Freiheit und soziale Verantwortung. Eine sozialethische Perspektive - Festvortrag zum Symposion "Theologie des Wirklichen. 75 Jahre Sozialethik in Marburg."

Wolfgang Huber

1.

Als ich mich auf diesen Vortrag vorbereitete, blieb ich an einer Feststellung hängen, die mich selbst überraschte. Als ein halbes Jahrhundert Sozialethik in Marburg zu feiern war, haben wir dieses Datum übergangen. Ich selbst hatte vor einem Vierteljahrhundert den Lehrstuhl für Sozialethik inne und machte von dem Datum „50 Jahre Sozialethik in Marburg“ keinen Gebrauch. Wir feierten zwar im Jahr 1982 ein Sozialethisches Fest. Doch dieses Fest, das am 26. November 1982 begangen wurde, war nicht dem Thema „50 Jahre Sozialethik in Marburg“ gewidmet; es galt vielmehr dem 70. Geburtstag von Dietrich von Oppen und dem 60. Geburtstag von Stephan Pfürtner. Doch die Historisierung der eigenen Tätigkeit lag uns damals noch fern. Die Sozialethik war dafür offenkundig zu jung.

Dieser Mangel an Historisierung hat uns damals, trotz der intensiven Auswirkungen, die das Jahr 1968 gerade in Marburg und gerade auch in der Sozialethik hatte, manche Auseinandersetzungen erspart. Die Diskussion über Dietrich von Oppens Dissertation erreichte erst weit später die Spalten der Oberhessischen Presse. Und der besondere Weg von Georg Wünsch, dem ersten Inhaber des sozialethischen Lehrstuhls in Marburg, rückte nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Auch das will ich aus einer persönlichen Perspektive verdeutlichen: Georg Wünschs „Evangelische Ethik des Politischen“, die Hauptschrift aus dem ersten Dezennium der Marburger Sozialethik, 1936 erschienen, kam erst 1991 in meine Bibliothek, geraume Zeit nach meinen Marburger Jahren. Ich erhielt sie übrigens aus der Bibliothek meines Vaters, der als Staatsrechtslehrer bemerkt hatte, dass Wünsch ihn mit diesem Buch unmittelbar ansprechen wollte, und das Buch deshalb erworben hatte. Doch der Wende des Schülers von Ernst Troeltsch und Religiösen Sozialisten Georg Wünsch zu einer Theologie der Schöpfungsordnungen, die sich in diesem Buch manifestierte, widmeten wir damals in Marburg keine vertiefte Aufmerksamkeit. Wir waren viel zu sehr mit Überlegungen dazu beschäftigt, wie für die eigene Zeit „Sozialethik als Verantwortungsethik“ zu konzipieren sei.

Dass Wünsch 1932, in dem Jahr, in dem ihm die ordentliche Professur für Sozialethik in Marburg übertragen wurde, mit seinem „Wirklichkeitschristentum“ eine Programmschrift vorgelegt hatte, die – jedenfalls nach seinem eigenen Verständnis – den späteren Weg schon vorzeichnete, wurde mir selbst erst wesentlich später bewusst. In der Thematik unseres heutigen Symposions freilich klingt das auf eine bemerkenswerte Weise an, indem 75 Jahre Sozialethik in Marburg unter den Leitbegriff einer „Theologie des Wirklichen“ gestellt werden. Die Anspielung an Wünschs „Wirklichkeitschristentum“ erscheint mir als unüberhörbar.

Meine Aufgabe ist es heute nicht,  den Gang der sozialethischen Debatte in Marburg während des letzten dreiviertel Jahrhunderts nachzuzeichnen. Ich wollte jedoch einleitend meinen Respekt dafür bekunden, dass heute etwas geschieht, was uns vor 25 Jahren nicht einmal in den Sinn gekommen ist. Mein Beitrag aber soll nicht in einem historischen Rückblick, sondern eher in einer Momentaufnahme, nicht in der Historisierung der Marburger Sozialethik, sondern in einem durchaus subjektiven Blich auf die sozialethischen Aufgaben unserer Zeit bestehen. Dabei nehme ich einen Faden auf, mit dem ich mich seinerzeit um eine Professur in Marburg beworben und den ich bei dem schon genannten Fest für Dietrich von Oppen und Stephan Pfürtner vor 25 Jahren weitergeführt und auch seitdem immer wieder weitergesponnen habe. „Freiheit und Institution. Sozialethik als Ethik kommunikativer Freiheit“ – so hieß der Titel einer Vorlesung, mit der ich mich am 25. Oktober 1979 in Marburg als Sozialethiker vorstellte. „Sozialethik als Verantwortungsethik“ war das Thema der Festvorlesung für Dietrich von Oppen und Stephan Pfürtner drei Jahre später. Die Aufgabe, die mit diesen beiden Titeln angedeutet ist, hat mich seitdem nicht losgelassen; gelegentlich durfte ich auch in Marburg dazu weitere Beiträge leisten. Aber die dankbare Erinnerung an meine eigenen sozialethischen Jahre in Marburg lässt mich doch kurz innehalten, um zu fragen, wie sich seitdem, also im letzten Vierteljahrhundert, die Bedingungen sozialethischer Reflexion verändert haben.

2.

Vier Veränderungen will ich hervorheben, durch die das sozialethische Nachdenken heute vor einer neuen Konstellation steht.

Das Ende des Systemgegensatzes von Ost und West. Sozialethische Diskussionen bewegten sich vor 1989 in erheblichem Umfang im Bann des Gegensatzes von Ost und West. Wirtschaftsethische Überlegungen behandelten die Alternative von Marktwirtschaft und Planwirtschaft und diskutierten, ob es dem gegenüber auch einen „dritten Weg“ geben könne. Die Diskussion über die Menschenrechte war durch die Frage bestimmt, ob es zwischen einem ans Individuum gebundenen Konzept persönlicher Freiheitsrechte und einer kollektivistischen Konzeption sozialer Rechte einen unüberbrückbaren Gegensatz gebe. Friedensethische Überlegungen standen im Bann des Kalten Krieges und des atomaren Wettrüstens. Das Ende der Blockkonfrontation mit der Wende des Jahres 1989 stellte auch das sozialethische Nachdenken vor neue Herausforderungen. Ganz besonders galt das für Deutschland; hier musste die „Einheit in Freiheit“ auch sozialethisch bewältigt werden; die Frage nach einer „Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität“ stellte sich auf neue Weise. Friedensethische Fragen stellten sich auf überraschende Weise, weil nach dem Ende des Kalten Krieges nicht etwa einfach eine Friedensdividende zu verteilen war, sondern der Krieg als Mittel der Politik sich neu auf der weltpolitischen Bühne meldete, und zwar nicht nur in Afghanistan oder im Irak, sondern auch in Europa selbst, insbesondere im zerfallenen Jugoslawien.

Auswirkungen der Globalisierung. In vielen Hinsichten wird die Globalisierung zur stärksten sozialethischen Herausforderungen. Fragen der innergesellschaftlichen Gerechtigkeit stellen sich angesichts der Auswirkungen eines globalen Arbeitsmarkts auf neue Weise. Die Zusammenballung von Finanzmacht in den Händen international agierender Akteure – darunter keineswegs nur privater, sondern auch staatlich gelenkter Akteure, insbesondere auch aus Staaten ohne eine zureichende demokratische Kontrolle – verschiebt das Verhältnis zwischen staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten und wirtschaftlicher Bestimmungsmacht. Auch die staatliche Steuerpolitik gerät – ebenso wie andere Politikfelder – in den Sog eine s Standortwettbewerbs zwischen den Staaten. Andere Aspekte der Globalisierung haben es im Vergleich dazu weit schwerer, die nötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Frage der Nachhaltigkeit wirtschaftlichen Handelns und damit der Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie tritt ebenso häufig ins zweite Glied zurück wie die Verpflichtung auf eine nachhaltige Entwicklungspolitik, deren Fortschritte gegenwärtig vor allem an den von den Vereinten Nationen formulierten Milleniums-Entwicklungszielen gemessen werden. Die größte globale Herausforderung aber ist derzeit der globale Klimawandel, dessen dramatische Auswirkungen immer deutlicher vor Augen treten. Obwohl inzwischen alle wissenschaftliche Plausibilität dafür spricht, dass dieser Klimawandel in erheblichem Umfang auf anthropogene Ursachen zurückgeht, fehlt es noch immer an einer ausreichenden Bereitschaft zu den nötigen Kurskorrekturen. Sie aber müssen schnell erfolgen, wenn die globale Erwärmung begrenzt werden soll. Auch in den Kirchen gilt das Thema noch immer als eine Angelegenheit der Spezialisten, nicht als eine Herausforderung zu gemeinsam wahrgenommener Verantwortung.

Individualisierung in der Multioptionsgesellschaft. In hochentwickelten Gesellschaften wie der deutschen ist die Individualisierung im letzten Vierteljahrhundert weiter vorangeschritten. Optionen haben den Vorrang vor Ligaturen. Der damit verbundene Freiheitsgewinn erreicht freilich nur Teile der Gesellschaft. Und die Frage, wie sich dieser Freiheitsgewinn in eine lebbare Gestalt der eigenen Biographie integrieren lässt, bleibt oft unbeantwortet. Familienformen wandeln sich; die Weitergabe des Lebens an eine nächste Generation wird aufgeschoben oder es kommt gar nicht zur Familiengründung. Die Traditionsabbrüche, die sich seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vollzogen, haben ihre Wirkungen entfaltet. Die Menschen müssen ihren Ort in einer Multioptionsgesellschaft neu bestimmen. Zumindest auf virtuelle Weise nehmen auch diejenigen an der Multioptionsgesellschaft teil, die sich auf Grund ihrer ökonomischen Lage nur wenige der angebotenen Optionen selbst leisten können. Desorientierung und anomisches Verhalten, die Verführbarkeit durch die einfachen Antworten rechtsextremen Denkens oder fundamentalistischer Einstellungen gewinnen an Bedeutung. Die Frage nach verantwortbaren Lebensformen und damit auch das gerade hier in Marburg in den letzten Jahrzehnten vor allem durch Siegfried Keil stets lebendig gehaltene Thema der Familie gewinnen an Bedeutung. Die Veränderung des menschlichen Lebenslaufs durch die Fortschritte der Lebenswissenschaften tritt ins Zentrum der ethischen Aufmerksamkeit; der Alterswandel der Gesellschaft wird als ethisches Thema entdeckt.

Die Wiederentdeckung der Religion. Die Blüte der Sozialethik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hing damit zusammen, das sie in einer Zeit zurückgehender Kirchenbindung die Relevanz des christlichen Glaubens dadurch zur Geltung zu bringen suchte, dass sie auf seine Folgen im gesellschaftlichen Handeln abhob. Stellvertretend für die Theologie im Ganzen suchte sie die wirklichkeitserschließende Bedeutung des christlichen Glaubens zur Geltung zu bringen. Das geschah weithin im Bann einer Säkularisierungstheorie, die davon ausging, dass die Gehalte des christlichen Glaubens ganz vorwiegend in gesellschaftlicher Gestalt weiterwirken, während ihr genuin religiöser Sinn verblasst. In der Gesellschaft aber sollten diese Gehalte des christlichen Glaubens zur Geltung kommen, obwohl diese nicht mehr einer religiösen Kontrolle unterworfen war, wie sie in früheren Stufen der Gesellschaftsentwicklung zu beobachten sind.

Heute dagegen stehen wir vor der Notwendigkeit, einen Abschied von derartigen Säkularisierungstheorien zu vollziehen. Dazu nötigt nicht nur die Tatsache, dass Religion, global betrachtet, keineswegs an Bedeutung und Einfluss verliert. Man muss nur die Rolle der beiden am stärksten wachsenden Religionen, des Christentums und des Islam, weltweit wahrnehmen, um einzusehen, dass eher von einer Desäkularisierung als von einer Säkularisierung die Rede sein muss. Vielmehr muss man, wie vor allem Hans Joas immer wieder deutlich gemacht hat, von der Säkularisierungstheorie auch deshalb Abschied nehmen, damit man überhaupt eine Chance dafür gewinnt, die in Teilen Europas in der Tat spektakuläre Entkirchlichung zureichend zu deuten. Denn offenkundig hat man diese – oft auch als Säkularisierung bezeichnete – Entkirchlichung noch gar nicht zureichend verstanden, wenn man sie einfach als Ausdruck eines vermeintlich globalen Säkularisierungsprozesses deutet. Man muss vielmehr auf die kontingenten historischen Faktoren, die mehrfachen historischen Brüche in der Geschichte Europas achten, wenn man die besondere religiöse Lage auf unserem Kontinent würdigen will. Gleichwohl gilt auch für ihn, dass es seit der Jahrhundertwende Vorgänge gibt, die durch eine Wiederentdeckung der Rolle der Religion geprägt sind. Manche verwenden dafür den Begriff der „Wiederkehr der Religion“ oder auch der „Wiederkehr der Götter“. Das scheint mir verfehlt zu sein – beruht der Ausdruck selbst auf der unzutreffenden säkularisationstheoretischen Annahme, dass es zunächst zu einem Verschwinden der Religion gekommen sei, die nun – in einem vermeintlich postsäkularen Zeitalter – wiederkehre. Doch den Funktionswandel, den die Religion unter den besonderen europäischen Bedingungen erlebt hat, mit einem Verschwinden gleichzusetzen, erscheint mir als ebenso irrig wie die daraus abgeleitete These von einer Wiederkehr der Religion in einer vermeintlich postsäkularen Gesellschaft. Was wir stattdessen brauchen, ist ein post-säkularisationstheoretischer Zugang zum Thema der Religion. Für die Sozialethik ist das deshalb von so großer Bedeutung, weil die Bedeutung der Religionen, keineswegs nur des Christentums, für gesellschaftliche Integration und Desintegration zu einer zentralen sozialethischen Frage geworden ist. Die Sozialethik muss sich heute auf neue Weise damit auseinandersetzen, dass die Religion gesellschaftlich keineswegs nur gute, sondern auch bedrohliche Folgen hat. Sie muss in dieser Hinsicht die Fähigkeit des Unterscheidens üben. Sie hat ein unveräußerliches Wächteramt für den interreligiösen Dialog. Der verbreiteten Neigung dazu, diesen Dialog ohne die nötige Kraft des Unterscheidens zu führen, kann man eben schon aus sozialethischen Gründen nicht stattgeben.

3.

Wenn ich trotz dieses tiefgreifenden Wandels in der sozialethischen „Großwetterlage“ auch heute daran festhalte, dass der Begriff der Freiheit in herausragendem Sinn den Charakter eines sozialethischen Orientierungsbegriffs trägt, dann hat das zwei Gründe. Der eine Grund liegt in der zentralen Bedeutung des Freiheitsbegriffs für den christlichen Glauben. Der andere liegt in der zentralen Bedeutung des Freiheitsbegriffs für gegenwärtige Verständigungsprozesse.

Freiheit ist ein Grundthema des christlichen Glaubens. Freilich ist der Freiheitsbegriff für die Theologie nicht nur im Verständnis des Menschen, sondern im Begriff Gottes verankert. Gottes Möglichkeit des schöpferischen Beginnens und damit die Souveränität seiner schöpferischen Freiheit ist der Ansatzpunkt aller Theologie. Damit, womit alles beginnt, beginnt auch die Theologie: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (Gen. 1,1)

Dem korrespondiert, dass der Mensch als Gottes Ebenbild mit schöpferischer Freiheit begabt wird. Er benennt die Dinge, eignet sie sich an, unterwirft sie seiner Herrschaft, bebaut und bewahrt sie. Dem schöpferischen Tun Gottes tritt die freie, kreative Eigentätigkeit des Menschen zur Seite. Die Freiheit des Geschöpfes antwortet auf die Freiheit des Schöpfers; gerade darin ist der Mensch das dem Schöpfer entsprechende, das Gott in Freiheit antwortende Geschöpf. Freiheit ist eine mit dem Leben mitgegebene Gabe, sie ist Folge des göttlichen Handelns. Sie entstammt folglich der Beziehung des Geschöpfes zu seinem Schöpfer.

Dem korrespondiert, dass die Freiheit den Menschen nicht bei sich selbst lässt, sondern ihn auf den Nächsten hin orientiert und zum Dienst am Nächsten motiviert. Der Grundgedanke christlicher Kultur besteht deshalb darin, dass die Freiheit des einzelnen sich im Dienst am Nächsten realisiert. Dabei ist der Dienst am Nächsten freilich nicht als Verleugnung, sondern als Verwirklichung des eigenen Selbst verstanden. Doch mit der selbstbezogenen Verengung, die dem Begriff der Selbstverwirklichung unter den Bedingungen der Postmoderne zugewachsen ist, hat das nichts zu tun.

Damit sind wir bereits bei der eigentümlichen Ambivalenz menschlicher Freiheit angelangt. Sie ist nicht nur Freiheit zum Guten. Sie ist auch Freiheit zum Bösen. Es ist nicht garantiert, dass Gerechtigkeit schon dadurch eintritt, dass alle von ihrer Freiheit Gebrauch machen. Dieser Freiheitsgebrauch kann auch den Starken in einer Weise die Oberhand geben, die die Schwachen schädigt. Es stimmt nicht, dass das Wohl aller automatisch gefördert wird, wenn alle nur auf ihren eigenen Vorteil schauen. Denn die Beteiligten verfügen über unterschiedliche Machtmittel dafür, ihren eigenen Vorteil durchzusetzen. Und sie betrachten ihren eigenen Vorteil zugleich unter zeitlicher Perspektive. Deshalb hat die Freiheit kommender Generationen keine Fürsprecher. In einer kindvergessenen Gesellschaft entfallen auch noch die natürlichen Korrekturmechanismen, die dem generationenspezifischen Egoismus Grenzen setzen. Wenn solche Anzeichen dafür, dass zur menschlichen Natur auch immer die Verkrümmung in sich selbst gehört, nicht zur Resignation führen, so liegt für den christlichen Glauben der Grund dafür in dem Umstand, dass in Christus die Verkrümmung des Menschen in sich selbst durchbrochen ist.

In christlicher Perspektive gehört zur Freiheit des Menschen ihre Erneuerung in Christus. Die Freiheit des Menschen zeigt sich gerade darin, dass er nicht auf seine Vergangenheit festgelegt ist, dass die Person nicht mit ihren Taten identifiziert wird, dass ein Neuanfang möglich ist. Der christliche Glaube ist nicht nur dadurch geprägt, dass er mit dem Anfang anfängt: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“. Vielmehr ist er zugleich dadurch bestimmt, dass Menschen immer wieder mit dem Anfang anfangen können: „Im Anfang war das Wort.“

Mit diesen elementaren theologischen Bestimmungen sind wir bereits nahe bei den Kontroversen, die unsere Gegenwart durchziehen.

Denn Freiheit ist zugleich ein Grundthema gegenwärtiger Verständigungsprozesse. Dabei lässt sich nicht übersehen, dass eine selbstbezügliche Verengung des Verständnisses von Freiheit unter den Bedingungen der Globalisierung eine weltweite Renaissance erlebt. Freiheit besteht in dieser Vorstellung in der ungehinderten Selbstentfaltung des Individuums. Zurückgewiesen wird dabei die Vorstellung, dass die Verantwortung für andere ebenso ursprünglich zur menschlichen Freiheit gehöre wie die Verantwortung für sich selbst; vielmehr wird der Begriff der Verantwortung mit demjenigen der Eigen- oder Selbstverantwortung gleichgesetzt. Zurückgewiesen wird ebenso die Vorstellung, dass freiwillige Selbstzurücknahme ein Ausdruck von Freiheit sei; vielmehr ist der Gedanke bestimmend, dass eine solche freiwillige Selbstzurücknahme, selbst wenn sie um des gemeinsamen Lebens willen notwendig ist, eine Einschränkung der Freiheit darstellt. Dem korrespondiert schließlich der Gedanke, dass staatliche Rahmensetzungen, auch wenn sie durch den Gedanken der Solidarität motiviert und in erkennbarer Weise am Gemeinwohl orientiert sind, nicht als Ausdruck der Freiheit, sondern nur als deren Einschränkung gedeutet werden können.

Eine solche Denkweise greift auf politische Modelle zurück, die bereits aus dem 19. Jahrhundert vertraut sind. Der Rückgriff auf diese Modelle zeigt sich heute in der Pauschalkritik an einem aktiven, aktivierenden oder gar vorsorgenden Staat, dem vorgeworfen wird, dass er die Freiheitsräume der Menschen, über die Gestaltung ihres Lebens selbstverantwortlich entscheiden zu können, beschneide und sie letztlich zu Sklaven eines fürsorglichen Staates herabwürdige. Der einzige Grund, warum sich eine Gesellschaft in die Handlungsfreiheit der Menschen einmischen und Zwang ausüben dürfe, bestehe darin, die Schädigung anderer zu verhüten, ansonsten gebe auch der Gedanke der sozialen Gerechtigkeit oder der gesellschaftlichen Solidarität kein Mandat dafür, Freiheiten einzuschränken. Nur das Entdeckungsverfahren des freien Wettbewerbs lasse ständig neues und allgemein verwertbares Wissen entstehen. Die Gesellschaft ist in dieser Hinsicht kein menschlicher Entwurf und auch letztlich nicht Gegenstand menschlicher Tätigkeit, sondern entsteht emergent aus einer unübersehbaren Zahl individueller Handlungen, insofern aus individueller Freiheit. Der Staat wird in den Dienst dieser Emergenz gestellt; der Staat wird zum „Markt-Staat“.

Nun ist gegen ein so angelegtes Konzept individueller Freiheit immer wieder eingewandt worden, dass es die sozialen Voraussetzungen persönlicher Freiheit ausblende. Denn Freiheit ist in dieser Denkweise nur möglich, wenn man individuelles Eigentum voraussetzt. Die allgemeine Verwirklichung der Freiheitsversprechen des Liberalismus steht und fällt mit der Frage, ob sich die materiellen Voraussetzungen ihrer Entfaltung für alle herstellen lassen – und zwar nur kraft der Anstrengung und Leistungsbereitschaft der einzelnen selbst. Das ist freilich nicht der Fall, wie man schon daran sehen kann dass nicht der autonome Eigentümer, sondern der abhängig Erwerbstätige zum Prototyp der modernen Gesellschaft geworden ist.

Deswegen ist immer wieder die Verallgemeinerung der sozialen Voraussetzungen der bürgerlichen Freiheitsrechte eingefordert worden. Das begann mit der Anerkennung der politischen Teilnahmerechte aller (unabhängig von ihrem persönlichen Eigentum) und dehnte sich dann auf die Gewährung sozialer Sicherungsrechte auf alle aus. Die Spannung zwischen den Ideen einer Eigentümergesellschaft und einer Teilhabergesellschaft sind dadurch freilich nicht aufgehoben werden. Sie kehren gesellschaftstheoretisch unter anderem in der Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus wieder.

4.

Die interessantesten Beiträge in solchen Debatten sind in solchen Debatten dort zu vermuten, wo eine Verschränkung der Perspektiven versucht wird. Das geschieht beispielsweise dort, wo in dem Konzept eines demokratischen Kommunitarismus die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen als Bedingung individueller Freiheit gedeutet und die Wahrnehmung sozialer Verantwortung als Bedingung der Möglichkeit persönlicher Freiheit interpretiert wird. Oder es geschieht dort, wo ein starkes Verständnis persönlicher Freiheit und individueller Freiheitsrechte als Voraussetzung dafür interpretiert wird, dass den größten Herausforderungen menschlicher Verelendung überhaupt begegnet werden kann.

Diesen Weg ist beispielsweise Amartya Sen in seiner „Ökonomie für den Menschen“ (München 2000) gegangen. Er betrachtet die Erweiterung der persönlichen Handlungsfreiheit nicht nur als einen Zweck in sich selbst, sondern zugleich als das wichtigste Mittel von Entwicklung. „Entwicklung besteht darin, die verschiedenen Arten von Unfreiheit aufzuheben, die den Menschen nur wenig Entscheidungsspielraum und wenig Gelegenheit lassen, wohl durchdachten Gründen gemäß zu handeln. Meine These lautet, dass die Beseitigung gewichtiger Unfreiheit eine grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung ist.“ (S. 10)

Entwicklung ist in dieser Hinsicht ein Prozess der Erweiterung realer Freiheiten, die den Menschen zukommen. Praktisch meint dies, dass die ungehinderte und nachhaltige Erweiterung von Handlungsfähigkeit von Menschen der Hauptmotor der Entwicklung ist. Die Freiheit, Worte, Güter oder Geschenke auszutauschen, gehört konstitutiv zu den gesellschaftlichen Lebens- und Umgangsformen. Und es ist gerade die Freiheit, am wirtschaftlichen Austausch teilzunehmen, die Menschen wie nichts anderes motiviert, sich anzustrengen und für sich selbst zu sorgen. Dabei ist interessant zu sehen, dass für Sen nicht die Maximierung von Einkommen und Reichtum und in dieser Hinsicht auch nicht von Eigentum das Ziel der Entwicklung ist, sondern eben die Erweiterung der Tätigkeitsmöglichkeiten, also die Erweiterung individueller Initiative und sozialer Wirksamkeit der Menschen. Es geht ihm darum, fundamentale Verwirklichungschancen von Menschen zu erweitern. „Die Ziele und Mittel von Entwicklung erfordern es, den Standpunkt der Freiheit in den Mittelpunkt zu rücken. In dieser Perspektive müssen wir die Menschen als aktive Subjekte ihres eigenen Schicksals behandeln und ihnen die entsprechenden Spielräume zubilligen, statt in ihnen passive Empfänger der Früchte ausgeklügelter Entwicklungsprogramme zu sehen. Staat und Gesellschaft kommt die große Verantwortung dafür zu, die menschlichen Bewegungschancen zu erweitern und zu schützen.“ (S. 70)

Das Pathos der individuellen Freiheit wird hier ungeschmälert übernommen. Aber es wird zugleich gefragt, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit dieses Pathos nicht ortlos wird. In meiner eigenen Terminologie sind diese Voraussetzungen dahingehend zu beschreiben, dass eine Gesellschaft das nötige Maß an Befähigungsgerechtigkeit sowie an Beteiligungsgerechtigkeit sichern muss, die erforderlich ist, damit die einzelnen einen fairen Zugang zu einem gleichen Maß individueller Freiheiten haben können. Die Erfahrung einer solchen gesellschaftlichen Gerechtigkeitsordnung wird ihrerseits zur Ausbreitung eines Freiheitsverständnisses beitragen, in dem Freiheit nicht als Gegensatz zur sozialen Verantwortung, sondern soziale Verantwortung als ein Element persönlicher Freiheit verstanden wird.

5.

An dieser Verbindung muss aber gerade einer christlichen Sozialethik sehr wohl gelegen sein. Die Verbindung von Freiheit und sozialer Verantwortung favorisiert sie aus grundsätzlichen wie aus praktischen Erwägungen.

Grundsätzlich versteht christliche Sozialethik gerade in ihrer evangelischen Gestalt den Menschen als Beziehungswesen. Die Freiheit verwirklicht sich in diesem Verständnis nicht einfach im Selbstsein des Menschen, sondern sie prägt die Beziehungen, in denen sich sein Leben vollzieht. Die Beziehung zu Gott, die Beziehung zur Welt, die Beziehung zu anderen Menschen und die Beziehung zu sich selbst sind die vier Hinsichten, in denen sich die Existenz des Menschen als Beziehungswesen auslegen lässt. Wenn er das zur Freiheit bestimmte Lebewesen ist, dann muss sich diese Freiheit folglich auch in all diesen vier Hinsichten zeigen: als Freiheit des Glaubens, als Freiheit des Umgangs mit der Welt, also insbesondere auch ihrer forschenden Durchdringung und technischen Gestaltung, als Freiheit im Miteinander der Menschen, also insbesondere auch in Solidarität und wechselseitiger Verantwortung, als Freiheit im Verhältnis zu sich selbst, also insbesondere in der Möglichkeit zu einer gewissensbestimmten Lebensführung und in der Freiheit zur Verwiriklichung des für richtig Erkannten. Betrachtet man die menschliche Freiheit so, dann liegt in einer nur auf Selbstverwirklichung und Eigenverantwortung bezogenen Freiheitsauffassung keineswegs eine konsequente Durchführung des Freiheitsgedankens; es handelt sich dabei vielmehr um eine inkonsequente und verhängnisvolle Verengung des Verständnisses der menschlichen Freiheit. Aus dieser grundsätzlichen Erwägung heraus plädiert christliche Sozialethik für den unlöslichen Zusammenhang von Freiheit und sozialer Verantwortung.

Dem treten Gesichtspunkte zur Seite, die es mit elementaren Momenten der conditio humana zu tun haben. Der Mensch kommt schwach zur Welt und endet als hinfälliges Wesen. Er bleibt auch zwischen diesen beiden Polen seiner endlichen Existenz auf Hilfe angewiesen. Wer sich dieser Bedingungen der eigenen, verletzlichen Existenz bewusst ist, wird Zugang zur Weisheit der Goldenen Regel finden und reziprok anderen das Maß an sozialer Zuwendung zukommen lassen, auf das er selbst bei nüchterner Selbsteinschätzung angewiesen ist.

Erst recht ist soziale Verantwortung deshalb notwendig, weil der Mensch ein Wesen ist, das zur Selbstsucht und zum Missbrauch der eigenen Freiheit neigt. Er braucht deshalb eine Wegweisung der Freiheit, die ihn selbst vor solchen Abwegen bewahrt; und er ist auf Schutz angewiesen, wenn er dem Missbrauch der Freiheit durch andere zum Opfer fällt. Dieser doppelte Blick auf die menschliche Schwäche – in der Rolle als Täter wie als Opfer – macht es unentbehrlich, dass in jeder Gesellschaft eine Kultur sozialer Verantwortung entwickelt und auch rechtlich abgesichert wird. Eine Freiheit, die davon losgekoppelt wäre, würde aufhören, Freiheit zu sein; sie verkäme zur bloßen Willkür und zur hemmungslosen Durchsetzung der Stärkeren gegenüber den Schwächeren.

Der Mensch ist ein zwiespältiges Wesen. Auch das gehört zu seiner Freiheit. Dass er zur Selbstsucht neigt, ist keineswegs alles, was über ihn zu sagen ist. Sehr wohl prägt ihn die Sehnsucht danach, die Sorge für sich selbst und die Sorge für andere in eine Balance zu bringen. In vielen Situationen empfindet er die Fürsorge, die er anderen zuwendet, keineswegs nur als Last, sondern auch als Erfüllung. Am Beispiel der Fürsorge für kleine und heranwachsende Kinder machen viele die Erfahrung, wie nahe beides beieinander liegt. Und doch bestätigen sie oft, dass sie in dieser elementaren Form von sozialer Verantwortung eine Erfahrung gemacht haben, die sich mit dem elementarsten Akt menschlicher Freiheit, der liebenden Zuwendung zu einem anderen Menschen, unlöslich verbindet. Raum für diese Erfahrung zu schaffen und diesen Raum zu schützen.

6.

In der modernen Entwicklung ist es keineswegs immer gelungen, ein christliches Freiheitsverständnis konstruktiv mit herrschenden Tendenzen zur Gestaltung gesellschaftlicher Freiheit zu verbinden. Immer wieder ist die Differenz am Verständnis von Eigentum und Reichtum aufgebrochen. So weit eine harte liberale Sicht behauptet, dass die Verantwortung des Einzelnen primär auf die Erhaltung und Steigerung seines Eigentums bzw. Reichtums gerichtet sein muss, gerät eine christliche Sicht dazu in einen Widerspruch. Denn ihr zufolge richtet sich die Verantwortung des einzelnen auf die Nutzung des Eigentums und des Reichtums im Interesse der Nutzenmehrung und der Freiheitsvergrößerung für viele andere.

Aus dieser Differenz hat sich auch immer wieder eine deutliche Distanz zwischen Vertretern einer christlichen Sicht und Anwälten einer liberalen Freiheitsoption entwickelt. So heißt es beispielsweise bei Gerhard Uhlhorn im Jahr 1882 sehr pointiert: “Nein, nicht, wenn jeder für sich sorgt, sorgt er auch am besten für das Ganze, sondern umgekehrt, wer nicht für sich lebt, sondern für andere, für die Gemeinschaft, der sorgt auch am besten für sich.“ (Das Christentum und das Geld, 1882. In: Gesammelte Werke, Schriften zur Sozialethik und Diakonie, S. 126) An dieser schroffen Gegenüberstellung ist im Folgenden dann immer wieder gearbeitet worden. Die EKD-Denkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz“ von 1992 hat in dieser Hinsicht treffend formuliert: „Statt der Entgegensetzung von Nächstenliebe und Selbsterhaltung müssen wir nach Formen des ‚intelligenten Eigennutzes’ als ‚intelligenter Nächstenliebe’ suchen, in denen sich Selbsterhaltung und Sorge für sich selbst mit Fürsorge für andere und Rücksicht auf das gemeinsame Leben verbinden.“ (Ziffer 147) Aber auch hier heißt es: „Die Spannung zwischen dem, was wirtschaftlich zweckmäßig ist, und dem, was die Nächstenliebe zu tun gebietet, bleibt bestehen.“ (Ziffer 146)

Eine der Formen, in denen an der Überwindung dieser Spannung gearbeitet ist, liegt in der Ermöglichung von Teilhabe. „Gerechte Teilhabe“ ist deshalb zu einem Leitbegriff neuerer Entwicklungen in der evangelischen Sozialethik geworden; die unter diesem Titel veröffentlichte Armutsdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2006 hat das exemplarisch deutlich gemacht. Sie hat einer evangelischen Verbindung von Freiheit und sozialer Verantwortung dadurch eine profilierte Gestalt gegeben, dass sie die Verwirklichung gesellschaftlicher Freiheit aus der Perspektive der Armen und aus einer vorrangigen Option für sie betrachtet hat; der Einsatz für Befähigungs- und Beteiligungsgerechtigkeit ist die notwendige Folgerung aus einem solchen Ansatz.

Wenn wir den Menschen als Beziehungswesen verstehen und deshalb der gegenseitigen Abhängigkeit sowie der reziproken Verantwortung einen guten, freiheitsorientierten Sinn geben, rücken Beteiligung und Kooperation auf der Ebene der Gesellschaft ins Zentrum des Interesse. Freiheitsgewinne kommen gesellschaftlich dadurch zu Stande, dass die Einzelnen sich in kooperative, für alle Beteiligten nützliche Bezüge mit anderen begeben – sei es in ökonomischer, zivilgesellschaftlicher oder kultureller Kooperation. Kooperation kann sich über Tauschprozesse auf Märkten, sie kann sich aber auch in anderen Formen und in anderen Bereichen der Gesellschaft vollziehen.

An kooperativem gesellschaftlichem Handeln zeigt sich, dass die Verbindung von Selbstbestimmung und Sozialität in der Freiheit des Menschen nicht nur unmittelbare Nahbeziehungen prägt, in denen die Intersubjektivität sozusagen unvermittelt zum Ausdruck kommt. Diese Verbindung bestimmt auch strategisches gesellschaftliches Handeln, das auf eher vermittelte Weise mit dem Faktor menschlicher Intersubjektivität verknüpft ist.

Eine solche Kooperation muss in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet sein, unter denen Menschen sich im Regelfall darauf verlassen können, dass ihre Kooperationsbereitschaft nicht missbraucht, sondern unter Fairnessbedingungen genutzt wird. Die Rechtsordnung soll solche Fairnessbedingungen gewährleisten. Die Soziale Marktwirtschaft als Modell der Wirtschaftsordnung ist darauf ausgerichtet, vergleichbare Fairnessbedingungen für den Bereich wirtschaftlichen Handelns zu gewährleisten. Die Tarifpartnerschaft als Modell zur Aushandlung fairer Arbeitsbedingungen, die Mitbestimmung als Schutz der Arbeitnehmer vor einer Überwältigung durch Kapitalinteressen, die Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs als Schutz vor einem Missbrauch von Marktmacht und schließlich ein System sozialer Sicherung als Schutz vor den großen Lebensrisiken, die abhängig Beschäftigte nicht für sich selbst absichern können, sind die Säulen eines solchen Systems, das Freiheit und soziale Verantwortung in konkreter Form miteinander verbinden will. Ein solches Wirtschaftsmodell soll sicherstellen, dass der Einzelne, was auch immer in einer für ihn oft nicht durchschaubaren Welt geschieht, nicht als Unheil erleiden muss, sondern die Möglichkeit eigenständigen Handelns behält. Selbstverantwortung und Freiheit sind nur dann keine zynischen Anforderungen, wenn Menschen auch tatsächlich in der Lage sind, mit ihrer Freiheit zurechtzukommen und sie so zu bewältigen, dass sie sich nicht zu ihrem Schaden auswächst.

Wer auch unter den veränderten Bedingungen sozialethischer Urteilsbildung, die ich beschrieben habe, an einer solchen Perspektive festhalten will, sieht sich zur kritischen Auseinandersetzung mit neuen Formen der Reichtumsgenerierung veranlasst, die sich von den Bedingungen realer wirtschaftlicher Wohlstandsmehrung vollständig loskoppeln. Wenn es leichter wird, Reichtum durch Spekulation zu erwerben als durch leistungsgerecht bezahlte Arbeit, geraten grundlegende Gewissheiten ins Wanken. Solche Entwicklungen müssen gebändigt werden, wenn die Vorstellung von einer Gesellschaft aufrecht erhalten werden soll, die durch das Zusammenwirken informierter, aktiver und sich gegenseitig wertschätzender Bürgern gebildet wird und deren Zusammenhalt durch gemeinsam anerkannte Werte gewährleistet wird.

Auch in Zukunft wird es darauf ankommen, dass die Bedingngen für die Kooperation freier Bürgerinnen und Bürger politisch geschaffen und gewährleistet werden. Evangelische Sozialethik wird deshalb auch in Zukunft für die Erhaltung und Weiterentwicklung des Rechts- und Sozialstaats eintreten und seiner Entwicklung zu einem bloßen Marktstaat widersprechen. Nur auf einer solchen Grundlage wird die Fähigkeit, selbstbestimmt Zukunft zu gestalten, nicht ausschließlich den ohnehin Besitzenden vorbehalten. Nur auf dieser Grundlage ist die Rede von der Befähigung zu Eigen- oder Selbstverantwortung berechtigt und verkommt nicht zur zynischen Zumutung. In der Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen  für die Wahrnehmung persönlicher Freiheit wie in der Frage nach sozialer Verantwortung als Ausdruck persönlicher Freiheit wird evangelische Sozialethik auch in Zukunft ihr besonderes Profil haben.