Theologische Überlegungen zum Landeskirchenprinzip, Landau

Thies Gundlach

I. Was Landeskirchen und alte VW-Käfer gemeinsam haben!

Warum haben die alten Volkswagen Trittbretter unter den Türen? Sie erinnern sich, diese alten, wunderbar runden VWs mit dem Heckmotor und den kleinen Rückfenstern, die heute kein TÜV mehr akzeptieren würde. Warum hatten die Trittbretter unter den Türen, obwohl die Tritthöhe bestenfalls 10 Zentimeter war, also von einer funktionalen Notwendigkeit gar keine Rede sein kann?

Der Philosoph Hermann Lübbe hat über genau diese Frage der Trittbretter am VW eine wissenschaftliche Abhandlung von über 300 Seiten geschrieben (seine Habilitation: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse) und dabei eine sehr kluge Antwort gefunden. Seine These lautet: Dass VWs Trittbretter unter der Tür haben, das kann man nicht erklären, sondern nur erzählen! Das kann man nicht erklären, indem man einen kausalen Grund oder eine Funktion nennt, sondern nur, indem man eine Geschichte erzählt. Allgemein gesprochen: Besonderheiten, Singularitäten, Einmaliges können nicht durch eine allgemeine Funktionen oder einen generellen Nutzen verständlich gemacht werden, sondern nur dadurch, dass man eine Geschichte erzählt.

VWs haben Trittbretter, weil das Auto die Fortführung der Postkutschen mit anderen Mitteln ist. Postkutschen aber hatten Trittbretter, damit man überhaupt rein¬kommt. Und in sie reinzukommen war bei Postkutschen deswegen ohne Trittbretter kaum möglich, weil die Räder der Kutschen sehr groß waren. Diese großen Räder waren aber nötig, weil die Straßen noch aus Sand und Staub bestanden und also viele große Schlaglöcher und Pfützen hatten. Kurzum: Der alte VW hat Trittbretter unter seinen Türen, weil die Straßen im 19. Jahrhundert schlaglochgefährdet waren. Wer die alten Bilder von den ersten Autos der Marke Benz oder Ford vor dem inneren Auge hat, der sieht jetzt auch die hochsitzende Frau Benz, die faktisch eine Postkutsche ohne Pferde fuhr. Und ich hatte noch in den 80iger Jahren eine alte Tante gehabt, die 1889 in Hamburg geboren wurde und zu den ersten Frauen gehörte, die in HH ein Auto fuhr (so um 1920 herum) und die ein Strafmandat vom Schutzpolizisten bekam, weil sie auf einer Straße 22 km/h fuhrt statt 15!

Ich habe dieses philosophische Buch von Lübbe im Studium gern gelesen, nicht nur, weil ich damit diese schwierige Trittbrettfrage klären konnte, sondern weil dies zugleich die einzig plausible Antwort auf die Frage ist, warum das Evangelium von Jesus Christus eine Weihnachtsgeschichte hat und wir diese jedes Jahr wieder erzählt bekommen!
Denn auch hier gilt: Was singulär und einzigartig ist, das kann man nur erklären, indem man eine Geschichte erzählt. Das Einzigartige, das Einmalige und Besondere, das, was keine Funktion hat, das muss man mit einer Geschichte nacherzählen, um es zu erklären. Dass es einen Heiland gibt, der in einer kleinen Höhle nahe bei Bethlehem geboren wurde, das kann man nur erzählen, so wie man die ganze Geschichte Jesu nur erzählen kann, weil es einzigartig und besonders ist. Und immer wenn Theologen anheben, die Geschichte Jesu sozusagen allgemein von einer Funktion her zu erklären, dann wird es schief, weil dann das Einzigartige und Besondere, eben das Unableitbare verlorenzugehen droht und Jesus Christus zu einem Beispiel für eine allgemeine Funktion wird (Urbild- und Vorbildchristologie).

Das Erzählen von einzigartigen Geschichte, ist glaube, dass dies auch das Gemeinsame von Theologen und Juristen ist: 

  • Vor einem Gericht erzählen wir von unserem Leben, wir erklären unsere Taten, indem wir die einzigartigen Bedingungen erzählen; und auch der Pfarrer/in hat das Privileg, ungezählte Geschichten von Menschen zu hören (Lebensschicksale);
  • Wir erzählen wir von unserer großen Liebe, wir erklären sie nicht ; so beginnen fast alle Traugespräche beim Pfarrer/in;
  • Und: wir erzählen die Geschichte unserer Landeskirchen, wir erklären sie nicht.

Andere Personen können von diese Geschichte der Landeskirchengrenzen im Blick auf die Protestantische Kirche der Pfalz sehr viel gekonnter und informierter erzählen als ich, weil ich als Nordlicht aus Hamburg und also der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (bald Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland) vermutlich ziemlich ahnungslos gegenüber den Geschichten der Protestantischen Kirche in der Pfalz bin. Aber immerhin: In Ihrem Fall müsste ich die Geschichte der Reformation erzählen und die des Kurfürstentums Pfalz, die Geschichte seines unglücklichen „Winterkönigs“ Friedrich V. und des Verlustes der Kurfürstenwürde, dann die Geschichte des Wiener Kongresse 1815 und der Zugehörigkeit zu Bayern, dann die Geschichte der Unionsabfrage 1818, der Generalsynode in Kaiserslautern (2. – 16. August 1818) und der erklärten „Vereinigte Protestantisch-Evangelisch-Christliche Kirche der Pfalz“, die 100 Jahre zu Bayern gehörte, sich dann aber zunehmend von Bayern trennte und 1918 in Speyer erst einen Konsistorialdirektor, seit 1920 einen Kirchenpräsidenten und seit 1976 einen neuen Namen bekommen hatte: Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche). Ich vermute sehr stark, dass Sie alle schöne und wundersame, auch beschämende und skurrile Einzelgeschichten aus ihren Regionen zu diesen nüchtern aufgezählten Daten erzählen könnten. Die These aber bleibt im Ganzen und im Speziellen gültig: Die heutigen Landeskirchengrenzen kann man nur erklären, in dem man eine Geschichte erzählt.

Dann aber muss man dies andere auch sagen erzählen: Ich habe mich gerade mit einer gewissen Erschütterung wieder eingelesen in die Geschichte des 30jährigen Krieges, – nicht zuletzt um das Reformationsjubiläum 2017 und die Lutherdekade 2013 mit dem Thema „Reformation und Toleranz“ angemessen zu verstehen.

Aber gleichgültig, ob ich mich nun mit der Geschichte des landesherrlichen Kirchenregiment und dem sog. Summepiskopat als Notbischofslösung in den protestantischen Ländern auseinandersetze, oder ob ich die klassische Unterscheidung zwischen dem ius in sacra (also dem heftig umstrittenen ius liturgicum des Landesherrn und seiner damit gegebenen Macht zum Eingriff in die Feierformen der Frommen) und dem ius circa sacra (das der Landesherr schon deswegen unwidersprochener ausüben dürfte, weil daran die Besoldung der Pfarrer und die Bauunterhaltung hingen), - immer lerne ich von diese eigenwilligen Mischung aus Zufall und Alltäglichkeit, mit denen sich die Landeskirchengrenzen etablierten. Dass Preußen nun einen Friedrich III. hatte und keinen Friedrich V., dass Napoleon ein langgestrecktes Baden brauchte, dass Bayern der Gewinner des Wiener Kongresses war und die Grafschaft Schaumburg-Lippe auch, - das und vieles mehr ist nicht mit prinzipiellen Erwägungen zu begründen, sondern eher das Ergebnis vieler sinnloser Schlachten und grausamer Kleinlichkeiten. Aber diese zufälligen Geschichtsergebnisse haben bei uns Protestanten eine ganz eigenwillige Dignität erhalten:

Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Rolle als Eltern, Onkels oder Großeltern noch dieses Spiel „Freese/Eingefroren“ oder auch „Stop-Tanz“ kennen, bei dem die Kinder zu einer Musik durch den Raum tanzen und in dem Augenblick stocksteif innehalten müssen, sobald die Musik aufhört. Ein bisschen ist es bei den Landeskirchengrenzen des Protestantismus auch so:
Kaum war die Musik auf dem Wiener Kongress verklungen und der Tanz zu Ende, sind die deutschen Landeskirchen wie eingefroren und bewegen sich nicht mehr.

II. Zur Geschichte des Landeskirchenprinzips

 Die (evangelischen) Landeskirchen hatten sich im Zuge der Reformation ausgebildet. Ihre geographische Größe entsprach und entspricht den Territorien, die durch das Teilungsprinzip deutscher Herrscher über Jahrhunderte entstanden waren. Mit dem deutschen „Flickenteppich“ war/ist die Vielheit der Landeskirchen eng verwoben. Die Auseinandersetzungen um den rechten Glauben haben sich dann im Reformationszeitalter auf diesen Flickenteppich gelegt, und umgekehrt: die geistlichen Anliegen der Reformation bzw. dann der Gegenreformation sind mit den politischen Interessen und Streitigkeiten jener Zeit des Flickenteppichs aufgeladen worden. Eigentlich war es ja das theologische Grundanliegen des Reformators Martin Luther, eine klare Unterscheidung zwischen dem Bereich der Religionsausübung und dem Bereich des Politischen aufzuzeigen (M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei), aber die historisch gewachsene Verbundenheit zwischen einzelnen Ländern und der Reformation machte es andererseits möglich, dass die Überzeugungen des Protestantismus Verbreitung fanden. Und das wird man nicht zuletzt im Blick auf das Reformationsjubiläum auch nüchtern eingestehen müssen:In einem Zentralstaat hätte es entweder keine Reformation oder nur die eine Reformation gegeben!

Nüchtern muss man also zuerst daran erinnern, dass die Aufteilung der Konfessionen auf einzelne Länder in der Reformationszeit zunächst vor allem friedenstiftenden Charakter hatte. Die verschiedenen Konfessionen, katholische, lutherische und später auch die reformierte bekamen 1555 und dann wieder 1648 Raum zugestanden, in dem sie uneingeschränkt gelebt und gelehrt werden konnten. Diese friedenstiftende Komponente, die die Zuteilung von Kirchen zu Ländern hatte, ist evangelisch-theologisch gut zu begründen, insofern Glaubensüberzeugungen weder mit Gewalt gewirkt noch geändert werden können. Die Gewissensfreiheit, die Martin Luther vor Kaiser und Reich und die Reformation im Reich erstritten hatten, hieß eben immer auch, dass der Staat in Glaubensdingen den einzelnen zwar zum Auswandern aus dem Landes, aber nicht zum Auswandern aus seinem Glauben zwingen konnte. Dadurch, dass in den verschiedenen Ländern verschiedene Konfessionen Raum erhielten, war eine – allerdings nur – relative Religionsfreiheit gewährt.

Diese außergewöhnliche Lösung hatte auch zukunftsweisendes Potenzial, denn dass in einem Land verschiedene Konfessionen anerkannt werden und miteinander klar kommen mussten, diese Konstellation hat es nur in dem Flickenteppich Deutschland gegeben. Sie hat dies Land zwar durch schwere Schatten und schreckliches Leid geführt (der Dreißigjährige Krieg gilt als Ur-Katastrophe Deutschlands), aber sie hat letztlich doch exemplarisch zu einer religiösen Toleranz geführt, die sich heute in einer konfessionell befriedeten Situation spiegelt. Und es gibt nicht wenige jüngere Länder gerade in Südosteuropa, die sich an den Gesetzen und Regelungen dieses religiös befriedeten Deutschlands orientieren wollen und dankbar sind, dass es keineswegs nur religiös einheitliche geprägte Staaten wie Polen oder säkularisierte Staaten wie Tschechien oder Holland in Europa gibt. Der Kirchenjurist von Campenhausen schreibt:
 „Für die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche in Deutschland in der Folgezeit ist der Augsburger Religionsfriede vom 25. September 1555 grundlegend. Er wurde das wichtigste Verfassungsgesetz des alten Reiches überhaupt. Durch den Westfälischen Frieden vom 24. Oktober 1648 bestätigt und modifiziert, bildete er die Rechtsgrundlage für die religionsrechtliche Parität im Reich und das obrigkeitliche Kirchenregiment in den Territorien bis zum Ende des Reiches 1806. In seinen praktischen Auswirkungen ist er bis zu den großen Bevölkerungsverschiebungen nach 1945 spürbar geblieben.“ (von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 42006, 11). Denn die einzelnen Landeskirchen sind in der Bundesrepublik Deutschland Körperschaften des öffentlichen Rechts (vgl. dazu GG Art. 140 in Verbindung mit WRV 137) und werden - entsprechend der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik - in einem jeden Bundesland u.a. durch die Schulgesetzgebung und die Feiertagsregelung, durch die Universitätspolitik und die Staats-Kirchenreglungen unterschiedlich geprägt. Die These lautet also: Die Verschiedenheit der Landeskirchen sind in den letzten 60 Jahren zu einem nicht geringen Teil Folge der unterschiedlichen Kulturpolitik der Bundesländer. Manche Landeskirchen konnten daraus Vorteile ziehen (Staatsleistungen), für die „Einheitlichkeit der Verkündigungsverhältnisse“ muss die Gemeinschaft der Gliedkirchen Sorge tragen.

III. Zur Bedeutung der Bekenntnisse für das Landeskirchenprinzip

Die Begründungen der Landeskirchengrenzen, die ich gefunden habe, sind deutlich zeitbedingt und interessengeleitet und insofern heute wenig kraftvoll. Die drei wichtigsten Begründungen will ich jedenfalls andeuten, nämlich

  1. die Theorie des Episkopalismus aus dem 17. Jahrhundert, die konsequent von oben nach unten dachte und insofern das Grundprinzip des Augsburger Religionsfrieden von 1555 („cuius regio, eius religio = wessen Land, dessen Glaube“) am konsequentesten anwandte
  2. die Theorie des Territorialismus, das den Absolutismus auf die Kirche anwandte, aber im Grunde nach der Aufklärung die Kirchendinge als einen Teil aller vom Landesherrn zu bestimmenden Lebensbereiche betrachtete und also auch auf kircheneigene Plausibilitäten nicht hören musste,
  3. und die Theorie des Kollegialismus, die noch in der Verfassung der Weimarer Republik und damit auch in unserer Verfassung in dem Stichwort von den „Religionsgesellschaften“ auftaucht und faktisch die in der Aufklärung gewonnenen Einsicht in die (mögliche) Pluralität der Glaubensbekenntnisse in einem Territorium aufnahm und die sog „Möbelwagenkonversion“ einleitete.

Alle drei Theorien konstruieren eine theoretische Plausibilität der Landeskirchengrenzen, die in der Sache gar nicht zu begründen ist. Denn die Landeskirchen sind ein „weltlich Ding“, wie Luther sagen würde, sie gehören zu den sog. „adiaphora“, als jenen Dingen, die es zwar zu beachten gilt um der Schwachen willen, die aber keinerlei Bedeutung für das Heil der Seele haben. Ich habe allerdings seit dem Reformprozess der EKD 2006 die Erfahrung gemacht, dass der Hinweis auf die geistliche Funktionslosigkeit der Landeskirchengrenzen mitunter nicht nur kritische, sondern verletzte Reaktionen ausgelöst haben. Warum eigentlich? Welche Energie ist im Raum, wenn man über Landeskirchengrenzen spricht?

In meinen Augen hat dies mit der heutigen Theoriebildung zu den Landeskirchen zu tun, denn faktisch wird das Landeskirchenprinzip als Theorie der Bekenntnisprägung entfaltet, aber eben diese Prägung schwindet. Weil die Bekenntnisbindung in den evangelischen Landeskirchen kein von der Erfahrung des Glaubens mehr getragenes Bindungselement ist, deswegen wird m.E. viel zu heftig gestritten. Oder noch etwas zugespitzter formuliert: Weil vor allem wir Hauptamtlichen und Hochverbundenen gerne möchten, dass die Bekenntnisprägung wichtig sei, reagieren wir überspitzt auf Infragestellungen.

Die Bekenntnisbindung als tragendes Prinzip der Landeskirchen wird natürlich zuerst und zuvörderst von der VELKD, aber auch von der aus der Arnoldshainer Konferenz und der Evangelischen Kirche der Union (EKU) herausgewachsenen Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK)EK betont. Aber faktisch spielt diese keine glaubensgründende Rolle mehr, was man nicht nur an der „Möbelwagenkonversion“ sehen kann, sondern auch an der Herkunftsgeschichte der gegenwärtigen Generation der Leitenden Geistlichen (als modernes Summepiskopat).

Die bisherige Bekenntnisargumentation geht etwa so:
Die Wahrheitsfrage ist die Frage, die grundlegend konfessionelle Differenzen bedingt. Weil Wahrheitseinsicht aber nicht erzwungen werden kann, ist es theologisch und anthropologisch angemessen, eine Pluralität an Konfessionen zuzulassen. Dies gilt innerevangelisch ebenso wie im Blick auf die großen christlichen Konfessionen. Ich komme gerade von der Ökumenischen Debatte in Trier anlässlich der Heilig-Rock-Wallfahrt im April dieses Jahres und betone deswegen dieses schöne Argument: Die Vielzahl der christlichen Konfessionen spiegelt die Differenz zwischen dem einen Grund aller Kirchen in Jesus Christus und den vielen geschichtlichen Gestaltungen in den Kirchen. Und eben diese Vielfalt bildet den Kanon des NT nach, denn der Kanon begründet nicht die Einheit der Christen, sondern die Vielfalt der Konfessionen (so Ernst Käsemann). Als „Kirche“ wird aber nach reformatorischem Verständnis eine Gemeinschaft bezeichnet, die mit Predigt und Sakrament das Evangelium verkündet („Es ist aber die Kirche die Versammlung der Heiligen, in der das Evangelium rein gelehrt wird und die Sakramente recht verwaltet werden“ (CA VII). Auf dieser Grundlage haben sich die Landeskirchen in der EKD zusammengeschlossen und es besteht in der EKD unter den Gliedkirchen „Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft“. Doch in welchem Verhältnis stehen Bekenntnis und Kirche nun heute tatsächlich zueinander? In einem Bekenntnis wird das bekannt, was unter gegebenen Umständen erkannt und als zutreffend anerkannt ist. Es gibt daher keine „zeitlosen Bekenntnisse“, sondern im Bekenntnis formuliert eine Gemeinschaft ihre Einsichten zu einer bestimmten Herausforderung; deswegen haben Bekenntnisse in der Regel einen affirmativen, bejahenden und einen negierenden, verwerfenden Aspekt.

Die grundsätzliche christliche Bekenntnisgemeinsamkeit wird durch die später formulierten Bekenntnisse jeweils spezifisch profiliert; Bekenntnisse sind so gesehen Lektüreregel für die eine, gemeinsame Bibel! Die Bekenntnisse deuten das eine Evangelium Gottes in Jesus Christus unterschiedlich und drücken in verschiedener Weise das eine Glaubensgeheimnis aus.

Entsprechend zu jeder besonderen historischen Situation der Entstehung der Bekenntnisse gibt es so römisch-katholische, orthodoxe und verschiedene reformatorische Kirchen. Und nach evangelischem Verständnis wird diese eine Heilsbotschaft, wie sie in der Bibel gegeben ist (norma normans), in den späteren Bekenntnissen der Reformation spezifisch ausgelegt (norna normata). Will man aber an der Einsicht festhalten, dass Bekenntnis der menschlich unerlässliche Versuch ist, die eine Wahrheit Gottes in einer bestimmten Situation in Affirmation und Negation auszusprechen, dann ist die Geschichtlichkeit der Bekenntnisse unbestreitbar.

Heute aber, im Jahre 2012, sind die reformatorischen Kirchen, die lutherische, die reformierte und die unierte Kirche seit annähernd 40 Jahren als öffentliche Institutionen unter dem Dach der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vereinigt. Die EKD wird von den allermeisten Menschen als „die“ evangelische Kirche wahrgenommen und verstanden.
Das hat auch sein gutes Recht, denn die Zahl 40 – seien es nun Jahre (Israel) oder Tage (Jesus) in der Wüste - ist eine heilige Zahl, die den klassisch-hegelianischen Umschlag von Quantität in Qualität symbolisiert:

Die drei Bekenntnistraditionen haben sich in dem 1973 beschlossenen Text der sog. „Leuenberger Konkordie“ darauf verständigt, dass sie im Verständnis des Evangeliums und der Sakramente grundsätzlich übereinstimmen und insofern keine kirchentrennenden Gründe mehr vorliegen. Diese Konkordie ist ein gewaltiger Schritt gewesen, der gar nicht genug gewürdigt werden kann; denn man muss sich immer wieder daran erinnern lassen, dass noch während der Barmer Bekenntnissynode 1934 die gemeinsam im Widerstand stehenden evangelischen Christen nicht gemeinsam Abendmahl feiern konnten. Die im Jahre 2013 40-jähriges Jubiläum feiernde Leuenberger Konkordie ermöglicht es uns heute, miteinander die Heilsbotschaft Gottes zu hören, die Sakramente zu feiern, die Kanzeln für Pastoren/innen aus den verschiedenen Bekenntnistraditionen zu öffnen und gemeinsam „Kirche für andere“ zu sein. Die Konkordie hat damit nach 40 Jahren faktisch die Rolle eines gemeinsamen bekenntnisartigen Referenztextes für alle reformatorischen Traditionen in der EKD übernommen. In jüngster Zeit hat der Münchner Systematiker Gunther Wenz den Versuch gemacht, die CA als Grundbekenntnis der EKD einzubringen, weil nach seiner Überzeugung die EKD sonst keine Kirche sei. Das scheiterte aber daran, dass die reformierten und unierten Kirchen diesen Weg nicht mitgehen konnten. Aber die EKD braucht kein Bekenntnis, sie hat eines, nämlich die „Leuenberger Konkordie“, die ihr in „gebührender Achtung“ vor den Bekenntnissen der Väter und Mütter einen theologischen Grundrahmen setzt. Innerhalb dieses Rahmens können die jeweiligen Bekenntnistraditionen ihre geistlichen Schätze eintragen in die Gemeinschaft der evangelischen Kirche, auch die EKD braucht eine innerevangelische „Ökumene der Gaben“. Auch wenn sich die „Leuenberger Konkordie“ selbst nicht als ein Bekenntnis versteht, ist sie doch faktisch der Referenzrahmen, in dem die Bekenntnisse der protestantischen Konfessionen ausgelegt werden müssen. Die „Leuenberger Konkordie“ bildet das Gemeinsame der verschiedenen Konfessionen ab, ohne deren je eigenen Schätze zu verachten, - und eben dies wird durch die EKD gewahrt und gestärkt. Ein Bekenntnisdefizit der EKD kann ich jedenfalls nicht erkennen. Und dass die Gliedkirchen in der EKD faktisch in „wesentlichen Fragen des kirchlichen Lebens und Handelns“ zunehmend nach übereinstimmenden Grundsätzen verfahren, ist keine Folge eines falschen Zentralismus, sondern Folge einer Bekenntnissituation, die das „cuius regio, cuius religio“ aufgehoben hat. Von der sog „Möbelwagenkonversion“ bis zum „Finanzausgleich“, von den missionarischen Herausforderungen bis zu Sparkonzeptionen, - die evangelischen Landeskirchen stehen im Prinzip vor vergleichbaren Herausforderungen und folgen ähnlichen Lösungsmodellen, unabhängig von ihrem Bekenntnisstand. Und dass bei den Leitenden Geistlichen uniert geprägte Menschen auf lutherischen Bischofssitzen wirken und lutherisch geprägte Christen unierte Kirchen leiten, ist ja auch ein sprechendes Zeichen für unsere Situation. Deswegen riskiere ich einmal eine vielleicht etwas provokante These:

Wohl sind uns Internen (den Hauptamtlichen und Kerngemeinden) die Unterschiede und Differenzierungen zwischen den Bekenntnistraditionen bewusst und wichtig; aber sind sie es für jemanden außerhalb dieses engeren Zirkels?

Kann man von außen und als Ungeübter 40 Jahre nach Leuenberg noch verstehen und wichtig finden, was der Unterschied zwischen lutherische, reformiert und uniert ist? Muss man nicht lange Geschichten erzählen, um dies jemanden zu erklären? Müssen wir heutzutage nicht froh sein, wenn der Unterschied zwischen der römisch-katholischen Kirche und der evangelischen Kirche nicht eine Frage des Spezialwissens wird? Und machen wir diese internen Differenzen nicht deswegen so groß und fallen bisweilen in eine Art unselige Re-Konfessionalisierung zurück, weil wir nach außen nicht mehr ganz so viel erreichen?
 
Die Konsequenz aus all diesen Fragen lautet für mich: Die Bekenntnisunterschiede innerhalb der evangelischen Kirche sind heute in unserer Generation gar nicht mehr die Linien, an denen sich theologisch oder ekklesiologisch etwas Zentrales entscheidet. Die Herausforderungen unserer Generation, die gewichtigen Konfrontationslinien, auch die Beheimatungen im Glauben und den real existierenden Kirchgemeinden laufen für die große Mehrheit der Menschen nicht mehr an den aus der Reformation ererbten, regional konkretisierten Bekenntnisfragen entlang, sondern an Fragen der Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit, der Mystik und der Mission. Die Unterschiede der Bekenntnistraditionen sind zweifellos Reichtümer, aber keine Identifikationsmerkmale mehr. Und ich gestehe meinen Eindruck, dass sie mitunter künstlich hochgehalten werden, - gerade auch von den Hochverbundenen. Denn jede aufrichtige Abfrage der Kenntnisse über VELKD und UEK weist nach, dass diese Differenzierungen Unterscheidungen der Hoch- und Höchstverbundenen sind, einschließlich vor allem der Hauptamtlichen, aber nicht der Glaubenden vor Ort. Und wir müssen gemeinsam aufpassen, dass wir diese internen Differenzen nicht über Gebührt strapazieren, denn ohne eine allgemeine Plausibilität führen solche internen Differenzen zur Abwanderung der Mehrheit.  

IV. Reformprozess

Sind aber weder die historischen Grenzen der Landeskirchen noch die Bekenntnissituationen ein bestimmendes Argument für die gegenwärtige Existenz der Landeskirchen, dann stellt sich unvermeidlich die Frage nach den Aufgaben, die eine Landeskirche wahrzunehmen hat. Wenn alte Plausibilitäten verschwinden, müssen neue gefunden werden. Was also muss eine Landeskirche können, was muss sie sicherstellen und gewährleisten, damit sie in ihrem historisch zufälligen Umfang plausibel ist? Genau dies ist die Leitfrage des Impulspapiers bzw. des Reformprozesses gewesen, das der Rat der EKD im Jahre 2006 veröffentlicht hat.

   Das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ hat 2006 etwas unsentimental und unhistorisch schlicht nach den Funktionen der Landeskirchen heute gefragt und die These verfolgt, dass angesichts der heutigen Herausforderungen „zunehmend Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit eine erhebliche Rolle“ spielen sollten, denn „die Zahl und die Grenzen der Landeskirchen sind ein „weltlich Ding“. Was aber sollen Landeskirchen leisten können?
„Zu den Diensten und Leistungen, die eine Landeskirche erbringen muss, gehören neben der symbolischen regionalen Repräsentanz des Protestantismus und der Koordinierungsaufgabe gegenüber staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen eine ausreichende theologische Leitungs- und Profilierungskompetenz, eine angemessene Beweglichkeit in der Besetzung der Stellen für berufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, eine hinreichende Aus-, Fort- und Weiterbildungskapazität für die berufliche und ehrenamtliche Mitarbeiterschaft, eine überzeugende Beratungskompetenz für die Kirchenkreise und Gemeinden und eine ausreichende finanzielle Kraft.

Sicher: eine Veränderung der Landeskirchen ist auch für das Impulspapier „kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck der besseren Aufgabenerfüllung und der Erhöhung der Öffentlichkeitswirkung der evangelischen Kirche.“ Aber faktisch erleben wir die Veränderungsfähigkeit des Protestantismus auf allen Ebenen als problematisch: Versucht ein Kirchenkreis oder Dekanat, aufgrund der zurückgehenden Ressourcen zwei oder drei Gemeinden zusammenzulegen, gibt es erhebliche Komplikationen bis hin zu Zentralismusvorwürfen, Verwerfungen und Kirchenaustritte engagierter Mitglieder. Versucht eine Landeskirche, zwei oder drei Kirchenkreise aus nämlichen Gründen zusammenzulegen, gibt es Zentralismusvorwürfe, Verwerfungen und Kirchenaustritte engagierter Mitglieder. Versucht man als EKD, das Thema Zusammenlegung von Landeskirchen anzusprechen, gibt es Zentralismusvorwürfen und Verwerfungen, - von Kirchenaustritten Leitender Geistlichen habe ich noch nichts gehört. Natürlich gilt der Grundsatz, der auch schon im Impulspapier steht: "Ebenso wie kleine Kirchengemeinden den Menschen örtlich nahe sind, so haben kleinere Landeskirchen den Vorteil, mit den jeweiligen regionalen Bedingungen vertraut zu sein. Dieser Vorteil muss bewahrt und genutzt werden; eine Zentralisierung aller Entscheidungen ist deshalb nicht der richtige Weg.“ Aber die Schwächung des Protestantismus ist ja auch nicht gut zu bestreiten:

Uns ist eine relativ kleinteilige und abstimmungsintensive Reaktionsweise auf geistige, gesellschaftliche und politische Herausforderungen zu Eigen. Wir sind den Bundesländer kein kräftiges Gegenüber, im Gegenteil: der historisch gewachsene Bestand der bekenntnisgebundenen Landeskirchen ist nicht ausgerichtet auf die Herausforderungen der gegenwärtigen Ländersituation in Deutschland. Es versammeln sich mehrere Landeskirchen in einem Bundesland (Rheinland-Pfalz) oder es sind mehrere Bundesländer, die in einer „Landeskirche“ mitbestimmen (Rheinland).

Und die Kirchen wirken in ihrer Vielstimmigkeit oftmals kraftlos, wie man am Beispiel der Universitäts-Standortpolitik durchaus lernen kann. Und darüber hinaus lässt sich ohne prophetische Gaben formulieren: Wir werden in absehbarer Zeit eine zunehmende Zahl von Landeskirchen haben, die ihre Grundfunktionen nicht von allein aufrecht erhalten können, sondern nur noch durch den innerevangelischen Finanzausgleich.

Alle diese Argumente haben vor fünf Jahren dazu geführt, in „Kirche der Freiheit“ das heftig umstrittene Leuchtfeuer 11 zu formulieren, nach dem “bis zum Jahre 2030 … die Zahl der Gliedkirchen in der evangelischen Kirche so konzentriert (sein sollte), dass eine annähernd gleichstarke kirchenleitende Dienstleistung für alle Regionen in Deutschland ermöglicht und die Zukunftsfähigkeit der Kirche dadurch nachhaltig gefördert wird. Als politisch sinnvoller Ausgangspunkt für die zukünftige Zahl und Größe der Landeskirchen liegt die Orientierung an den Bundesländern (ohne die kleinen Länder) nahe. …. Im Jahre 2030 sollte es zwischen 8 und 12 Landeskirchen geben, die an den Grenzen der großen Bundesländer orientiert sind und jeweils nicht weniger als 1 Millionen Kirchenmitglieder haben."

Dieser Vorschlag hat zu den größten öffentlichen Aufmerksamkeitswellen geführt, die das  Impulspapier ausgelöst hat; aber man wird fünf Jahre später nüchtern sagen müssen, dass auch dieses umstrittene Leuchtfeuer 11 erhebliche Wirkung gezeigt hat:
Wir werden ab Pfingsten 2012 nur noch 20 Landeskirchen haben, auch weil sich zuvörderst die Landeskirchen der neuen Bundesländer bewegt haben: die schlesische Oberlausitz ist zur EKBO gegangen, die Landeskirchen Thüringen und Kirchenprovinz Sachsen zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und die Nordkirche wird drei ehemalige Landeskirchen zu einer einzigen zusammenfassen, und dann geschlossen drei Bundesländern gegenübertreten. Und dass bisher im Westen eher von Fusionen und Kooperationen die Rede ist, verstehe ich als behutsamen Anmarschweg hin zu einem Zusammenwirken, dessen Formationen noch nicht so leicht zu erkennen sind, die aber zweifellos sichtbar werden, wenn die Ressourcen noch weiter zurückgehen.

Aber unbestreitbar richtig ist doch dies: Wenn im Impulspapier nach der Funktion der Landeskirchen gefragt wird, dann lässt sich für die Reformationszeit eine Antwort finden (siehe oben: die befriedende Wirkung durch Trennung der Gebiete). Wenn wir heute nach der Funktion fragen, dann sind es eher Dienst-Leistungen, die eine Landeskirche erbringen muss. In diesem Wechsel spiegelt sich natürlich auch der Geist unserer Zeit: Die Landeskirchen müssen Antwort geben auf Herausforderungen, für die sie nicht „erfunden“ wurden. Aber dass man nun eine Art Untergrenze formuliert, unterhalb dessen eine Landeskirche jene erwartbaren Leistungen nicht mehr anbieten kann, liegt doch auf der Hand. Warum also können wir nicht rational, funktional und organisationsprofessionell über die Landeskirchengrenzen debattieren? Warum tun wir nicht, was theologisch ja unbestreitbar ist: Die Landeskirchen als ein „weltlich Ding“ zu betrachten?  
 
V. Beheimatung gelingt in Begrenzung

Bei dieser Frage fällt natürlich zuerst auf, dass sich die Zusammenlegung in Westdeutschland etwas zäher ausnimmt als im Osten; ob es in der Pfalz überhaupt Diskussionen zu diesem Thema gibt, ist mir unbekannt. Baden und Württemberg haben ihre Vereinigung beschlossen, allerdings erst am Ende aller Tage und das auch erst gegen Abend. Bayern ist sowieso eine Welt für sich, allerdings auch ein Vorbild, insofern hier staatliche und landeskirchliche Grenzen identisch sind. Aber gerade Bayern lenkt den Blick auf die kleinen „Grenzbegradigungsfragen“: Schaut man sich die Landkarte der EKD-Gliedkirchen an, dann haben wir in West- und Ost einige landeskirchliche „Zipfelzugehörigkeiten“, die so gar nicht mit den Ländergrenzen übereinstimmen. Ob Sie Sachsen nehmen oder die EKBO, ob Sie Kurhessen mit seinem Schmalkalden in Thüringen nehmen oder das Rheinland mit seinem Überlappungen in vier Bundesländer, - allein hier wäre eine beachtliche, aber nur „kleine Reformaufgabe“ zur Anpassung der landeskirchlichen Grenzen an die Ländergrenzen. Aber ich verrate ja kein Geheimnis, wenn ich sage: selbst das dürfte außerordentlich schwierig werden. Warum eigentlich? Warum hängen Menschen so stark an einer althergebrachten Zugehörigkeit? Was macht die Landeskirchengrenzen so stabil? Warum halten sie zwei Jahrhunderte, wo doch die freien Städte aufhören, die staatlichen Grenzen aufhören oder sich verschieben und das Europa der Länder immer stärker werden? Was sind die Kräfte, die die Landeskirchen in fast jeder zufälligen Form und Größe entgegen aller rationalen Planung und Gestaltung quer zu den föderalen Bundesländern am Leben erhalten?

Darauf gibt es zweifellos viele Antworten; einen Aspekt will ich gerade im Blick auf die schöne Regel aus der Habilitationsschrift Hermann Lübbes anwenden. Wenn es zutrifft, dass man das, was nicht zu funktionalisieren ist, erzählen muss, um es zu erklären, dann will ich mein Argument mit einer Erzählung aus dem Norden einleiten:

Aus Husum an der Nordsee stammt einer der klügsten Deutschen, den ich kenne, nämlich Ferdinand Tönnies (1855 Eiderstedt/Husum – 1936 Kiel). Er ist der „Erfinder“ deutscher Soziologie, kein Nazi (1933 als Beamter entlassen), sondern Thomas Hobbes Forscher und skeptischer Rationalist. Sein wirkmächtigstes Buch trägt den Titel: Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887 (1912, 2. Auflage) und bearbeitet die Leitfrage: Warum bejahen sich Menschen? Verneinung wäre doch natürlicher, der Mensch ist des Menschen Wolf.
Es gibt zwei Formen der Bejahung (= gemeinsames Handeln), a)  die Gemeinschaft wie z.B. die gewordene und gewachsene Familie mit emotionalen Vertrautheiten, und die b) die Gesellschaft, z.B. Aktiengesellschaft, die gemacht und gestaltet ist nach (zweck-)rationalen Absichten. Dieses Typisierung (in der Realität kommen beide immer zusammen vor) spiegelt einen Grundkonflikt jeder Modernisierung und tritt immer wieder in Krisen und Übergängen auf: Im 19. Jh. betonen z.B. Herder, Schleiermacher, die Gebrüder Grimm u.v.a. das Gewordene, Gewachsene, Gemeinschaftliche. Casper David Friedrich malt die Ästhetisierung, Johannes Brahms musiziert sie. Dagegen kennzeichnet Immanuel Kant die Aufklärung, die Industrialisierung schafft Rationalisierung, Karl Marx und Friedrich Engels konstruieren einen neuen Menschen und eine neue Realität, die Wirtschaft schafft Geld-Gesellschaften, Architekten bauen „neue Kathedralen“ wie Bahnhöfe, Museen und Friedhöfe, in der Musik wird das 12-Ton-Prinzip entdeckt u.v.a.m. Und man kann auch unschwer im 19. Jahrhundert typische Reaktionen auf diese spannungsvolle Modernisierung kennen lernen, die ebenfalls noch heute zu finden sind:

Wer Gewachsenes und Gewordenes überbetont, der ist zwar positiv gesehen konservativ-bewahrend, er kommt tendenziell zu spät (vgl. Helmut Pleßners: Verspätete Nation) und reagiert oft heftig antimodern und ist gefährdet als gemeinschaftstümmelnd. Gemachtes und Gewolltes dagegen zu betonen ist positiv gesehen liberal, offen, veränderungsbereit, es wird aber tendenziell als abstrakt, seelenlos, rechtwinklig und ausgedacht beurteilt.

Die gegenwärtig intensiv diskutierte Frage nach der Kirche als Institution (Gewordenes) oder als Organisation (Gemachtes) muss in dieser Kontinuität bedacht werden - einschließlich der Gefährdungen. Und es ist nicht schwer, die Frage nach den Landeskirchen einzuzeichnen in diesen von Ferdinand Tönnies aufgezeigten Grundkonflikt zwischen Gemachtem und Gewordenem. Denn die Spannung zwischen der Institution Kirche, die als Institution der Freiheit (Trutz Rendtorff) gerade in der Unabhängigkeit, Zeitlosigkeit und Gewordenheit ihre Rolle findet, und die Kirche als Organisation, die Ziele verfolgt und Aufgaben definiert, - diese Grundspannung ist eine mit jeder Modernisierung der Gesellschaft gegebenen Herausforderung, die auch unsere Generation bearbeiten muss. Wenn wir über das Prinzip der Landeskirchen nachdenken, dann reden wir nicht allein von Funktionen und rationalen Notwendigkeiten, sondern über Gewordenes, Gewachsenen, Überliefertes; im Kern reden wir bei diesem Thema über Beheimatung und Vertrautheit, letztlich über Heimat.

Was aber ist Heimat? Immer hat es auch etwas mit Heimatgeruch und Heimatmusik, mit Saumagen und Knödel, mit Landschaftsfarben und Wolkenformationen zu tun, eben mit dem, was Fritz Kuhn einmal so gesagt hat:
 
Heimat ist
Der Schnee
- die fünf Arten –
der Ostern noch lag.

Der Garten im Sommer
die Wärme des Teers
im Freibad der Stadt.

Der böse Nachbar am Fenster
der niemals uns Kinder
verstand und ertrug.

Der Wunsch nach der Ferne
der schwarzen Musik
das Ja und Nein.
 
Der große Pfälzer Sohn Ernst Bloch hat Heimat in einem berühmten Diktum am Ende seines dreibändigen Werk „Das Prinzip Hoffnung“ als Utopie gesehen, also nicht rückwärts, sondern vorwärts gedeutet:
„Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Meine Überzeugung lautet: Mit dem Landeskirchenprinzip ist heute eher eine Art „Mentalitätsbeheimatung“ verbunden als Bekenntniseinheit oder Funktionsklarheit. Das heißt aber auch: Welche strukturellen und großkirchlichen Veränderungen und Zuordnungen auch immer in Zukunft anstehen werden: „Pfalz bleibt Pfalz, wie es singt und lacht“, auch kirchlich-religiös. Es wird immer so etwas geben wie eine von der pfälzischen Union geprägte Spielart evangelischer Frömmigkeit, auch wenn wir nur noch die EKD und 10 Gliedkirchen hätten. Denn dies andere stimmt ja auch: Je schneller die Veränderungen, je dynamischer die Kommunikation, je dramatischer die Mobilität in die Familien und Beziehungen eingreifen, desto wichtiger, aber auch verzweifelter wird das Festhalten an vorhandenen Beheimatungsgrenzen. Man kann auch etwas abgekürzt, aber doch plausibel formulieren: Je mehr Europa, desto mehr Pfalz. Oder umgekehrt: Heimatgrenzen nach funktionalen Gesichtspunkten zu verändern und als (religiöser) „homo faber“ umzugestalten, das bedarf immer eine besondere Begründung oder eine besondere Zwangslage. Die hat es 1803 gegeben, die hat es 1918 gegeben, die hat es auch 1945 gegeben, und die hat es jetzt wohl auch nach der Wiedervereinigung 1989 gegeben. Ob es bei der Gründung der Nordelbischen Kirche 1977 aus fünf Landeskirchen auch eine gegeben hat, bin ich mir nicht so sicher. Aber es gilt die These, die allen Anhängern des konservativen Philosophen Odo Marquard Freude machen wird: Die Begründungslast für eine Änderung der Landeskirchengrenzen liegt beim Veränderer.

Doch zugleich sage ich: Die Beheimatung, die Rede von der Heimat Kirche, ist auch gefährdete Rede; wenn die Kirchen kein „Heimatverein“ werden wollen und uns keine Heimattümelei als Glaubensinhalt begegnen soll, dann muss immer auch an die überzeitliche und übergeographische Heimat im Himmel erinnert werde. Wir sind immer auch Heimatvertriebene in dieser Welt, an keine Grenze gebunden, auf keine Geographie festgelegt, weil Gott unsere Heimat ist und weil diese Beheimatung auch die Frage nach den Grenzen unserer Heimatkirche relativieren kann. Es hängt das Seelenheil nicht an diesen Grenzen so wenig wie an Gemeinde- oder Kirchenkreisgrenzen; das wissen wir alle, aber es ist nicht leicht, danach auch zu leben.

Doch plädiere ich – natürlich als EKD-Vertreter – für eine gewisse Gelassenheit bei der Frage der Landeskirchengrenzen:
Landeskirchengrenzen werden sich verschieben, weil sie in der jetzigen Form keine theologische Notwendigkeit haben, aber den Kirchenleitungen z.T. erhebliche funktionale, finanzielle und logistische Probleme bescheren.

Aber das Heimatgefühl geht auch in größeren Einheiten nicht verloren. Denn so wie ein ursprünglich hanseatisch, vom milden Luthertum geprägter Lübecker bzw. Hamburger selbst in der Pfalz irgendwie immer hanseatisch bleiben wird, wird auch Pfälzer Frömmigkeit in Hamburg und Hannover bestehen bleiben. Denn die Mobilität unseres Lebens und die Dynamisierung der Biographien werden diesen einen, wunderbaren Satz von Georg Turner immer mehr bewahrheiten, den er über seine Beschreibung der Auswanderung der Salzburger Protestanten im Jahr 1732, ihrer Ansiedlung in Ostpreußen und der Vertreibung 1944/45 als Titel geschrieben hat: „Heimat nehmen wir mit“.

VI. Perspektiven eine „gelingenden Föderalismus“ der Kirchenlandschaft

Die einzelnen Gliedkirchen bilden in der EKD eine kirchliche Vereinigung auf dem Boden reformatorisch-theologischer Einsicht und doch besteht das Landeskirchenprinzip in Deutschland fort. Das hat zweifellos mit den Phänomen des Gewachsenen und Gewordenen der Landeskirchen zu tun, die reine Konstruktion neuer Landeskirchen - orientiert an den Landesgrenzen - ist eine Abstraktion. Darum ist am Ende zu fragen nach einer gelingenden Form des evangelischen Föderalismus in der EKD:

  1. Zuerst muss man nüchtern sagen, die bestehenden Landeskirchen in der EKD haben nicht alle die gleichen „Überlebenschancen“; je kleiner eine Kirche ist, desto früher erreicht sie in der heutigen demographischen Phase die Handlungsunfähigkeit als Landeskirche. Sie lebt dann von der Unterstützung der größeren Landeskirchen, eine Bereitschaft, die man nicht überstrapazieren darf.
  2. Auch dies muss man nüchtern sagen: Kleinere Landeskirchen sollten nicht zu spät auf Kooperationen und Zusammenlegungen drängen, sie verschlechtern gleichsam täglich ihre Verhandlungsposition; deswegen ist ein weitsichtiges Verabreden und Ausprobieren wohl das Klügste, was die Gliedkirchen der EKD gegenwärtig untereinander tun können.
  3. An den kleinen Landeskirchen kann man aber auch noch ein anderes schweres Problem sehen, das man vor allem in Dessau, Schaumburg-Lippe und Lippe erkennen kann: das Landeskinder-Prinzip macht die Erfahrungsräume für den Pastorenberuf recht eng. Man kann von Stadthagen nach Bückeburg wechseln oder von Dessau nach Köthen; wohl werden die Leitenden Geistlichen aus anderen Landeskirchen geholt, aber die Pastoren selbst sind gleichsam gefangen. Deswegen ist es m.E. eine der wesentlichen Aufgaben der EKD, den Austausch so intensiv wie möglich zu organisieren. Das Landeskinderprinzip muss m.E. bald fallen, alle Stellen sollten deutschsprachig weit ausgeschrieben werden. Aber dass daran viele andere Fragen hängen, die nicht leicht zu beantworten sind, ist auch unbestreitbar.
  4. Sodann ist eine grobe Orientierung an den Bundesländern nach wie vor ein plausibles Argument, insofern die Länder in ihrer Kulturhoheit wesentliche Dimensionen kirchlichen Lebens beeinflussen und daher unterschiedlich gestalten. Eine gewisse Begradigung der „Zipfel-Zugehörigkeit“ wäre zweifellos eine kleine Reform, aber sinnvoll und kräftesparend.
  5. Zu bedenken ist auch, dass Heimat – will sie nicht einfach nur als konservatives Argument eingeführt sein - nicht nur immer schon ist, sondern auch werden kann.

Ich bin überzeugt davon, dass schon in einer Generation die Nordkirche eine gewisse gewachsene Beheimatungskraft hat. Und sollte jemand in zwei Generationen die Nordkirche mit Hannover fusionieren wollen, werden sich vermutlich alle Nordkirchen-Christen in ihrer Beheimatung bedroht fühlen.

Insgesamt aber sei zuletzt die Gelassenheit angerufen und gesagt: Die gegenwärtigen Landeskirchengrenzen sind für die Herzen der Menschen wichtig, sie sind aber für die Verkündigung des Evangelium nicht sakrosankt; und weil dies so ist, können wir in aller Freiheit eines Christenmenschen darüber nachdenken, wie sie eventuell besser zu gestalten sind, - Gott sei Dank.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!