Evangelischer Gottesdienst zum Reformationstag - NDR Fernsehen, Kulturkirche Altona, Hamburg

Margot Käßmann

Es gilt das gesprochene Wort.

Predigt Teil 1

Da betet er in Worms, der große Luther. Ziemlich ängstlich hört sich dieses Gebet an, das wir gerade noch einmal gehört haben. Er hatte an jenem 17. April vor dem Kaiser und den Repräsentanten des Papstes in Worms nicht ganz so großartig gewirkt, wie viele das erhofft hatten. Sie hatten ihm zugejubelt, als er kam, viele bewunderten, dass er überhaupt wagte, sich dem Verfahren zu stellen.

Aber dann hat ihn das Ganze wohl doch eingeschüchtert. Es ist gut, auch die Schwäche des großen Reformators zu sehen. Allzu heroisch wird er manches Mal dargestellt. Mir macht ihn sympathisch, dass er es ganz offensichtlich nicht immer war. Da steht er nun - und hat Angst.

In dem Lutherfilm von 2003 mit Joseph Fiennes wird das sehr gut nachvollziehbar. Erst konnte ich mich diesem Luther schwer annähern: ein wenig schmächtig wirkt er, so gar nicht wie das Cranachbild des wohl gerundeten selbstbewussten Mannes. Immerhin, 38 Jahre ist er schon alt, als er in Worms auftritt. Aber er hat große innere Kämpfe hinter sich, hat seine ersten Thesen veröffentlicht, ja, er hat auch viel Zuspruch erfahren. Doch jetzt steht er hier vor den höchsten Instanzen der Welt, ein kleiner Mönch und Theologe aus Wittenberg.

Ich kann mir das gut vorstellen. Da warst du eben noch überzeugt, du hast alles im Griff und gut überlegt. Aber jetzt stehst du da vor mächtigen und klugen Leuten in aller Öffentlichkeit und der Mut bricht in dir zusammen. Das kennen wir von Prüfungen. Vor Gericht. Beim Bewerbungsgespräch. Eben noch dachten wir, alles sei klar überlegt, aber jetzt haben wir Angst vor der eigenen Courage.

In der Nacht betet Luther. Ich hab mich gefragt, wie dieses Gebet wohl übermittelt wurde. Wer so betet, schreibt das doch nicht noch auf! Wer so betet ist getrieben, unruhig und hat keinen kühlen Kopf, der sagt: das würde ich gern aufbewahren für nachfolgende Generationen.

Es heißt, Luther habe so laut geschrien, dass andere es vor der Tür mitgeschrieben hätten – denkbar ist das. Das entspricht ja schon fast dem Boulevardjournalismus heute: alles Private an die Öffentlichkeit zerren. In diesem Fall bin ich froh darüber, weil mir Luther so sehr nahe kommt. Er ringt mit Gott: „Wo bist du?“ Er hat das Gefühl, den Teufel zu spüren, die Versuchung wohl, einfach alles zuzugeben, was ihm vorgeworfen wird, den leichteren Weg zu gehen. Und ja, Angst hat er! Ob es wirklich Gottes Wille ist, dass ich die Kirche so kritisiere? „Steh mir bei“, ruft Luther. Und das ist der Ruf so manchen Gebetes.

„Steh mir bei!“, das rufen auch Menschen, die nicht glauben, wenn sie Angst haben. Der Moderator Robert Lembke hat einmal gesagt: „Im Flugzeug gibt es während starker Turbulenzen keine Atheisten“. Und das ist ja auch wahr: Es betet sich von selbst. Manchmal müssen wir gar keine Worte suchen, gerade wenn Angst uns umfängt. Dann rufen wir Gott von selbst.

Beten gilt als das „Herzstück christlicher Spiritualität“(1). Und es ist wohl auch der einfachste Zugang zu gelebter Frömmigkeit, wenn wir Spiritualität einmal so übersetzen. Da bedarf es keiner langwierigen Unterweisung, es betet sich sozusagen von selbst. Und das sollten wir auch nicht verkomplizieren. Martin Luther hat einmal an seinen Barbier Meister Peter über „Eine einfältige Weise zu beten“ geschrieben und ihm Mut gemacht, ganz schlicht das Vaterunser zu sprechen. Nicht allzu viel Brimborium solle gemacht werden, sondern in diesem Gebet sei alles aufgehoben, wenn sich das Herz dafür erwärme.

Luther schreibt: „Und ich habe so auch oft mehr in einem Gebet gelernt als ich aus viel Lesen und Nachsinnen hätte kriegen können. Darum kommt es am meisten darauf an, dass sich das Herz zum Gebet frei und geneigt mache ... Was ists anders als Gott versuchen, wenn das Maul plappert und das Herz anderswo zerstreut ist?“(2) Es ist gut, wenn ein Kind beten lernt, weiß, dass es sich Gott anvertrauen kann, wenn etwa Mutter und Vater nicht ansprechbar sind. Und es ist wichtig, dass Menschen Gebete noch kennen, wenn ihnen die eigenen Worte fehlen, alles eigene Formulieren banal erscheint.

Kraftvoll soll vor allem das „Amen“ gesprochen werden, so Luther, damit wir den Zweifel bekämpfen und fest zu unserem Glauben stehen. Luther hat den Zweifel nie unter den Tisch gekehrt, das ist mir wichtig. Niemand steht so fest im Glauben, dass er oder sie nicht auch wanken würde. Vor allem der Anblick oder die Erfahrung von Leiden bringt uns die drängenden Fragen: Gibt es Gott? Und wenn es Gott gibt, wie kann Gott das zulassen? Warum wurde mein Gebet nicht erhört?

Mich beeindruckt an der Gebetserfahrung unserer Mütter und Väter im Glauben, dass dieser Zweifel immer wieder hineingenommen wurde in das Gebet. Das wird sehr deutlich in dem Gebet Luthers in der Nacht, bevor er zum zweiten Mal vor den Reichstag in Worms treten musste. Es war sicher auch das Gebet, das ihm die Kraft gegeben hat für diese Haltung: „Ich stehe hier, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.“

Besonders gut gefällt mir, dass Luther betont, wir würden ja nicht allein beten, sondern mit der ganzen Christenheit. Dieser Gedanke, dass ein Gebet um die ganze Welt geht, ist besonders bewegend, finde ich. Wir stehen in einer Erdumkreisung des Gesprächs mit Gott sozusagen. Auch so ist Gott präsent auf der ganzen Welt. Dass wir auch füreinander beten um die ganze Erde herum, stellt uns in eine Gemeinschaft. Oft gibt es Unglücke, die uns bewegen, wir können nicht direkt helfen, aber füreinander beten.

Gebete können Menschen verändern und auch die Welt verändern. 1989 haben wir das in Deutschland selbst erlebt.


Predigt Teil 2

Jesus selbst betet. Und auch dieses Gebet ist so gut nachzuvollziehen. Muss das sein? Muss ich wirklich da durch? Gibt es nicht irgendeine Möglichkeit, das zu vermeiden? Die öffentliche Schmach? Die bittere Wahrheit, die ich einzugestehen habe? Das, was ich schon kommen sehe? Ja, bei Jesus und bei vielen: das Leid, das kommen wird. Für mich selbst, für meine Familie. Den Tod, der mir vor Augen steht. Schmerzen, vor denen ich mich fürchte…

Wie viele Menschen haben so gebetet. Und sich so verlassen gefühlt wie Jesus, dessen beste Freunde auch noch einschlafen, statt wach und bewusst diesen so existentiellen Moment mitzuerleben. Schreckliche, schwere Gebete sind das.

Ja, Gebet ist auch Konzentration auf das Wesentliche. Der Versuch, zu sagen, was mir wichtig ist. Und zu hören, wahrzunehmen, was Gott mir raten kann.

Es ist gut, einen eigenen Ort für das Gebet zu haben oder eine feste Zeit. Es gibt das gemeinsame Gebet im Gottesdienst, aber vor allem auch das persönliche Gebet im Tagesablauf. Gebet ist auch Einübung einer gewissen Routine. Auf diese Weise kann das Gespräch mit Gott Teil unseres Alltags werden. So, wie vorhin die Mutter von der Gebetspraxis in ihrer Familie berichtet hat. Wir beginnen unseren Gesprächsfaden mit einem festen Ritual. Und dann wird das Gespräch auch hier und da an anderen Punkten im Alltag oder im Urlaub, in Krisensituationen oder in Zeiten überschäumenden Glücks Teil unseres Lebens sein.

Gebet braucht auch eine gewisse Disziplin. Eben mal beten, dass dies oder das eintreten möge, das degradiert Gott zu einem Automaten, in den ich eine Münze werfe und erwarte, dass etwas herauskommt. Die Erfahrung des Betens lehrt aber, dass diese Frage der Wunscherfüllung eine Anfangsfrage ist. Sie entspringt meist einem spontanen Impuls, einer besonderen Situation von Angst oder Hoffnung. Es geht aber beim Beten darum, langfristig bzw. auf Dauer mit Gott im Gespräch zu sein, sich auf die Gottesbeziehung einzulassen. Das verändert immer auch mich selbst.

Mechthild von Magdeburg schreibt:

Das Gebet hat große Macht,
das ein Mensch verrichtet mit seiner ganzen Kraft.
Es macht ein bitteres Herz süß,
ein trauriges Herz froh,
ein armes Herz reich,
ein törichtes Herz Weise,
ein zaghaftes Herz kühn,
ein schwaches Herz stark,
ein blindes Herz sehend,
eine kalte Seele brennend.(3)

Ich möchte Sie gern zum Beten ermutigen. Es ist für mich eine Art „Standleitung zu Gott!“. Mir scheint das wie in einer Freundschaft. Du lernst jemanden kennen und findest sie sympathisch. Ein wenig beiläufig und ohne allzu viel Bedeutung hineinzulegen, lade ich sie auf einen Kaffee ein. Wir telefonieren, wir treffen uns öfter, wir reden miteinander auch über sehr persönliche Fragen. Und über die Jahre entsteht eine vertrauensvolle Beziehung. Eine, die es auch erträgt, wenn es mal Missverständnisse, Fragen, ja Funkstille gibt. Aber wir sind einander vertraut, wir wissen voneinander, da können auch Konflikte besprochen werden. Wenn ich so bete, wird meine Beziehung zu Gott tiefer. Ich kann Gott nicht immer verstehen und Gott mich ganz gewiss auch nicht. Aber wir sind einander vertraut.

Beim Propheten Jesaja heißt es über Gott: „Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet.“ Das finde ich wunderbar und bewegend. Ich kann zu Gott kommen wie zu meiner Mutter. Mit all meinen Fragen, meiner Angst. Und ich muss nicht fürchten, beurteilt, verurteilt zu werden. Nein, ich kann jetzt so sein. Offen und angstfrei. So kann ich beten, mit Gott sprechen.

Und wenn uns die Worte fehlen? Das habe ich oft erlebt. Wir können uns dann hineinfinden in die Worte anderer. Auf lustige Weise zeigt das der schwarz-weiß Film „Das doppelte Lottchen“ nach dem Buch von Erich Kästner aus dem Jahr 1950. Die freche Luise Palfy aus Wien und die höfliche, bescheidene Lotte Körner aus München haben sich als Zwillingsschwestern gefunden und wünschen sich nichts mehr, als miteinander leben zu können. Während die Eltern hinter der Tür verhandeln, sagt die eine: Du, jetzt müssten wir ein Gebet sprechen, weißt du eins? Und die andere sagt: „Komm Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.“

Ja, das ist zum Schmunzeln. Aber zumindest gibt es noch ein Gebet, das sie kennen. Menschen brauchen Gebete, denke ich. Gerade dann, wenn uns die Kehle zugeschnürt ist und alle Worte banal klingen. Als junge Pfarrerin musste ich ein 5jähriges Mädchen beerdigen. Sie lag aufgebahrt im kleinen Sarg im Haus ihrer Eltern, ihre Barbiepuppe in der einen, einen Strauß Schneeglöckchen in der anderen Hand. Mir selbst stockte der Atem, mir fehlten die Worte. Aber ich konnte einstimmen in Worte, die 2000 Jahre alt sind, die Jesus uns beten gelehrt hat: „Vater unser im Himmel…“ und nach und nach stimmten die Eltern und die Großeltern ein. Es war ein Gebet, das uns, vor allem ihnen Kraft gegeben hat angesichts einer fast  unerträglichen Erfahrung von Leid.

Beten wir. Füreinander, miteinander, für uns allein. Ich bin zutiefst überzeugt, dass die Welt sich verändert, wenn wir beten. Das habe ich erlebt, als wir während der Weltausstellung EXPO in Hannover im Jahr 2000 einen Pavillon aufgestellt haben. Er stand zwischen vielen großartigen Gebäuden, all überall Animation, Anmache, Glamour. Aber er wirkte recht kühl und zurückhaltend: Glas und Stahl, im Untergeschoss schlicht Sand und eine Ikone. Aber dieser kleine Pavillon hat mehr als eine Million Menschen angezogen. Und ich hatte das Gefühl, er verändert sich, mit jedem Stundengebet, das dort abgehalten wurde. Er wuchs heran zu einem durchbeteten Raum, so wie Kirchen durchbetete Räume sind, denen wir abspüren, was Menschen hier an Glück und Leid, an Fragen und Klagen vor Gott gebracht haben. Genau so ist eine durchbetete Welt eine veränderte.

Amen.

Fußnoten:

1  Vgl. Das Beten – Herzstück christlicher Spiritualität, hg. v. d. VELKD, Hannover 2005.
2  Martin Luther, Eine Einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund (1535), in: Martin Luther Deutsch, Bd. 6, S. 205ff.; 211.
3 Schneider, Kalender, 16. Dezember