"Würde und Werte im Verfassungsrecht" - Referat im Rahmen der Ökumenischen Ringvorlesung 2007 "Würde und Werte" der Ev. Stadtakademie Hannover, der Ev. Akademie Loccum und dem Forschungsinstitut für Philosophie Hannover

Hermann Barth

Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist an prominenter Stelle von Würde die Rede. Es ist - wenn wir die Präambel unberücksichtigt lassen - gleich der erste Satz unserer Verfassung, in dem es heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Von Werten hingegen ist im Grundgesetz nicht die Rede, nur zweimal in Artikel 135a von "Vermögenswerten", aber das sind wohl nicht die Werte, die bei der Formulierung des für die heutige Veranstaltung gestellten Themas im Blick waren. Freilich darf dieser Befund nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten. Denn auch dann, wenn ein bestimmter Begriff nicht explizit fällt, kann die Sache selbst gleichwohl präsent sein.

Es war mir aus Zeitgründen nicht möglich, die Verfassungen sämtlicher Bundesländer daraufhin durchzusehen, welche Rolle in ihnen Sache und Begriff der Werte spielen. Ich hatte aber, offen gesagt, die Erwartung, in der Verfassung des Freistaates Bayern fündig zu werden, zumindest im Abschnitt zu Bildung und Schule. Artikel 131 formuliert die schulischen Bildungsziele wie folgt:

(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.

(2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne.

(3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.

Der Begriff der Werte fällt auch hier nicht. Zugleich ist deutlich: Bei der Achtung vor religiöser Überzeugung, bei der Selbstbeherrschung, der Verantwortungsfreudigkeit oder der Völkerversöhnung handelt es sich unzweifelhaft um Werte, das wissen wir, auch ohne dass der Begriff gebraucht wird. Auch das Grundgesetz ist - insbesondere im Grundrechtsteil - der Sache nach an Werten orientiert. Mit Recht wird vom Grundgesetz gesagt, es sei zwar weltanschaulich neutral, nicht aber wertneutral.

Im ersten Teil meines Referats wende ich mich der Frage zu, was mit Würde und Werten der Sache nach gemeint ist.

I. Worum geht es bei der Würde und worum bei den Werten?

1) Wer mit Bezug auf einen bestimmten Menschen von „Würde“ spricht, kann zunächst das Achtung gebietende Sein meinen, das dieser Mensch aufgrund seiner Leistung oder Position oder Persönlichkeit besitzt. Der Auftritt eines Bundespräsidenten strahlt in diesem Sinn Würde aus. Oder wenn der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer im Alter von nahezu 100 Jahren das Podium erklomm und mit immer fester werdender Stimme seine Gedanken entwickelte - das hatte Würde. In Bertolt Brechts Geschichte von der "unwürdigen Greisin" wird dieser Würdebegriff als Hintergrundfolie benutzt und ironisch gebrochen.

Wer allerdings allgemein von Würde, nämlich im Sinne von „Menschenwürde“, spricht, zielt auf etwas anderes: nicht irgendeine Beschaffenheit eines Menschen, sondern das Menschsein selbst, das Achtung gebietet. Hier verdient der Mensch als Mensch, also jeder Mensch in jeder Phase seiner Entwicklung und in jeder Verfassung seines Daseins, Achtung, weil ihm eine Würde eignet, die ihm mit seinem Dasein gegeben ist und ihm weder zuerkannt noch aberkannt, sondern nur geachtet oder missachtet werden kann. Der evangelische Systematiker Wilfried Härle, auf den ich mich hier beziehe, hat in einem Referat  sehr schön und knapp in sechs Punkten angegeben, worin sich die so verstandene Menschenwürde konkretisiert, nämlich darin, dass ein Mensch

1. als Zweck und nicht als bloßes Mittel gebraucht wird,

2. als Person geachtet und nicht zum Objekt herabgewürdigt wird,

3. Selbstbestimmung üben kann und nicht völlig fremdbestimmt wird,

4. Entscheidungsfreiheit behält und nicht durch Zwangsmaßnahmen gefügig gemacht wird,

5. in der Sphäre seiner Intimität bleiben kann und nicht bloßgestellt wird und

6. als gleichberechtigt behandelt und nicht diskriminiert wird.

2) "Wert" ist zunächst eine ökonomische Kategorie. Sie gibt an, für welche Summe Geldes ein bestimmter Sach- oder Vermögenswert steht, m.a.W. welcher Preis zu bezahlen ist, um diesen Sach- oder Vermögenswert zu erwerben. Aus dem Steuerrecht kennen wir den "geldwerten Vorteil", aus der Bilanzrechnung die "Wertberichtigung".

Von der materiellen, der finanziellen Dimension kann aber auch abstrahiert werden. Wir sprechen etwa im menschlichen Miteinander davon, daß wir jemanden wertschätzen - oder gerade nicht. Eine ebensolche Abstraktion liegt vor, wenn wir politische Zielvorstellungen - wie die Völkerversöhnung - oder gesellschaftliche Zustände - wie anhaltenden sozialen Frieden - oder erwünschte Verhaltensweisen - wie Selbstbeherrschung, Hilfsbereitschaft und ein Klima der Kinderfreundlichkeit - als Werte verstehen. Sie sind gemeint, wenn in dem für diesen Abend gestellten Thema Würde und Werte einander gegenüberstellt werden. Ob Werte auch als objektiv vorgegeben gedacht werden können oder sogar müssen, ist - oder war zeitweise - eine lebhafte philosophische Debatte. Es scheint mir aber schwer zu bestreiten, dass Werte in hohem Maße durch subjektive Zuschreibung entstehen. Das ist im übrigen auch der Grund dafür, daß der "Wertehimmel" einer Gesellschaft sehr unterschiedlich aussehen und sich stark verändern kann. Man spricht in diesem Zusammenhang gern vom Wertewandel: einem zu beklagenden, wenn man einen Verlust von wichtigen Wertvorstellungen diagnostiziert, einem zu forcierenden, wenn man einen Prozess unterstützt, in dem Wertvorstellungen wieder gewonnen oder verändert werden sollen.

Würde und Werte - bei einer vergleichenden Betrachtung dieses Wortpaars zeigen sich inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In beiden Fällen geht es um ein Gut, das zu schützen ist, nicht zuletzt durch die staatliche Gewalt. Im Fall der Würde des Menschen wird das in Artikel 1 des Grundgesetzes ausdrücklich statuiert: Die Würde des Menschen "zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Im Fall der Werte - wie sie in den Grundrechten verkörpert sind - ergibt sich dasselbe allein schon daraus, dass nach Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes die Grundrechte "Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" binden. Aber dann beginnen die Unterschiede: Sie haben allesamt damit zu tun, dass die Würde jedem Menschen "mit seinem Dasein gegeben ist und ihm weder zuerkannt noch aberkannt, sondern nur geachtet oder missachtet werden kann" (W. Härle). Die Werte hingegen bilden und wandeln sich durch einen Prozess der Zuerkennung bzw. Aberkennung. Von der Würde kann es dementsprechend heißen, sie sei "unantastbar"; das ist bei den Werten anders. Und noch ein letzter Unterschied: Werte beschreiben ein Ziel, das zu erreichen man sich bemühen kann und soll. Werte - und das gilt für materielle wie immaterielle Werte - kann man schaffen; Würde hingegen ist dem Menschen ohne sein Zutun gegeben, mitgegeben, geschenkt.

Wenn wir nach Gründen für die Besonderheit der Würdevorstellung fragen, landen wir - gewiss nicht ausschließlich, aber doch unweigerlich - beim biblischen Beitrag zu ihrem Verständnis:

II. Was hat die Bibel zum Verständnis der Würde des Menschen beigetragen?

Bei der Beantwortung dieser Frage stellt sich dasselbe methodische Problem, das wir eingangs im Blick auf die Verfassungstexte thematisiert haben: Während diese den Wertebegriff nicht gebrauchen, kennt umgekehrt die Bibel den Begriff „Menschenwürde“ nicht. Er stammt vermutlich aus der stoischen Philosophie und ist in der christlichen Theologie spätestens seit Ambrosius, der im Jahr 374 in Mailand zum Bischof geweiht wurde, in Gebrauch. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Bibel zu der Sache, die mit dem Begriff bezeichnet wird, nichts zu sagen hätte.

Als locus classicus für das biblische Verständnis der Würde des Menschen gilt folgende Passage des ersten Schöpfungsberichts:

“Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib“ (1. Mose 1,26f).

Es gilt weithin fast als selbstverständlich, „Menschenwürde“ und „Gottebenbildlichkeit“ als austauschbare Begriffe anzusehen. Aber damit verbinden sich einige schwerwiegende Probleme. Ich komme darauf zurück und wende mich jetzt einem biblischen Text zu, der in diesem Zusammenhang eher unerwartet und überraschend auftaucht, dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg:

„Das Himmelreich gleicht [oder besser: Mit dem Himmelreich verhält es sich wie mit] einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; und ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen. Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Rufe die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen habe. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein [das heißt: Bist du neidisch], weil ich so gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein“ (Matthäus 20,1-16).

In dieser Geschichte gibt es einen doppelten Blick auf die Arbeiter, sprich: die Menschen - den Blick auf den Lohn oder Preis, den ihre Arbeit wert ist, und den Blick auf die Achtung, die ihnen entgegengebracht wird. Beide Perspektiven haben ihr Recht, aber sie müssen sorgfältig unterschieden werden. Im Falle des Lohnes oder Preises, den die Arbeit wert ist, geht es um das, was recht und billig ist; die Arbeiter der ersten Stunde empfinden die Gleichstellung mit den später eingestellten als unbillig; der Hausherr argumentiert auf dieser Ebene damit, daß über den Lohn doch eine Verabredung getroffen worden sei. Im Blick auf die Achtung jedoch stellt der Hausherr - in seiner Güte - alle gleich.

Der doppelte Blick in diesem Gleichnis erinnert an Immanuel Kants Unterscheidung zwischen einem relativen und dem absoluten Wert oder, anders gesagt, zwischen Preis und Würde: „Im Reich der Zwecke“ - so Kant - „ hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet“ - und das ist nach Kant allein beim Menschen so -, „hat eine Würde.“ Die Frage ist allerdings: Was gibt dem Menschen diese herausgehobene Stellung? Welche Gründe hindern daran, ihn doch auf einen relativen Wert, ein bloßes Mittel zum Zweck zu reduzieren? Das Gleichnis aufnehmend und weiterführend ist zu antworten: Die Beziehung, in die sich Gott zu den Menschen setzt, sein gütiger Blick, der auf jeden Menschen fällt, gibt ihnen eine Würde, die zwar zeitweise missachtet und verletzt werden kann, aber unverlierbar, nicht verhandelbar, durch keine gegenteilige menschliche Verabredung oder gesellschaftliche Ordnung aufhebbar ist.

In eben diesem Sinne - dass nämlich Würde ein Beziehungsbegriff sei und in der Erschaffung des Menschen zu einem Gegenüber Gottes gründe - hat man neuerdings auch den Gedanken der Gottebenbildlichkeit ausgelegt. Damit wird jedenfalls eine Fehlentwicklung korrigiert, die mit dem traditionellen Verständnis der Gottebenbildlichkeit weithin verbunden war. Sie konnte nämlich als Hinweis auf Eigenschaften oder Fähigkeiten des Menschen, namentlich Vernunft und Sprache, gedeutet werden, die ihn aus den übrigen Geschöpfen herausheben und ihn „wenig niedriger als Gott“ (Psalm 8,6) machen. Aber die Menschenwürde muss, wie wir gesehen haben, nicht auf etwas Spezielles am Menschen, sondern auf das Menschsein selbst bezogen werden. Wer sie an besonderen Eigenschaften - zum Beispiel Vernunft und Sprache - festmacht, schließt eben dadurch Wesen, bei denen diese Fähigkeiten - etwa im Falle einer schweren Behinderung - fehlen oder beeinträchtigt sind, tendenziell aus der Menschheit aus.

Wenn das Verständnis der Menschenwürde in dem dargestellten Sinne an biblisch-theologische Einsichten anknüpft, haben wir allerdings ein Problem. Die heutige bundesdeutsche Gesellschaft ist in einem viel höheren Maße als zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes weltanschaulich vielfältig geworden. Woraus speist und erneuert sich das Verständnis der Menschenwürde bei denen, die die Verbindung zu den jüdisch-christlichen Wurzeln unserer Kultur nicht haben oder sogar dezidiert abweisen? Der kritische Impetus dieser Frage wird etwas gemildert, wenn auf andere Quellen des Menschenwürdegedankens hingewiesen sind: den Einfluss der griechischen Philosophie und den Einfluss der europäischen Aufklärung. Aber sie können die Prägekräfte des christlichen Glaubens keineswegs ersetzen - jedenfalls dann nicht, wenn das Leitbild der Würde des Menschen auch verfassungsrechtlich bleiben soll, was es bisher war.

III. Wie kann das Leitbild der Menschenwürde in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft bewahrt werden?

Die Frage stellt sich, in unterschiedlicher Intensität, auf mindestens drei Ebenen: im Geltungsbereich des Grundgesetzes, in der Europäischen Union und in einem globalen Kontext. Ich beschränke mich im mündlichen Vortrag auf die erste der drei Ebenen.

(1) Der Parlamentarische Rat hat 1948 bei den Beratungen über das spätere Grundgesetz „im Anschluss an ein Votum von Theodor Heuss die Menschenwürde noch als evidentes, nicht weiter begründungsbedürftiges Regulierungsprinzip verstehen und darum auch dezidiert auf eine bestimmte weltanschauliche Begründung der Menschenwürde verzichten“ können . Wie würden entsprechende Beratungen etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später aussehen und ausgehen? Der Konsens der Verfassungsrechtler über das Verständnis der Menschenwürde ist immerhin so brüchig geworden, dass Ernst-Wolfgang Böckenförde vor drei Jahren im Blick auf eine Neukommentierung von Artikel 1 des Grundgesetzes schreiben konnte: „Die Würde des Menschen war unantastbar.“ Der Anteil der Christen an der Bevölkerung ist auf  zwei Drittel zurückgegangen, die Prägekraft des Christentums hat sich abgeschwächt. Die Wiedergewinnung der deutschen Einheit  hat den Anteil der Konfessionslosen spürbar erhöht. Die Zahl der Muslime beträgt inzwischen über drei Millionen. Ob das Grundgesetz unter den heutigen Bedingungen noch einmal so, wie wir es jetzt haben: mit diesem Artikel 1 und mit dieser Präambel, zustande kommen würde, kann man mit guten Gründen in Zweifel ziehen.

Aber das sind - Gott sei Dank - bloß Gedankenspiele. Wir haben dieses Grundgesetz, wir haben diesen Artikel 1 mit seiner - allen Neukommentierungen zum Trotz - gewichtigen Auslegungstradition, und wir haben diese Präambel, die das ganze Grundgesetz in den Horizont der „Verantwortung vor Gott“ stellt und mit dieser Formulierung - "Gott", nicht "der dreieinige Gott", auch nicht "der Vater Jesu Christi" - offen ist für eine Füllung durch unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen. Wir haben auch einen gesellschaftlichen Konsens, dass die bestehende weltanschauliche Pluralität und die entstehende multireligiöse Situation als solche keine Veranlassung bieten, unsere Verfassung einer Revision zu unterziehen. Eine Verfassung kann und soll nicht die weltanschauliche Pluralität abbilden, sondern sie erhält ihr Profil und ihre Leistungsfähigkeit gerade dadurch, dass sie ganz bewusst bestimmte Traditionslinien aufnimmt und sozusagen zur „Leitwährung“ macht. Von den Zuwanderern wird darum mit Recht erwartet, dass sie die inhaltlichen Prägungen des Grundgesetzes bejahen und aktiv unterstützen.

(2) Die Europäische Union insgesamt teilt mit Deutschland im Prinzip denselben Bestand an geistigen Traditionen. Im Entwurf für einen Europäischen Verfassungsvertrag war das auch durchaus zum Ausdruck gekommen. Gleichwohl - im einzelnen sind viele Differenzierungen nötig. Der muslimische Bevölkerungsanteil ist in einigen Ländern deutlich höher als in Deutschland. In einer Reihe von Mitgliedsstaaten ist die Säkularisierung sehr weit vorangeschritten; die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften spielen in diesen Fällen im öffentlichen Leben keine prominente Rolle; das gilt in einer spezifischen  Weise dort, wo die Laizität zur Staatsdoktrin gehört. Andere Mitgliedsstaaten, vor allem die neu hinzutretenden in Ost- und Südosteuropa, sind nur in einem relativ begrenzten Maße vom Geist der Aufklärung geprägt. Etwa in den bioethischen Debatten wird deutlich, dass nur in wenigen Mitgliedsstaaten das Leitbild der Menschenwürde so tief verwurzelt und argumentativ so stark in Anspruch genommen wird wie in Deutschland; selbst eine Nation wie Großbritannien, die uns kulturell einigermaßen nahe steht, offenbart in den Äußerungen ihrer philosophischen und naturwissenschaftlichen Vertreter eine spürbare Fremdheit gegenüber der programmatischen Orientierung an der Menschenwürde.

Trotz aller Schwierigkeiten haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aber noch so viel gemeinsam, dass sie sich geistig und kulturell als zusammengehörigen Raum empfinden. Das macht es auch aussichtsreich, den ernsthaften Versuch zu unternehmen, dem Projekt eines Europäischen Verfassungsvertrags wieder Leben einzuhauchen - am besten auf die Weise, dass sein Umfang dramatisch reduziert wird.

(3) Es ist nicht überraschend, dass die Schwierigkeiten, ein gemeinsames geistig-kulturelles Fundament zu schaffen, um so mehr zunehmen, je disparater die geistige Welt der beteiligten Regionen ist. Darum stecken wir noch ziemlich in den Anfängen, für die Weltgesellschaft gemeinsame Orientierungspunkte zu identifizieren und in Konventionen festzuschreiben. Nicht überall ist der Gedanke der Menschenwürde das gesellschaftliche Leitbild, und dort, wo er Geltung erlangt hat, wird er keineswegs in einem übereinstimmenden Sinne interpretiert. Über diesen ernüchternden Befund kann es nicht hinwegtäuschen, dass die Vereinten Nationen in ihrer frühen Phase einige gehaltvolle Konventionen, etwa zu den Menschenrechten, geschaffen haben; sie entstammen einer Zeit, in der der europäisch-nordamerikanische Einfluss in den Vereinten Nationen dominant war. Es ist aber keineswegs ausgemacht, dass diese bis zum heutigen Tag spürbare Hegemonie im globalen Kontext von Dauer sein wird.

Eine "der Stärken des Menschenwürdebegriffs" liegt - so hat Bischof Huber Ende letzten Jahres vor der Synode der EKD ausgeführt - "in seiner Begründungsoffenheit für unterschiedliche weltanschauliche Zugänge. Deshalb braucht jedoch eine christliche Interpretation nicht zurückgehalten zu werden. Im Gegenteil: Sie ist schon deshalb gefordert, weil die ihre Universalität mitbegründende Unverfügbarkeit der Menschenwürde am konsequentesten durch die Beziehung zu Gott ausgesagt wird. Der Verzicht auf eine theologische Erschließung der Menschenwürde wäre geradezu verhängnisvoll, weil die gleiche und unantastbare Menschenwürde jeder menschlichen Person aus der profanen Vernunft allein nicht einsichtig gemacht werden kann. Vielmehr liegt der profanen Vernunft die Abstufung der Menschenwürde deshalb so nahe, weil sie in der empirischen Beobachtung viele Belege findet."

Weil die Achtung und der Schutz der Menschenwürde das Eingangsportal des Grundgesetzes bilden und die auf Artikel 1 folgenden Grundrechte, wie schon erwähnt, Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden, hat es in der politischen und gesellschaftlichen Debatte Deutschlands Tradition, viele konkrete Forderungen - um nicht zu sagen: alle möglichen Forderungen - aus dem Schutz der Menschenwürde herzuleiten. Das führt zu der Frage:

IV. Wird das Leitbild der Menschenwürde durch Überforderung geschwächt?

(1) In jüngerer Zeit sind es vor allem die Themenfelder der Sozialpolitik, der politischen Entscheidungen im Blick auf Zuwanderung, Bleiberecht und sonstige ausländerrechtliche Bestimmungen sowie der Biomedizin, auf denen der Schutz der Menschenwürde argumentativ für konkrete rechtliche und politische Forderungen in Anspruch genommen wurde. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf einige Hinweise zu den beiden ersten Themenfeldern. Schon am alltäglichen Sprachgebrauch zeigt sich eine offenkundige Verbindung zwischen dem Gedanken der Menschenwürde und sozialen Notlagen. Man redet z.B. von menschenunwürdigen Wohnverhältnissen oder von menschenunwürdigen Bedingungen am Arbeitsplatz. Die soziale Lage, in der sich jemand befindet, hat zweifellos - negativ oder positiv - etwas mit der Achtung seiner Würde als Mensch zu tun. Über die Wohnverhältnisse und Arbeitsbedingungen hinaus gilt das genauso für die Einkommensverhältnisse, konkret: die Situation der Armut, unter der bekanntlich besonders stark die mit betroffenen Kinder zu leiden haben, für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. den Ausschluss von ihm, den Zugang zu einer ausreichenden Bildung oder die Teilhabe an den Leistungen des Gesundheitssystems. Auch beim Umgang mit der Zuwanderung liegt es auf der Hand, dass und in welcher Weise dabei die Würde von Menschen berührt ist oder jedenfalls berührt sein kann. Für den Gedanken der Menschenwürde ist es ja gerade charakteristisch, dass sie nicht bestimmten - ethnisch oder religiös oder sonst wie definierten - Gruppen vorbehalten werden darf, sondern ohne Vorbehalte und Einschränkungen auf die Einbeziehung aller Menschen zielt, also nicht ein Privileg von wenigen, sondern ein universales Prinzip ist. Die Bilder von den Booten und Schiffen voller Menschen, die über die Mittelmeerküsten der Europäischen Union Zugang zu besseren Lebensbedingungen suchen, appellieren im Ergebnis an unser elementares Empfinden, dass dies Menschen sind wie wir, ausgestattet mit gleicher Würde, und dass sie deshalb nicht rigoros ferngehalten werden können.

(2) So viel steht fest: Notlagen wie die gerade geschilderten haben es definitiv mit der Würde der betroffenen Menschen zu tun. Aber man muss die Frage anschließen, ob sich daraus auch konkrete rechtliche und politische Forderungen ableiten lassen. Die Antwort heißt: im Prinzip ja, aber nicht direkt und unmittelbar, sondern nur über eine Reihe von vermittelnden Zwischenschritten, und diese Zwischenschritte bringen es mit sich, dass man - jedenfalls in der Regel - am Ende nicht bei eindeutigen Schlussfolgerungen landet. Das ist eigentlich immer so, wenn man von allgemeinen Normen und Maßstäben zu konkreten Handlungsempfehlungen voranschreiten will. Nicht dass die Handlungsempfehlung beliebig wird. Wenn eine Norm hinreichend leistungsfähig ist, lässt sich ein bestimmter Korridor von Handlungsempfehlungen angeben, und jeder Korridor hat Grenzen; aber Eindeutigkeit wird eben im allgemeinen nicht erzielt. Wer beispielsweise danach fragt, was aus dem Leitbild der Menschenwürde für die Fragen der Zuwanderung folgt, kommt um den Zwischenschritt nicht herum, über die gesellschaftlichen Folgen einer zahlenmäßig anwachsenden Zuwanderung nachzudenken. Wo dies aber geschieht, werden unterschiedliche Szenarien und Einschätzungen im Spiel sein, und demgemäß vielfältig sind die Schlussfolgerungen zum Maß der sozial verträglichen Zuwanderung.

(3)  So kann kein Zweifel sein: Wer das Leitbild der Menschenwürde zur alleinigen oder vorrangigen Grundlage für konkrete rechtliche und politische Folgerungen macht und auf diese Weise überfordert, beschädigt und schwächt dieses Leitbild. Denn es kann der Eindruck entstehen, der Gedanke der Menschenwürde habe keinen klar umrissenen Gehalt und sei wie Knetmasse formbar. Ein solches Resultat wäre aber in höchstem Maße schädlich. Denn wir brauchen wie in den Anfangsjahren der Nachkriegsrepublik so auch im 21. Jahrhundert das Leitbild der Menschenwürde als regulatives Prinzip der Verfassung und der gesamten Rechtsordnung.

Zum Abschluss komme ich noch einmal zurück auf die Frage der Wertorientierung:

V. An welchen Werten kann sich das Verfassungsrecht orientieren?

In der Süddeutschen Zeitung vom vergangenen Wochenende (23./24. Juni) erschien ein Interview mit dem US-amerikanischen Filmstar Bruce Willis. Thema: Werte. Willis geht der Ruf voraus, gesellschaftspolitisch eine eher konservative Einstellung zu haben. Die Frage, ob er ein sehr klares Wertesystem habe, bejaht er entschieden: „Allerdings. Sehr klar.“ Die nächste Frage lautet: „Wie sieht es aus, das Wertesystem?“ Willis antwortet:

„Ich bin ein guter Dad, das ist das Erste! ... Nichts ist mir wichtiger als meine drei Töchter. Ich liebe also meine Familie, und ich liebe meine Heimat. Ich liebe Amerika. Ich bin entschieden der Meinung, dass wir unsere Auffassung von Gerechtigkeit verteidigen müssen ... Niemand hat ethisch das Recht, weil er ein religiöser Fanatiker ist, einen unschuldigen Entwicklungshelfer zu kidnappen und vor laufender Kamera zu enthaupten. Ebenso wie ... niemand das Recht hat, ein Kind zu entführen, zu vergewaltigen und zu töten. Ich denke, beide Verbrecher ... sollten die Kugel in ihrem Kopf jeweils fest einkalkulieren. Beide sollten wir mit einem Fuck you von dieser Welt verabschieden.“

An diesem aktuellen, in der Wortwahl wenig wählerischen, aber im Blick auf die politische Auswirkung einigermaßen harmlosen Beispiel wird deutlich: Nicht alles, was unter Berufung auf ein Wertesystem als handlungsleitend ausgegeben wird, kann auf allgemeine Zustimmung rechnen. Etwas anderes ist auch gar nicht zu erwarten, wenn es zutrifft, dass Werte in hohem Maße durch subjektive Zuschreibung entstehen. Werte sind strittig. Darum reicht es, bei Lichte besehen, niemals aus, abstrakt eine Orientierung an Werten zu verlangen. Das wird zwar immer wieder gefordert: wertorientierte Erziehung, wertorientierte schulische Bildung, Wertorientierung in den Medien. Aber in dieser Beziehung ist nichts - oder fast nichts - selbstverständlich. Vielmehr kommt es stets darauf an, explizit zu sagen, für welche Werte man steht.

Vor einer knappen Woche fand die Eröffnungsveranstaltung des „Karlsruher Foyers Kirche und Recht“, einer von der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Erzdiözese Freiburg eingerichteten Gesprächsplattform, statt. In einem Vortrag führte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, dabei aus, dass der Staat auf Wertüberzeugungen und Grundhaltungen angewiesen sei, die er selbst nicht erzeugen und einfordern könne, und dass er deshalb die gesellschaftlichen Kräfte, die solche Werte pflegen und vermitteln, respektieren und fördern müsse. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sich dieser Thematik schon vor Jahren in einer von seiner Kammer für Öffentliche Verantwortung vorbereiteten Erklärung  zugewandt. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings unerlässlich, explizit zu entfalten, um welche gesellschaftlich relevanten Werte es sich handelt, und plausibel zu machen, dass und warum gerade die christlichen Kirchen zur Befestigung, Erneuerung und Verbreitung dieser Werte beitragen. Nur so kann der Wahrnehmung entgegengewirkt werden, es gehe den Kirchen um eine privilegierte Stellung. Der Staat muss weltanschaulich neutral sein und im Umgang mit den Religionsgemeinschaften stets den Gleichheitsgrundsatz beachten. Das schließt freilich nicht aus, dass er - aus wohlerwogenen Gründen - Unterschiede machen darf, ja gegebenenfalls machen muss. Die Auseinandersetzungen um die so genannte „Scientology Church“ waren in dieser Hinsicht ein erstes Wetterleuchten. Spätestens die Konfrontation mit einem fundamentalistischen Islam, der selbst Akte des Terrors religiös legitimiert, macht es unausweichlich, im Verfassungsrecht den Erscheinungsformen der Religion nicht mehr mit Indifferenz, sondern mit der Kraft zur kritischen Unterscheidung zu begegnen.