Geistliches Wort - Ökumenischer Gottesdienst zum Staatsakt 75 Jahre Grundgesetz

Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland

Die Vielfalt feiert Geburtstag. So könnte man die vergangene Stunde zusammenfassen, liebe Geschwister – die ich Sie wage so zu nennen, hier an diesem besonderen Ort, an dem Martin Luther und Martin Luther King, Konfessionen und Religionen, Ost und West, Mut und Gewissen, Demokratie und Freiheit einander die Hand reichen. Denn im pfingstlerischen Geist geht es doch genau darum, in der Vielfalt nicht das Trennende zu sehen, sondern sich unbändig darauf zu freuen, mit weitem Herzen aufeinander zuzugehen, hinzuhören, aufzumerken. Dankbar heute, ein dankbares Fest in Berlin!

Atmet diesen Geist doch unser Grundgesetz, seit 75 Jahren schon.  Wobei in besonderer Weise dieses Jubiläum verwoben ist – wir haben es schon gehört – mit fast 35 Jahren Mauerfall und friedlicher Revolution. Mit „Schwerter zu Pflugscharen“ hoffte man 1989 diese großartige Vision biblischer Propheten in die Wirklichkeit hinein. Aus: „Wir sind das Volk!“ wurde: „Wir sind ein Volk!“  Die freiheitlich-demokratische Ordnung des Grundgesetzes mit allem, was sie möglich macht, ist damals beinahe über Nacht zum Zeichen großer Hoffnungen und zum Sehnsuchtssymbol eines großen Aufbruchs geworden.

Das Bemerkenswerte an unserem Grundgesetz ist, dass es sich 1949 gerade nicht aus solch großen Stimmungen und hoffnungsfrohen Gefühlen des Aufbruchs speist. Es kommt eher leise daher und im besten Sinne demütig. Es nennt sich nicht Verfassung, weil es erst einmal provisorisch ordnen will, was erschüttert daniederliegt: Das militärisch und moralisch zerstörte und seit 1945 endlich befreite Deutschland. Das Grundgesetz vollendet eben nicht eine erfolgreiche nationale Entwicklung. Es bietet vielmehr Halt nach der Katastrophe von nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, einem an Grauen nicht zu überbietenden Holocaust und einem mörderischen Zweiten Weltkrieg. Zutiefst gebrochen galt es, den Rücken gerade zu machen für eine neue Ordnung der Mitmenschlichkeit. Aufzustehen aus Zerstörung, Menschenverachtung und Amoralität. Unantastbar ist die Würde des Menschen! Die das schrieben, wussten um den Wert dieser Würde! Nicht umsonst beginnen so die Grundrechte, die allem voran in den ersten 19 Artikeln festgehalten sind. So gut wie unveränderbar. Besonders geschützt, damit ihnen nie wieder etwas geschieht. Unantastbar eben auch dies:

„Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ (Artikel 2)

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Artikel 3)

„Eine Zensur findet nicht statt.“

(Artikel 5)

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ (Artikel 16)

Schon sprachlich sind diese Sätze ein Meisterwerk. Und inhaltlich und moralisch sowieso. In ihrer Prägnanz entsprechen sie den knapp gehaltenen zehn Geboten, die in Judentum, Christentum, Islam vorkommen. Was wirklich wichtig ist, braucht nicht viele Worte. Wir sollten diese Sätze viel öfter lesen, hören, sagen!  Zumal sie als grundlegenden Menschenrechte auch in Leid- und Ohnmachtserfahrungen wurzeln. Das „Nie wieder ist jetzt!“ klingt darin mit. Menschen können Macht missbrauchen und andere abwerten, niedertreten, mit Hass überziehen – aber trotzdem und gerade deswegen halten wir an der Würde des Menschen, an seiner Gottesebenbildlichkeit und am Schutz des Lebens fest.

Gerade als Religionen – in aller Verschiedenheit ein Zeugnis für Zusammenhalt und Frieden in diesem Land. Heißt: Wir stehen ein für einen Dialog, der mit extremistischen Verirrungen, die alle Religionen leider auch kennen, nicht vereinbar ist. Nein, es lebe die Religionsfreiheit, die eben auch die Freiheit der Andersglaubenden und des Gewissens meint - sie berechtigt und verpflichtet zugleich zu Toleranz. Respekt. Vielsprachigkeit.

Und deshalb: Wir müssen reden, gerade in diesen Tagen. Unser Gemeinwesen, unsere Demokratie baut auf uns, liebe Geschwister. Die Demokratie lebt von unserer Versöhnungsarbeit, von der Dialogstärke, vom Hoffnungsmut. Heute und morgen auch. Nicht Pöbeln, Hetzen, Niederschreien, Beängstigen, sondern mutig einen Demokratiesommer 2024 ausrufen und damit die Vision der Väter und Mütter des Grundgesetzes aufrecht halten: Kommunizieren wir, mit Worten, Gesten, Herzen, teilen wir unsere Sehnsucht nach Frieden, denn das ist universales Menschenrecht. Und niemand schaut auf irgendwen herab. Auch im Grundgesetz zu finden, Diskriminierungsverbot, Artikel 3.

Nur gemeinsam lässt sie sich verwirklichen – die Demokratie. Niemand ist unbedeutend. Und niemand ist nichtverantwortlich.

Gemeinsam muten wir einander zu und halten einander aus.

Und gemeinsam schauen wir auf das, was uns verbindet.

Das Grundgesetz, 75 Jahre alt, aber voller vitaler Energie.

Lasst es uns feiern – dankbar und beherzt! Mit Gott und den Menschen.

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