näher erläutern möchte: „Weder Obergrenzen für die Unterstützung von Menschen in Not helfen diesem Land noch moralische Durchhalteparolen. Was dieses Land braucht, ist eine neue innere Freiheit.“

Natürlich ist in diesem Satz vor allem das Wort „Obergrenze“ zitiert worden, weil es auf aktuelle politische Diskussionen angespielt hat. Der Satz geht aber weiter. Auch moralische Durchhalteparolen helfen nicht weiter. In diesen Worten steckt auch ein gehöriges Stück Selbstkritik. Denn es ist ja nicht zu übersehen, dass unsere Hinweise und Anregungen zu einer offenen Flüchtlingspolitik und zur tatkräftigen Nächstenliebe bei der Begleitung der Integration der Flüchtlinge von nicht wenigen Menschen in Deutschland als solche moralisch unter Druck setzende Durchhalteparolen empfunden worden sind. Es sind im vergangenen Jahr ganze Bücher geschrieben worden, die auf genau dieser Wahrnehmung beruhen. Unsere öffentlichen Positionierungen zur Flüchtlingspolitik sind ganz offensichtlich von diesen Menschen als gesetzlich und moralistisch empfunden worden. Und auch die Diagnose von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die Flüchtlingspolitik sei zum moralischen Kampfgebiet geworden, gründet in der Beobachtung, dass hier vor allem „moralische Imperative“ ins Spiel gebracht worden sind.

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Die Positionen halte ich nach wie vor für richtig, so sehr ich weiß, dass es dazu auch in unserer Kirche unterschiedliche Auffassungen gibt. Umso nachdenklicher muss es uns machen, dass die Vermittlung dieser Positionen uns nur bedingt, bei Manchen gar nicht, gelungen ist. Denn das, was Martin Luther in seiner Freiheitschrift beschreibt, ist ja gerade nicht ein Handeln als Folge von moralischen Appellen, sondern ein Handeln aus innerer Freiheit.

Wie können wir heute, in einer pluralistischen Öffentlichkeit, so reden, dass Menschen, die den Aufruf zum Eintreten für Flüchtige so nicht teilen können, angesichts unserer Stellungnahmen nicht mit dem Gefühl zurückbleiben, ein schlechterer Mensch oder ein unzulänglicher Christ zu sein und vielleicht dann zum aggressiven Gegenangriff auf die übergehen, die sie als „Gutmenschen“ empfinden?

Auch Luther hat dieses Problem in seiner Zeit genau gekannt. Auf der damals für alle gemeinsamen Grundlage des christlichen Glaubens hat er darauf mit seinem Verständnis von Gesetz und Evangelium eine klare Antwort gegeben. Der Mensch, so hat er gesagt, hört das Gebot Gottes und spürt, dass es ihn überfordert. Wir können uns heute sehr genau vorstellen, wie diese Überforderung ihren Ausdruck findet. Weil wir solche Überforderung in je unterschiedlicher Weise und – jenseits der jeweiligen Positionen zu konkreten politischen Fragen – alle genau kennen. Und weil wir heute genauso wie die Menschen damals unsere je unterschiedlichen Strategien hiergegen suchen.

Erste mögliche Reaktion: weil die moralischen Maßstäbe unerfüllbar sind, senken wir sie soweit ab, bis sie erfüllbar sind. Ethisch verpflichtend ist nur die Hilfe gegenüber denen, die uns unmittelbar anvertraut sind. Ein universalistisch verstandenes Nächstenliebegebot überfordert. Wir können nicht die ganze Welt retten, also setzen wir z.B. Zahlen für Hilfsbedürftige fest, die wir für bewältigbar halten.

Zweite mögliche Reaktion: Wir verdrängen schlicht und einfach die Not, die wir für nicht bewältigbar halten. Dazu dürfen die davon betroffenen Menschen aber nicht vor unserer Haustür landen. Sie müssen von unserem Land ferngehalten werden. Denn den Fernseher, durch den die Not der Welt in unser Wohnzimmer kommt, können wir zwar ausschalten. Den Menschen, der uns in Fleisch und Blut begegnet, können wir aber nicht aus unserem Bewusstsein fernhalten.

Dritte mögliche Reaktion: Wir verfallen in Depression, weil wir uns anrühren lassen von dem Leid der Welt, weil das schlechte Gewissen uns erdrückt und weil wir selbst das Leben nicht mehr genießen können, wenn es anderen so schlecht geht.

Vierte mögliche Reaktion: Wir helfen, wo wir können, und weil wir so aktiv sind, man könnte auch sagen: weil wir so viele gute Werke tun, leben wir mit gutem Gewissen.

Martin Luther stellt uns eine nochmal andere Reaktion vor Augen. Er hat vom überführenden Gebrauch des Gesetzes gesprochen („usus elenchticus legis“) und darin die Grundlage für den Empfang des Evangeliums gesehen. Wer einigermaßen ehrlich ist mit sich selbst – hat er gesagt – , wird sich eingestehen, dass er dem Gebot Gottes nicht gerecht wird. Dass er nicht gerecht wird aus Werken. Sondern dass er ganz angewiesen ist auf das Evangelium. Auf die Erkenntnis und Gewissheit, dass allein Gottes Gnade uns aus den mit einer ehrlichen Selbsterkenntnis verbundenen Abgründen herausführen kann. Dass allein Christus und sein Einstehen für uns aus der Selbstanklage des schlechten Gewissens herausführen und uns wieder frei machen kann.

Dieses Gefühl der inneren Freiheit ist es, das dann tatsächlich zum Handeln führt, aber eben keinem Handeln aus schlechtem Gewissen, aus political correctness oder aus dem Versuch der moralischen Selbsterhöhung, sondern wirklich aus Freiheit. Ein solches Handeln aus Freiheit verurteilt andere nicht.

Diese Antwort auf die Gebote Gottes, die man dann mit Bezug auf Melanchthon und Calvin den „usus in renatis“, den Gebrauch des Gesetzes für die Wiedergeborenen, genannt hat, ist eine Antwort des Glaubens. Wenn wir als Kirchen in den vergangenen Jahren um Hilfsbereitschaft für Menschen in Not geworben haben, dann haben wir von diesem Handeln aus Freiheit gesprochen. Angekommen ist aber bei Manchen nur Moral und Gesetz. Und das Gefühl, bei innerer Abwehr gegenüber  den moralischen Aufrufen selbst als schlechter Mensch da zu stehen.

In der Theologie sprechen wir von Zuspruch und Anspruch. Der Anspruch kann nur zu einem wirklich kraftvollen Handeln führen, wenn er gegründet ist im Zuspruch, wenn auch die Kraft, entsprechend zu handeln, freigesetzt wird. In unseren öffentlichen Äußerungen ist viel zu oft nur der Anspruch rübergekommen. Wie – so lautet deswegen die umso dringlichere Frage – können wir auch den Zuspruch rüberbringen?

Nun muss natürlich unterschieden werden zwischen der Perspektive des einzelnen Christen, der das eigene Scheitern am Gebot Gottes erkennt und dadurch umso offener wird für die Botschaft von der freien Gnade Gottes, und einer pluralistischen Öffentlichkeit, die für den Zuspruch des Evangeliums jedenfalls nicht in gleicher Weise empfänglich ist. Und wir müssen für den gegenwärtigen Zustand dieser  pluralistischen Öffentlichkeit  kritisch diagnostizieren: Der aktiv nachgefragte Bedarf an ethischer Orientierung ist einerseits deutlich gestiegen. Ich merke dies in jedem meiner vielen Gespräche mit Medien, Politik, Wirtschaft und Kultur. Wenigsten die Kirchen – so heißt es dann – mögen uns doch bitte den Weg weisen! Ebenso wahr ist aber auch: Gefährlich abgenommen und massiv an Substanz eingebüßt haben die angemessenen Formen des Umgangs miteinander im Diskurs der pluralistischen Öffentlichkeit. Differenzierte und nuancierte Stimmen haben es mittlerweile deutlich schwerer, dort Gehör zu finden, wo aggressiver Zuspitzung der Vorzug gegeben wird. Die freie Gewissensbildung jedes und jeder Einzelnen, die Anstrengung, ja vielleicht Zumutung einer qualifizierten ethischen Urteilsentscheidung und mit all dem ein Kernvermächtnis der gesamten protestantischen Tradition - das hat an breiter gesellschaftlicher Akzeptanz verloren.

Liebe Schwestern und Brüder, vor uns allen liegen in dieser Hinsicht anspruchsvolle Jahre. Selten war das authentische Glaubenszeugnis von Christinnen und Christen im Diskurs einer verunsicherten pluralistischen Öffentlichkeit so wichtig wie in diesen Zeiten.

Wenn wir uns für eine bestimmte Politik einsetzen, die uns etwas abverlangt, dann müssen wir auch im Blick auf die breitere Öffentlichkeit darüber nachdenken, aus welchen Ressourcen wir die damit verbundenen Herausforderungen bestehen können, und das kommunizieren.

Für eine Antwort auf diese Frage lohnt es sich auf einen Akzent in der Verkündigung Jesu zu schauen, der das jetzt beschriebene Problem erstaunlich klar in den Blick nimmt. Jesus stellt seine Hörer nämlich nicht einfach nur vor radikale Herausforderungen. Er wirbt auch dafür, indem er sie plausibilisiert.

Man kann das besonders schön sehen an dem wohl herausforderndsten Gebot Jesu überhaupt: dem Gebot der Feindesliebe. In der Feldrede bei Lukas, die das gleiche Traditionsgut aufnimmt wie die Bergpredigt bei Matthäus, mündet Jesu Aufforderung zur Feindesliebe in die sogenannte Goldene Regel, die als eine Regel gilt, die für alle Menschen plausibel ist:

„Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück.“ Und dann folgt erstaunlicherweise gerade hier die Goldene Regel: „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ (Lk 6,27-30).

Ihr würdet doch auch so behandelt werden wollen, wie ich es euch anbefehle – sagt Jesus. Also handelt gegenüber den anderen auch so. Es ist eine „werbende Vernunft“, mit der Jesus das plausibel machen will, was erstmal als Zumutung erscheint. Sie vermag auch Menschen zu erreichen, die sich nicht in der Lage sehen, steile religiöse Bekenntnisse abzulegen, aber den kategorischen Imperativ Immanuel Kants sehr wohl verstehen und das gleiche Recht aller anerkennen und dafür Verantwortung übernehmen wollen. Vielleicht leuchtet ihnen auch nur das Sprichwort ein, das die Goldene Regel in der negativen Form zum Ausdruck bringt: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“

Ich glaube, wir brauchen in unseren öffentlichen Kommunikationen mehr von dieser „werbenden Vernunft“, um den Anschein von Gesetzlichkeit und Moralismus zu überwinden. Ich habe im vergangenen Jahr vielfach einen Satz Martin Luthers aus der Freiheitsschrift zitiert: „Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott. Und aus der Liebe ein freies, fröhliches, williges Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen.“ Auch die Fortsetzung dieses Satzes ist kraftvoll. Sie atmet den Geist der Goldenen Regel: „Denn so, wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum sollen wir so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat durch seinen Leib und seine Werke, nichts anderes tun, als dem Nächsten zu helfen.“ Wir wenden uns der Not des Nächsten zu, weil wir ganz genau wissen, wie sehr wir selbst beschenkt worden sind, wo wir es gebraucht haben.

Ich glaube, dass auch Menschen, die nicht wie Luther ihr Gefühl des Beschenktwerdens auf die Christuserfahrung gründen, sondern einfach nur wahrnehmen, wie gesegnet sie in ihrem eigenen Leben sind, diesen Grundgedanken verstehen können. Wer Menschen, die sich für andere engagieren, nach ihrer Motivation fragt, bekommt auch tatsächlich häufig genau diese Antwort. Mir geht es gut und ich möchte etwas davon weitergeben.

Weil die Lebensverhältnisse auch hierzulande ungleich sind, darauf sei in diesem Zusammenhang jedenfalls deutlich hingewiesen, ist es umso wichtiger, diese Ungleichheit zu überwinden. Damit möglichst viele Menschen genau das auch tatsächlich von sich sagen können: Es gehtuns gut geht und  deswegen wollen wir auch anderen zu einem Leben in Würde helfen. Die Konjunktur boomt, die Steuereinnahmen sprudeln. Unser so reich gesegnetes Land hat jetzt die Kraft, neue Anstrengungen für mehr soziale Gerechtigkeit zu unternehmen.

Auf zwei weitere Herausforderungen für die Zukunft möchte ich noch eingehen: die Beteiligung junger Menschen in der Kirche und die große Zukunftsfrage des Klimawandels.

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Herausforderungen für die Zukunft

Kirche als Heimat für die Jugend

Neben Aufbrüchen in der Ökumene möchte ich eine weitere Frucht des Reformationsjahres 2017 nennen, die Anlass zu großer Dankbarkeit gibt. Das Jugendcamp in Wittenberg gehört zu den Erfolgsgeschichten des Jubiläumsjahres. 20 000 Jugendliche haben im Reformationssommer am Jugendcamp in Wittenberg teilgenommen. Mehrfach habe ich das Camp besuchen können und bin jedes Mal inspiriert wieder weggefahren. Anstatt selbst davon zu berichten, habe ich Ihnen einige Originalstimmen mitgebracht:

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Was die Jugendlichen hier berichten, macht Hoffnung, dass die Erfahrungen von Wittenberg nicht verpuffen werden, sondern weiterwirken. Für uns als Kirche ist damit die Aufgabe verbunden, dafür den richtigen Nährboden zu schaffen.

Die Beteiligung junger Menschen ist angesichts der alarmierenden Befunde über den Traditionsabbruch gerade bei ihnen aus meiner Sicht eine der zentralen Herausforderungen für die Kirche der Zukunft. Noch immer sind junge Menschen unterrepräsentiert, wenn es um die Orte geht, an denen die Zukunftsentscheidungen getroffen werden. Vom Kirchenvorstand bis in den Rat der EKD. Dahinter steckt ein systemisches Problem: Menschen werden in Entscheidungsgremien gewählt, wenn sie sich in irgendeiner Weise hervorgetan und verdient gemacht haben und entsprechend bekannt sind. Das alles ist aber bei jungen Menschen naturgemäß weniger der Fall, weil sie schlicht nicht die entsprechenden Jahre dafür gehabt haben. Auch sind sie häufig mobiler und nicht so an einem Ort angekommen, dass sie langfristige Verpflichtungen eingehen könnten. Wir müssen darüber nachdenken, wie sie trotzdem stärker in Entscheidungsprozesse eingebunden sein können. Dass es bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Namibia eine Jugendquote gab, hat der Versammlung erkennbar gut getan. Inwieweit so etwas in unsere institutionellen Kontexte übertragbar ist, sollte diskutiert werden.

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Wie kann die Kirche die Lebenskultur junger Menschen besser wahrnehmen und aufnehmen? Diejenigen, die in Wittenberg dabei waren, sind nur bedingt repräsentativ für ihre Generation – in mancher Hinsicht gar nicht. Kirche ist für junge Menschen weithin nicht mehr relevant: Sie haben nichts gegen die Kirche, sie finden ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit und Frieden in aller Regel sogar gut und richtig, aber dieses Engagement macht kein Spezifikum der Kirche aus. Es ist ihnen wichtig, ist aber noch nicht zureichender Grund sich in der Kirche zu engagieren.

Junge Menschen fragen heute vor allem nach Sinn, Glück und Identität: Wie werde ich glücklich? Was nützt mir das? Fühlt sich das gut an? Und: Wer bin ich eigentlich? Wer will ich sein? Während es vor einigen Jahrzehnten wohl noch eher um die Frage der Wahrheit ging und junge Leute sagten: „Ich glaube nur, was ich sehe!“, ist heute ihre Aussage eher: „Ich glaube nur, was ich fühle!“

Das verbinden sie oft nicht mit religiösen Inhalten. Aber das Potential für die Ansprechbarkeit auf Spiritualität ist deutlich.

Wie können wir als Kirche für Jugendliche zu der Heimat werden, wie sie sich die 19-jährige Julia im Videowünscht?

In der Individualisierung, Schnelllebigkeit, Mobilität, Pluralität und Unverbindlichkeit von Biografien ist es unsere erste Aufgabe, Formen von Gemeinschaft anzubieten, die der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen entsprechen. Ich habe mich  unter jungen Leuten umgehört, wie die aussehen müssten:

  1. Noch stärkere Projektorientierung: man trifft sich einmal pro Woche, aber nur für ein Vierteljahr, dann wird weitergeschaut. Man fährt auf Freizeiten, z.B. nach Taizé, oder auf Jugendfestivals.
     
  2. Ein Ambiente, in dem sich junge Menschen zuhause fühlen. Ich habe da Antworten bekommen, die ich selbst nicht unbedingt mit Kirche assoziiert hätte: ein Skaterpark oder ein Fitnessstudio; Kneipen und Cafés; Räume mit Retrolampen, Sofagruppen, Theke und Industriecharme; das kann im Gemeindehaus sein, muss aber nicht.
     
  3. Gottesdienste am Nachmittag oder Abend statt morgens um zehn Uhr. Alte Sakralräume mit postmodernen Elementen kombinieren, um das Eklektische und Fragmentarische herauszustellen oder aber moderne Räume wählen von Räumen mit Lichteffekten und Band bis zu einer Lounge mit Sing&Songwriter kann man sich vieles vorstellen.

Die in all diesen Ideen zum Ausdruck kommende Individualisierung und Ausdifferenzierung an Bedürfnissen muss aufgenommen werden. Wie sie aufgenommen werden kann,  sollte in unsere Diskussionen hier auf der Synode auf jeden Fall einbezogen werden.

Zur Gemeinschaftserfahrung spielt neben der physischen Kommunikation immer stärker auch die digitale Kommunikation eine zentrale Rolle. Erschließt sich die Kirche den digitalen Raum nicht, verpasst sie einen entscheidenden Lebensraum junger Menschen: Vor allem die derzeitigen Jugendlichen, die ja auch als Digital Natives bezeichnet werden, bilden viel stärker als die Generation Y ganz natürlich virtuelle Formen der Gemeinschaft - auch und vor allem mit ihnen persönlich bereits bekannten Menschen. Das führt z.B. zu „Internetgemeinden“, die Gebetsanliegen austauschen, Artikel zu theologischen, gesellschaftspolitischen oder ethischen Themen und auch Predigten teilen und kritisch diskutieren, aber auch gemeinsam Andachten feiern. Kirche wird also weniger als Ort, sondern vielmehr als Netzwerk gesehen, in welchem das Gemeindehaus nicht mehr der einzige Knotenpunkt für Gemeinschaftlichkeit ist, sondern einer unter vielen. Hier wird die Herausforderung für die Kirche sein, ob und wie sie den digitalen Raum mitgestalten will. Ich deute das nur an, weil Kirchenpräsident Volker Jung uns zum Thema Digitalisierung einen eigenen Bericht geben wird.

Nehmen Sie meine kurzen Hinweise nur als Auftakt, vielleicht auch schon als Zwischenstation zu einem Nachdenken über die weitere Öffnung unserer Kirche gegenüber jungen Menschen, das wir noch viel intensiver als bisher anstoßen sollten.

In dem Chrismon-Interview, das ich mit zwei Studierenden für die Spezialausgabe zum Reformationsjubiläum geführt habe, sagt der Chrismon-Redakteur: „Das Klima, die Erderwärmung – das interessiert vor allem die Jungen, sagt unsere emnid-Umfrage. Bereits bei den Leuten ab 30 lässt dieses Interesse deutlich nach.“ Und die Studentin wirft sofort ein: „Bei uns Studierenden an der Uni ist es das Thema Nummer eins!“

Es ist also in gewisser Weise eine Fortführung des Jugend-Themas, wenn ich jetzt noch auf den Umgang mit dem Klimawandel eingehe. Da der Umweltbeauftragte der EKD, Prof. Hans Diefenbacher, bei dieser Synode noch ausführlich über die Bedeutung des Klimaschutzes für uns als EKD sprechen wird, möchte ich mich auf wenige Punkte begrenzen.

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Umgang mit dem Klimawandel

Zeitgleich zu unserer Synode findet der Weltklimagipfel in Bonn statt, der von der Bundesregierung für die kleinen Inselstaaten ausgerichtet wird. Wie schon bei den letzten Klimagipfeln wird auch dieser Gipfel von der EKD und den evangelischen Landeskirchen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Mit Pilgerwegen und vielfältigen Veranstaltungen setzen sich Christinnen und Christen für wirksame Maßnahmen des Klimaschutzes und eine konsequentere Klimapolitik ein.

Ich möchte heute einmal eine Initiative aus dem evangelikalen Bereich hervorheben, über die ich mich sehr freue. Die Micha-Initiative Deutschland hat einen Aufruf zum Klimagipfel veröffentlicht, dem sich viele Menschen angeschlossen haben, zu denen auch die Präses der EKD-Synode und die EKD-Ratsmitglieder Kirsten Fehrs und Michael Diener gehören.

In der Petition werden die Regierungen in der Ziellinie der Pariser Vereinbarungen dazu aufgefordert, die Treibhausgasemissionen so zu reduzieren, dass die globale Erderwärmung die kritische Grenze von 1.5 Grad Celsius nicht überschreitet. Sie werden aufgerufen, in 100% saubere Energien zu investieren, dabei vor allem lokale Versorgungsnetze zu nutzen, so dass es auch die Menschen in Armut erreichen kann, die jenseits der Reichweiten nationaler Stromnetze liegen. Sie werden aufgefordert, eine nachhaltigere, emissionsarme Landwirtschaft zu fördern, damit Armut und Hunger in allen Regionen überwunden werden können.

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Ich unterstütze diese Forderungen ausdrücklich. Sie liegen auch in der Ziellinie dessen, wofür sich etwa Brot für die Welt intensiv einsetzt. Ich begrüße alle Initiativen, die mithelfen können, sie zu erfüllen.

Der Klimawandel schreitet voran und verschärft die Kluft zwischen Armut und Reichtum, denn seine Folgen treffen – wie wir alle wissen – die am meisten, die am wenigsten dazu beigetragen haben und sich auch am wenigsten schützen können. Ein jüngst veröffentlichter Bericht von 13 US-Behörden verweist aber auch auf die Folgen des Klimawandels, die schon heute die USA, als reiches Land, betreffen: extreme Hitzeperioden und Regenfälle, mehr Wald- und Buschbrände im Westen des Landes, größere Dürre im Südosten, häufigere Überschwemmungen im Mittleren Westen. Amerikanische Küstenstädte seien immer öfter Überflutungen ausgesetzt. Ich hoffe, dass von der Bonner Klimakonferenz auch ein starkes Signal an die neue US-Administration ausgeht: Torpediert nicht das Pariser Klimaschutzabkommen. Werdet wieder Teil einer Koalition der Willigen, wenn es um den Schutz des Klimas auf unserem Planeten geht.

Für mich ist das weltweite Netzwerk der Kirchen eine entscheidende Basis für unsere öffentliche Stimme in dieser Frage. Wenn ich nach Tansania fahre und mir der leitende Bischof unserer Partnerkirche dort die verdorrten Felder zeigt, Entwicklungsprojekte, die wegen der klimawandelbedingten Wetterextremitäten kaputtgehen. Wenn ich dann weiß, dass unser CO2-Ausstoß pro Kopf in Deutschland 9,1 t ist und der in Tansania 0,2 t, wenn ich also sehe, dass die Menschen in Tansania, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, seine ersten Opfer sind, dann kann ich das alles ja nicht hinter mir lassen, wenn ich wieder nach Deutschland zurückfahre und hier die Diskussionen um die Klimaziele verfolge. Ich kann ja gar nicht anders als mich hier in die politischen Debatten einzumischen, wenn ich den Menschen in Tansania, die ich gerade noch als „Schwestern und Brüder“ angeredet habe, in die Augen sehen will. Ja, wir müssen uns in dieser Frage auch im politischen Bereich zu Wort melden!

Bei dem Wertewandel, der mit der notwendigen großen Transformation hin zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft verbunden ist, ist die Rolle von Religion sehr wichtig. Als Kirche sind wir gerufen, dem Glauben auch das Handeln folgen zu lassen. Uns an der Suchbewegung zu nachhaltigen Leitbildern und Lösungsansätzen zu beteiligen. Die Botschaft der Kirche wird nur überzeugen, wenn sie selbst Vorbild für eine nachhaltige Lebensweise ist. Achtsamer und bewahrender Umgang mit der Schöpfung, Solidarität mit den Armen, Einsatz für ihre Lebensrechte, Teilhabe und umfassende Partizipation müssen Vorrang haben vor Gewinnmaximierung. Sie müssen unser Verständnis von Wirtschaftlichkeit mitprägen. Das bedeutet konkret Vorrang für nachhaltige Mobilität, nachhaltige Energienutzung, nachhaltige Beschaffung, nachhaltiger Bodennutzung und nachhaltige Geldanlagen. Nachhaltigkeit sollte in allen kirchlichen Einrichtungen ein Querschnittsthema werden, nachhaltige Praxis eine Selbstverständlichkeit.

Wir sind uns sehr bewusst darüber, wie schwer all das im konkreten Fall umzusetzen ist und wie groß die Hausaufgaben sind, die wir dabei selbst noch zu machen haben. Dieses Bewusstsein sollte uns aber nicht entmutigen, sondern im Gegenteil Ansporn sein, uns der Aufgabe noch intensiver zu widmen.

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Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde

In diese sorgenvollen Zeiten bringen Christinnen und Christen etwas mit, was manchmal eine wirklich knappe Ressource ist: Hoffnung. Wir tragen die feste Hoffnung in unseren Herzen, dass Angst und Terror, Hass und Ausgrenzung, nicht das letzte Wort haben. Dass das Ausspielen der Schwachen gegen die noch Schwächeren nicht die Oberhand behalten wird. Dass es eine Zukunft geben wird, in der der Hunger irgendwann endlich besiegt ist. Dass wir Menschen eine Vorstellung vom guten Leben entwickeln und umsetzen können, die mit der Würde der außermenschlichen Natur als Schöpfung Gottes verträglich ist.

„Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Wir wissen nicht, ob Martin Luther diesen Satz gesagt hat, aber eines ist sicher: Er könnte ihn gesagt haben! Diese Welt geht nicht auf ein dunkles Loch zu. Sie geht auf einen neuen Himmel und eine neue Erde zu, in der alles Unrecht sein Ende hat, in der Friede und Gerechtigkeit sich küssen und in dem alle Tränen abgewischt werden und in dem kein Leid noch Geschrei mehr sein wird. Der Geist hilft unserer Schwachheit auf, diesen Satz aus dem Römerbrief haben uns die Thomaner beim Festgottesdienst am Reformationstag in der Wittenberger Schlosskirche zugesungen. Es ist ein Geist der Hoffnung und der Zuversicht. Er ist die größte Kraftquelle für diese Welt.

Wir blicken dankbar zurück auf ein Reformationsjahr 2017, das uns und vielen anderen in vieler Hinsicht Anlass zur Hoffnung gibt. Diese Hoffnung wollen wir zusammen mit dem Glauben und der Liebe in der Welt bezeugen. Und in dieser Hoffnung gehen wir mit neuer Kraft in die Zukunft.

 

„Von der Freiheit der Kinder Gottes"

Mündlicher Bericht des Rates der EKD
Vorsitzender des Rates der EKD, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm