„Toleranz und Gottes Eifer“ Alles gleich gültig? (Lukas 12, 49-53)

Margot Käßmann im Berliner Dom

Liebe Gemeinde,

„Reformation und Toleranz“ – so lautet das Themenjahr der Lutherdekade, in dem wir uns befinden. Da gibt es schon einige Irritationen: geht das überhaupt zusammen? Tolerant waren die Reformatoren nun wahrhaftig nicht. Nehmen wir allein Luthers Äußerungen über den Papst - ich habe gestern nach einem passenden Zitat gesucht, aber ich lasse es lieber, gerade dieser Tage…. Angesichts mancher seiner Texte können wir uns den stürmisch-polternden Martin gut vorstellen, wenn wir ihn gemahnt hätten: nun sei doch ein wenig tolerant! Es ist deine Wahrheit, aber es muss nicht die der anderen sein! Political correctness kann sicher auch überspannt werden, aber Respekt gegenüber der anderen Position ist doch zu erwarten! Wahrscheinlich würde Luther uns da als ängstliche Weicheier ansehen, die nicht den Mumm haben, mit markigen Worten Stellung zu beziehen.

Es ist eine Herausforderung, die Lerngeschichte der Toleranz im Protestantismus zu entdecken. Und dann kommt als zweite Herausforderung für den heutigen Sonntag, das Thema Toleranz auch noch mit dem Predigttext zusammen zu sehen, den die Domgemeinde ausgesucht hat. Er steht bei Lukas im 12. Kapitel unter der Überschrift: „Entzweiungen um Jesu willen: „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte! Aber ich muss mich zuvor taufen lassen mit einer Taufe, und wie ist mir so bange, bis sie vollbracht ist! Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei. Es wird der Vater gegen den Sohn sein und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter.“

Oh, da klingt Jesus nun gar nicht so friedlich wie wir ihn gern sehen. Zwietracht bringt er, nicht Frieden? Uneinigkeit anstatt Harmonie? Ist das ein Ausrutscher? Wie passt das denn mit dem Jesus der Bergpredigt zusammen: Selig sind die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die Frieden stiften….

Andererseits: selbst in einem so säkularen Land wie der Bundesrepublik Deutschland erleben wir heute sehr schnell, wie die Emotionen hochkochen, sobald es um Religion geht, vom Schächten über das Kreuz im Klassenzimmer bis zum Kopftuch. Da diskutiere ich heftig mit meiner ältesten Tochter über religiöse Freiheit und Recht auf Unversehrtheit, obwohl das Beschneidungsthema uns als Christen doch eigentlich gar nicht betrifft, wie der Apostel Paulus schon deutlich gesagt hat.

Darf denn Glaube wirklich trennend wirken, Menschen heftig entzweien? Sind Christen nicht gefordert, zu versöhnen statt zu spalten, wie es einst ein Wahlkampfslogan formulierte? Wollen wir nicht mit Liebe allen begegnen, mit Offenheit, ja, mit Toleranz? Lassen Sie uns heute Abend zunächst einen realistischen Blick auf das Trennende werfen.

Gespaltenes Christentum

Oh ja, die Christenheit selbst ist gespalten! Das begann schon früh, eine dramatische große Spaltung bleibt die Trennung der Orthodoxie von der abendländischen Kirche Anfang des zweiten Jahrtausends. Fremdheit und Befremden haben sich da aufgebaut. Das habe ich persönlich noch einmal zu spüren bekommen, als die russisch-orthodoxe Kirche nach meiner Wahl zur Ratsvorsitzenden 2009 die Gespräche mit der EKD abbrach, weil eine Kirche nicht anerkennen könne, an deren Spitze eine Frau steht…

In der abendländischen Kirche wurde das 16. Jahrhundert zu einer dramatischen Erfahrung des Streites um die Wahrheit. Die Auseinandersetzungen der Reformationszeit kannten keine Toleranz, kein Dulden des Unterschieds – und zwar auf allen Seiten! Es waren Glaubensüberzeugungen, die Luther dazu brachten, zunächst die Ablassthesen zu veröffentlichen und schließlich seine Theologie in Abgrenzung zu seiner Kirche zu formulieren bis er vor dem Kaiser in Worms stand und sich weigerte, seine Thesen zu widerrufen. Gleichzeitig war seine Kirche nicht in der Lage, die Reformen durchzuführen, die Luther anmahnte. Ein theologischer Disput begann, an dem viele beteiligt waren, eine Auseinandersetzung, die auch durch viele weltliche Interessen bestimmt war und es entwickelte sich eine Spaltung, die quer durch Familien ging.

Als Beispiel: Im kommenden Jahr wird es auf Schloß Rochlitz in Sachsen eine Ausstellung zu den Frauen der Reformation geben. Mich freut das sehr, denn die Frauen der Reformation sind bisher ein unterbelichtetes Thema in Lutherdekade und Jubiläumsvorbereitung. Im Zentrum steht Elisabeth von Rochlitz, nach dem Schloß benannt, weil es ihr Witwensitz war. Sie war mutig, als sie sich zum reformatorischen Glauben bekannte, obwohl ihr Schwiegervater, Georg der Bärtige, einer der entschiedensten Gegner der Reformation war. 2000 Briefe von ihr sind erhalten, eine der wenigen Frauen also, deren Denken dokumentiert werden kann! Der Mann und Schwiegervater also bei den Altgläubigen. Auch ihre Mutter blieb römisch-katholisch, ihr Bruder, Philipp von Hessen, war einer der entscheidenden Förderer der Reformation. Der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter….

Die Spaltung trennte in der Tat Familien, ging durch die Gesellschaft und Politik, auch bis hin zum Krieg. Die Hoffnung vieler Reformatoren, vor allem Philipp Melanchthons, in Augsburg 1530 noch eine Verständigung zu erreichen, zerschlug sich. Ein gegenseitiges Tolerieren der Differenz innerhalb einer Kirche schien unmöglich und so trennte sich die Kirche des Abendlandes auf zwei Wege. Flucht, Vertreibung, Auswanderung und entsetzliches Leid waren die Folge. Zwietracht, drei gegen zwei und zwei gegen drei….

Spaltende Religion

Und auch mit Blick auf andere Religionen hat die Reformation ein schweres Erbe hinterlassen. Martin Luthers Schriften über Juden sind heute unerträglich zu lesen. Sie haben die Kirche, die sich nach ihm benannt hat, auf einen entsetzlichen Irrweg geführt. Das ganze Ausmaß des Versagens der Kirche, die sich nach ihm benannt hat, wird angesichts des Holocaust offensichtlich. Da können wir nur die Schatten der Reformation offen benennen! Auch hinsichtlich des Islam sind die Reformatoren ebenso wenig wie die Kirche ihrer Zeit am Dialog interessiert. Da sind „die Türken“ ausschließlich als Gefahr für das Abendland im Blick.

Ebenso gilt das in anderer Richtung. Als ich in den USA in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde eingeladen war, den Schabbath mitzufeiern, sagte der Rabbiner beim Mittagessen: „Warum sollte ich mich für Ihre Religion interessieren, Frau Käßmann. Sie können von dem Juden Jesus halten, was sie wollen, das ist doch allein Ihre Sache, was geht mich das an?“

Ethische Differenzen

Schließlich gibt es ethische Differenzen. Das sind oft trennende Fragen etwa mit Blick auf Homosexualität oder Abtreibung, beides erleben wir aktuell. Aber es gibt auch eine Widerständigkeit mit Blick auf staatliches Handeln, die sich aus christlichen Grundüberzeugungen entwickelt. Ein Beispiel: Vor acht Jahren, am 9. Februar 2005, versuchten die niedersächsischen Behörden, die 24jährige Zahra Kameli in den Iran abzuschieben. Sie hatte sich von ihrem Ehemann getrennt und war in einer Göttinger Gemeinde zum Christentum übergetreten. Für beides kann im Iran die Todesstrafe verhängt werden. Das niedersächsische Innenministerium aber erklärte, es sei nicht nachzuweisen, ob Zahra sich vielleicht nur aus taktischen Gründen habe taufen  lassen. Meine Frage, seit wann Innenministerien zuständig sind, den Glauben von Menschen zu beurteilen, wurde nie beantwortet. Zahra Kameli wurde unter großen Protesten in Abschiebehaft genommen und auf dem hannoverschen Flughafen in einen Flug nach Frankfurt gebracht. Im Flugzeug nach Teheran erlitt sie einen Zusammenbruch und der Pilot weigerte sich, sie mitzunehmen. Das war ihre Rettung.

Wie viele Menschen hat mich dieses Schicksal damals sehr bewegt. Es war der Anlass, in Niedersachsen endlich eine Härtefallkommission zu gründen, die allerdings nicht alles Erhoffte umgesetzt hat. Aber diese Geschichte zeigt, dass christlicher Glaube zu Auseinandersetzungen, zu Differenz führen kann: Kirchenasyl heute, Widerstand gegen Hitler vor 80 Jahren bei der Machtergreifung, die Auseinandersetzung um die Rolle der Frauen in allen Kirchen.

Not-wendige Toleranz

Vielleicht sind Sie beim Zuhören jetzt an dem Punkt angekommen, an dem Sie sagen: Na vielen Dank, Frau Käßmann! Jetzt gehe ich ja sowas von getröstet und ermutigt aus diesem Gottesdienst nach Hause. Nichts als Auseinandersetzungen und Probleme. Da schau ich mir lieber nachher den Tatort an, der kommt heute aus Leipzig und Saalfeld und Keppler werden am Ende zumindest alles klären, statt bei so vielen Problemen und Fragen stehen zu bleiben. Was gibt es denn zu feiern 2017 angesichts all der Spaltung, Verwerfung und Gewalt auf allen Seiten, die Folgen waren?

Wenn wir aber das Evangelium im Gesamtkontext lesen, sind jene Verse aus dem Lukasevangelium eher als Weitsicht zu verstehen oder auch als realistische Mahnung. Jesus warnt in der Beschreibung und Erfahrung des Lukas schlicht davor, Leben in der Nachfolge als Spaziergang anzusehen. Er ahnt, so Lukas, was Glaube auslösen kann an Differenzen! So wird es sein, ihr werdet immer wieder in Auseinandersetzungen geraten, wenn ihr euch entscheidet, als Christ oder Christin zu leben. Und das war die Erfahrung der ersten Christen und ist die Erfahrung vieler heute!

In unserem Land wird der Mensch ja fast schon belächelt, wenn er sich als gläubig outet nach dem Motto: Das sind Menschen mit Angst vor dem realen Leben und noch mehr Angst vorm Sterben. Aber wirklich gefährdet ist hier niemand. Ganz anders etwa in Indonesien, das auf der ITB letzte Woche als Partnerland gefeiert wurde. Dort riskieren Menschen ihr Leben für ihren Glauben. Bei uns ecken sie eher an, wenn sie vom Glauben sprechen und sich nicht, um es mit Friedrich Siegmund Schultze zu sagen, in die Verantwortungslosigkeit hineinschläfern lassen. Wer bitte empfindet es denn als Wagnis bei uns im Land, Christ oder Christin zu sein? Eher werden wir doch als langweilig empfunden, aussterbende Art sozusagen, die vielleicht noch mit Interesse betrachtet wird, weil sie so merkwürdig erscheint oder so ganz anders, siehe Papstwahl.

Aber es ist doch sehr anders, das zeigt der Bibeltext, das zeigt auch der Blick auf die aktuellen Debatten. Wer im Glauben geerdet ist, wird sich nicht einschläfern lassen von einer Ablenkungsgesellschaft. Sondern hat den Mut, hinzuschauen, wo Missstände sind, klar zu reden, wo klare Rede gefordert ist, zu trösten, wo Trost gebraucht wird, zu lieben, wo eiskaltes Kalkül um sich greift, solidarisch zu sein, wo Egomanie um sich greift, die Welt verbessern wollen, wo eine Mehrheit das nur noch zynisch sehen kann.

Das können wir schon einmal festhalten: Glaube ist ein Wagnis, auch heute! Wenn ich mein Gewissen an der Bibel schärfe, Position beziehe, kann das zu Differenzen führen. In Glaubensfragen, ja, aber auch in ethischen und politischen Fragen. Denken wir an kirchliche Fragen wie Verständnis des Papsttums, Marienkult, denken wir an ethische Fragen wie Verhütung oder Sterbehilfe. Die Auseinandersetzung wagen ist Teil des Glaubens.

Toleranz meint nicht einfach, alles dulden. Sie endet, wo die Intoleranz beginnt, wo Menschenwürde mit Füßen getreten wird, wo Freiheit in Frage gestellt ist. Sie kann aber wachsen und gestaltet werden, wo Duldung in Respekt übergeht, ja in Wertschätzung des anderen. Und da, liebe Gemeinde, liegt auch ein Grund, warum ich meine, wir können 2017 das Reformationsjubiläum feiern und nicht nur gedenken.

Die getrennten Kirchen, die aus den Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, sie respektieren einander heute, ja wertschätzen sich gegenseitig oft gar. Das Papsttum wird mir immer fremd bleiben, aber ich sehe mit Interesse, was sich da tut. Als die BILD 2005 bei der Wahl Benedikts  titelte „Wir sind Papst“, habe ich gedacht, das ist eine gut lutherische Aussage, denn nach Luther ist jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, Priester, Bischof und Papst. Das wiederum werden römische Katholiken anders sehen, aber vielleicht doch auch interessant finden. Toleranz ist nicht nur Duldung. Sie sieht mit Interesse, was anders ist. Sie weiß um die eigene Wahrheit, aber sie respektiert, dass andere anders Wahrheit finden. Bei all dem Lamento über immer größere Moscheen beispielsweise: Dann füllt doch alle fleißig unsere Kirchen, dann müsst ihr keine Angst vor Ungleichgewicht haben!

Und das zum Trost: es hat sich viel und gut entwickelt. Die verschiedenen Zweige der Reformation erkennen sich gegenseitig als Kirchen an, teilen Ämter und feiern miteinander Abendmahl. Heute Morgen ist hier im Dom das 40jährige Jubiläum der Leuenberger Konkordie gefeiert worden, das dieses Miteinander festgeschrieben hat. Wir haben in den letzten hundert Jahren erlebt, dass Lutheraner und römische Katholiken auch Gemeinsamkeit formulieren können und nicht mehr Krieg führen gegeneinander. Ökumene ist eine Tatsache, selbst mit der Orthodoxie. Heute ist deutlich: uns verbindet im Glauben doch viel mehr als uns trennt. Und es gibt seit 60 Jahren jüdisch-christlichen Dialog, der Ratsvorsitzende der EKD hat vergangenes Jahr die Buber-Rosenzweig-Medaille erhalten, nächste Woche wird der Studiengang  jüdische Theologie an der Universität Potsdam eröffnet. Ja, sogar das kleine Pflänzchen christlich-muslimischer Dialog treibt erste Blüten. Der römisch-katholische Theologe Hans Küng hat seit Jahren das Projekt Weltethos entwickelt, das aus allen Religionen die friedensethische Substanz extrahiert und aufzeigt, dass religiös motivierte Menschen zum Frieden beitragen in aller Welt. Es gibt also eine Lerngeschichte der Toleranz. Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Ja, in der Tat, es gibt Zwietracht. Aber sie hat nicht das letzte Wort.

Versöhnende Ausblicke

Und es gibt auch eine Lerngeschichte des schlichten Miteinanderlebens in einer so multireligiösen, säkularen und multikulturellen Stadt wie Berlin. Kürzlich stieg ich am Hauptbahnhof in ein Taxi. Der Fahrer sagte: „Ach, sind Sie nicht Frau Käßmann? Ich bin ein Kollege von Ihnen, ich bin Imam in Wedding.“ Ich fand das großartig und wir haben uns unterhalten, wie Moscheegemeinden und Kirchengemeinden einen Beitrag leisten können, Jugendliche ohne Perspektive zu begleiten, zu beheimaten.

Also: Auseinandersetzung ist Teil des Glaubenslebens, wir können ihr nicht ausweichen. Toleranz ist mehr als weichgespültes Dulden der Differenz, sondern Interesse aneinander. Toleranz endet da, wo Intoleranz beginnt. Die von Lukas überlieferten Worte Jesu müssen uns nicht erschrecken, sondern können uns ermutigen, uns mitten hinein zu begeben ins Denken, Reden, Ringen und Handeln.

Amen.