Wissenschaft verantworten

Wolfgang Huber

Festvortrag anlässlich der ersten Promotionsfeier der Universität Tübingen

Als ich im Februar 1966 von der Universität Tübingen promoviert wurde, war das ein schlichter Akt. Der Dekan überreichte mir die Urkunde und gratulierte mir herzlich. Bewegend war das gleichwohl - allein schon der Erleichterung wegen, die ich in diesem Augenblick verspürte. Aber auf den Gedanken einer festlichen Promotionsfeier kam man damals - wohl gemerkt: vor 1968 - nicht.

Als ich vor wenigen Jahren an der Universität Cambridge an der Graduation meiner Tochter, ebenfalls einer früheren Studentin der Universität Tübingen, teilnahm, beobachtete ich manches an dem seit Jahrhunderten unveränderten Ritual mit einer gewissen inneren Heiterkeit. Aber insgesamt war ich beeindruckt, ja ergriffen wie die frisch gebackenen Magister selbst. Eine akademische Institution würdigt wissenschaftliche Exzellenz nicht nur, so weit es um staatliche Förderung und Drittmittel geht; sie würdigt sie insbesondere, so weit es um Menschen geht – und dabei in besonderer Weise um junge Menschen, die weit mehr sind als nur „wissenschaftlicher Nachwuchs“. Sie haben vielmehr jeweils in ihrem Feld die Wissenschaft durch eine eigenständige Leistung gefördert und dadurch den wichtigsten Grad erworben, den unsere Universitäten zu verleihen haben. So wichtig ist dieser Grad, dass unser Namensrecht ihn sogar als zum Eigennamen gehörig betrachtet. 

So beglückwünsche ich Sie alle herzlich dazu, dass Sie durch diese Feier als Personen geachtet und gewürdigt werden. Und ich beglückwünsche die Universität Tübingen dazu, dass sie sich selbst als akademische Institution mit einer solchen Promotionsfeier die Ehre gibt, die ihr gebührt.

Gern trage ich zu dieser Feier einige Überlegungen zur Ethik in den Wissenschaften aus der Sicht eines evangelischen Theologen bei. Ich wähle dieses Thema, weil es in letzter Zeit erneut als eines der Themen in den Vordergrund getreten ist, in denen die wissenschaftlichen Disziplinen miteinander verbunden sind. Dafür, den oft beschworenen Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überbrücken, ist das Thema sogar von herausragender Bedeutung.

Ich veranschauliche die Fragestellung zunächst an zwei Beispielen.

I.
Im Jahr 2006 hat sich die Europäische Union dazu entschlossen,  die verbrauchende Forschung mit menschlichen Embryonen finanziell zu unterstützen. Seitdem beteiligen sich auch diejenigen Mitgliedsstaaten der EU, die für sich selbst weit restriktivere Regeln festgesetzt haben, darunter auch Deutschland,  auf dem Weg über das Siebte Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union an der Finanzierung von Forschungsprojekten, die in ihren eigenen Ländern verboten sind.

 Ob dieses Verbot Bestand haben soll, ist freilich auch in Deutschland umstritten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat vorgeschlagen, die bisher in Deutschland geltende Stichtagsregelung aufzuheben. Manche Forscherinnen und Forscher gehen freilich weiter und stellen den Embryonenschutz generell in Frage. Sie sehen eine Behinderung der Forschung darin, dass der menschliche Embryo schon mit der Verbindung von weiblichem und männlichem Genom unter den Schutz des Rechts gestellt und nicht erst – wie in Großbritannien – mit dem Zeitpunkt der Nidation, der Einnistung in die Gebärmutter, als ein Mensch im Werden anerkannt wird.

Ein anderes Beispiel: Im Rahmen der Jahresversammlung der Max-Planck-Gesellschaft hielt der Tübinger Molekularbiologe Detlef Weigel vor einem Jahr einen Vortrag über die spannende Frage, was eine Pflanze zum Blühen bringt. Ganz am Schluss dieses Vortrags wies er darauf hin, dass nach seiner Auffassung der dramatische Anstieg des Energieverbrauchs auf der Erde nur dann bewältigt werden kann, wenn in gewaltig ansteigendem Maß Pflanzen zur Verfügung stehen, die gentechnisch so verändert sind, dass die in ihnen gespeicherte Sonnenenergie für die Deckung des globalen Energiebedarfs eingesetzt werden kann. Über die aktuelle Diskussion, die gentechnisch veränderte Pflanzen vor allem unter den Gesichtspunkten des Einflusses auf das Ökosystem und der Auswirkungen auf die menschliche Ernährung betrachtet, führt eine solche Perspektive gewiss hinaus. Sie richtet sich darauf, ob angesichts der  absehbaren Erschöpfung fossiler Energieträger und der Tatsache, dass ein Ausbau der Atomenergie von vielen skeptisch gesehen wird, aber in dem zur Deckung des wachsenden Energieverbrauchs nötigen Maß auch gar nicht möglich wäre, die grüne Gentechnologie einen Lösungsweg aufzeigen kann. Auch wenn man dem entgegenhalten mag, dass in einer solchen Überlegung der sparsamere Umgang mit Energie – also Energiesparen als Energiequelle – kaum zureichend berücksichtigt ist, lässt sich unschwer erkennen, dass eine neue Diskussion über die ethische Beurteilung der grünen Gentechnologie vor uns liegt. Insbesondere hat die Frage nach den richtigen Wegen der Energieversorgung durch den Klimawandel und die drohende Klimakatastrophe noch einmal auf dramatische Weise an Bedeutung gewonnen.

Dies sind nur zwei Beispiele dafür, wie aktuell und wie dringlich das Nachdenken über eine Ethik der Forschung wie über eine Ethik der Anwendung von Forschungsergebnissen ist. Mit dem Wachstum wissenschaftlicher Möglichkeiten wächst auch die Notwendigkeit, sie ethisch zu beurteilen und unter mehreren Möglichkeiten wissenschaftlichen Handelns die jeweils vorzugswürdigeren auszuwählen.

II.
Wenn heute von der Verantwortung der Wissenschaft die Rede ist, bildet häufig der philosophische Vorstoß von Hans Jonas aus dem Jahr 1978 den wichtigsten Bezugspunkt. Jonas hat damals die Verantwortung, die er als leitendes Prinzip nicht nur der Wissenschaft selbst, sondern alles Handelns im wissenschaftlich-technischen Zeitalter betrachtete, konsequent als Folgenverantwortung konzipiert. „Handle so, dass die Folgen deines Handelns vereinbar sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, so hieß sein Kategorischer Imperativ, sein moralisches Credo.

Angesichts der Dynamik wissenschaftlich-technischer Fortschritte hat dieser Jonas’sche Imperativ eine hohe Plausibilität. Aber davor, ihn absolut zu setzen, muss man zugleich warnen. Denn da die künftigen Folgen gegenwärtiger Handlungen immer nur mit einem erheblichen Maß an Unsicherheit vorausgesagt werden können, verwandelt dieses Kriterium, wenn es absolut gesetzt wird, die wissenschaftsethische Diskussion weithin in einen Streit über die Folgenabschätzung, in dem man sich wechselseitig Alarmismus beziehungsweise Verharmlosung vorzuwerfen pflegt. Es erscheint deshalb als unumgänglich, zugleich die Frage zu stellen, ob Handlungen in sich selbst rechtfertigungsfähig sind. Ob die Zwecke und Mittel wissenschaftlichen Handelns intrinsisch gerechtfertigt werden können, ist ein nicht zu vernachlässigender Maßstab dafür, ob dieses Handeln in seinen Folgen gerechtfertigt werden kann.

Seit es Wissenschaft gibt, gibt es auch eine Wissenschaftsethik. Die Wissenschaftstheorie schließt schon immer auch ethische Implikationen ein. In besonderem Maß gilt das für diejenige Wissenschaftstheorie, die an der Wahrheitserkenntnis um ihrer selbst willen ausgerichtet ist. In diese Tradition hat sich noch ganz bewusst Max Weber gestellt, als er im Jahr 1917 Wissenschaft als Beruf beschrieb. „Schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit“ war die einzige Tugend, die er im Hörsaal gelten lassen wollte. Eine möglichst weitgehende Zurückhaltung in allen Werturteilen und der Verzicht auf alle politische Parteinahme waren die für ihn unausweichlichen Konsequenzen.
Wissenschaftliche Objektivität schloss und schließt insofern zugleich ein hohes Ethos der Selbstdisziplin, ja der Selbstzurücknahme ein.

Das Ethos forschender Objektivität um der Wahrheit willen ist jedoch zugleich an die Bedingung menschlicher Freiheit gebunden. Das Ideal der Objektivität lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Prozess des Forschens von fremder Bestimmungsmacht freigehalten werden kann. Doch die Zusammengehörigkeit von Forschung und Freiheit wurde in der Neuzeit darüber hinaus auch darin gesehen, dass die Fortschritte der Forschung der Entfaltung menschlicher Freiheit zugute kommen. Die Freiheit des Menschen wurde in der Neuzeit als Unabhängigkeit von den Zwängen der Natur definiert; der entscheidende Maßstab für den Fortschritt der Erkenntnis wurde darin gesehen, ob er die Menschen von den „Mühseligkeiten der menschlichen Existenz befreie“, wie Bertolt Brecht das in seinem Leben des Galilei nannte.

Von der Verknüpfung zwischen Forschung und Freiheit, die in der Neuzeit so emphatisch behauptet wurde, ist vor allem das Postulat der Forschungsfreiheit übrig geblieben. Die innere und äußere Freiheit des Forschers in der Definition seines Untersuchungsgegenstandes und in der Wahl des Forschungsweges wie auch im Recht zur Veröffentlichung seiner Untersuchungsergebnisse ist im Grundsatz als forschungsethisches Prinzip weithin anerkannt. In der Bundesrepublik Deutschland ist es aus guten Gründen seit 1949 mit Verfassungsrang ausgestattet. Nach dem Missbrauch von Forschung in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes war dies eine Weichenstellung von großer Tragweite.

Doch mit den beiden Wertentscheidungen der Objektivität und der Forschungsfreiheit ist die Suche nach Kriterien der Wissenschaftsethik keineswegs abgeschlossen. Denn fraglose Geltung haben diese beiden forschungsethischen Prinzipien nur für prozesshaft verfahrende Wissenschaften, also für diejenigen Forschungen, bei denen sich das Ergebnis der Forschung im Forschungsvollzug herausstellt, aber nicht im vorhinein geplant wird. Heute dagegen erweitert sich gerade derjenige Bereich der Forschung, den man im Unterschied zu dieser prozesshaft verfahrenden Forschung als resultathaft orientierte Forschung bezeichnen kann.

In ihr soll für ein vorweg definiertes Resultat durch Entdeckung und Experiment der günstigste Weg gefunden werden. Wissenschaft ist nicht mehr generell dem Ziel der Wahrheitserkenntnis zugeordnet, sondern an bestimmten Zwecken orientiert. Die ökonomische Verwertbarkeit der von ihr entwickelten Mittel zu solchen Zwecken ist dabei von vornherein im Blick. Forschungen dieser Art sind in aller Regel in einen dichten internationalen Wettbewerb eingebunden.

In wichtigen Bereichen hat diese resultathaft orientierte Forschung einen beeindruckenden Siegeszug angetreten. Die Informationstechnologien und die Lebenswissenschaften sind dafür die deutlichsten Beispiele. Die Nanotechnologien treten ihnen selbstbewusst zur Seite. In das subjektive Lebensgefühl der einzelnen wie in die Struktur der Gesellschaft insgesamt greifen die Entwicklungen in den Lebenswissenschaften und speziell in der Medizin besonders tief ein. Die rasche Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung der einzelnen und der Alterswandel der Gesellschaft insgesamt zeigen das deutlich.

Unbewältigt ist einstweilen offenbar die Ambivalenz dieser Veränderungen. Daraus erklärt sich der neue Ruf nach einer Ethik der Forschung, insbesondere nach einer ethischen Bewertung der Entwicklungen in den Lebenswissenschaften. Die Fortschritte der resultathaft orientierten Forschung werden angesichts dieser Ambivalenz von Wissenschaftsskepsis begleitet. Sie richtet sich auf die Folgen, die mit solchen Resultaten verbunden sind oder sein können.

Die Frage nach dem Ausmaß anthropogener Klimaveränderungen ist gegenwärtig für diese Art der Debatte ein anschauliches Thema. Die Wissenschaftsskepsis, von der die Forschungsfortschritte unserer Zeit begleitet sind, richtet sich aber nicht nur auf die Auswirkungen dieser Forschung auf die Umwelt des Menschen, sondern auch auf die Veränderungen im Verständnis des Menschen selbst als einer freien, verantwortungsfähigen, auf wechselseitige Anerkennung angelegten Person. Die Debatte handelt im Kern von der Frage, wann die Grenze überschritten ist, jenseits deren der Mensch nicht mehr als Person, sondern als Sache, nicht mehr als jemand, sondern als etwas betrachtet wird.

Das Grundproblem lässt sich so bezeichnen: Indem innerhalb von resultathaft organisierter Forschung auch der Mensch selbst zum Objekt von Optimierungsbemühungen gemacht wird, ergibt sich einerseits eine ungeahnte Möglichkeit zur Verlängerung seiner Lebenszeit wie zur Verbesserung seiner Lebensqualität. Doch neben diese Fortschritte in den Möglichkeiten des Heilens und Helfens tritt eben zugleich die Vorstellung von einer Optimierung des Produkts Mensch. Als Objekt solcher Optimierungsbemühungen aber wird der Mensch verdinglicht – zunächst in seinem vorgeburtlichen Leben, am Ende aber auch auf seinem Lebensweg zwischen Geburt und Tod. Die Frage, wie Forschung im Augenblick ihrer größten Erfolge zugleich die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung bewahren kann, stellt sich heute auf eine neue Weise.

III.
Wenn in dieser Situation die christliche Theologie sich an der Diskussion über verantwortliche Wissenschaft beteiligt, so tut sie dies zunächst als eine Anwältin der Wahrheit. Sie tut dies immer auch als Teil des wissenschaftlichen Systems und nimmt so ihre Rolle an der Universität ernst, weil sie sich als Reflexionswissenschaft ins Gespräch bringt. Eberhard Jüngel, in unserer Zeit einer der bedeutenden Repräsentanten der Universität Tübingen, hat diese Funktion der Theologie für die Universität einmal auf die Formel gebracht, „das, was die Theologie mit der Universität zutiefst […] verbinde, sei zuerst und vor allem die ihr wesentliche Bestimmung, für Wahrheit verantwortlich zu sein.“ Neben diese Fürsprache für die Wahrheit tritt das Eintreten für die Freiheit. Denn von der Theologie jedenfalls in ihrer evangelischen Gestalt gilt, dass sie eine Anwältin der Freiheit ist. Sowohl das Ideal der Objektivität durch methodisch kontrollierte Wahrheitssuche als auch das Ideal der Freiheit in Gestalt der Forschungsfreiheit stehen der Theologie nahe.

Freilich schließt die Suche nach der Wahrheit im christlichen Verständnis die Einsicht ein, dass die Wahrheit des Ganzen stets größer bleibt als die vom Menschen erkannte Wahrheit. Kein wissenschaftlicher Fortschritt kann diese Differenz zwischen der jeweils erkannten Wahrheit und der Wahrheit in ihrer Fülle überbrücken. Das gibt der menschlichen Wahrheitssuche einen kritischen und zwar vor allem selbstkritischen Sinn. Eine solche epistemische Demut, welche die eigenen Erkenntnisse unter den Vorbehalt besserer Einsicht stellt, steht der Wissenschaft gut an. Denn für menschliche Erkenntnis bleibt gültig, was Plato in das Bild der Schatten an der Höhlenwand und der Apostel Paulus in das Bild vom dunklen Spiegel  gekleidet hat: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1. Korinther 13, 12).

Neben die bisher genannten Gesichtspunkte tritt in einer christlichen Perspektive auch für das Handeln in der Wissenschaft die Orientierung am Nächsten und an der Frage, was ihm zu Gute kommt. Diese Frage spielt in den forschungsethischen Kontroversen unserer Zeit eine große Rolle. So wird die Chance, neue Heilungsmöglichkeiten für bisher unheilbare Krankheiten zu finden, als Begründung für neuartige Forschungsmethoden herangezogen. Dies geschieht grundsätzlich zu Recht. Dennoch kann der Verweis auf solche Heilungsmöglichkeiten nicht zur Rechtfertigung von Handlungen dienen, durch welche der Mensch nicht mehr als Person geachtet, sondern verdinglicht wird. Deshalb sind diejenigen Wege vorzugswürdig, die dieser Gefahr nicht oder weniger ausgesetzt sind. Die Forschung mit adulten statt mit embryonalen Stammzellen oder der Zugang zu Stammzellen mit vergleichbaren Eigenschaften ohne den Weg über die Herstellung menschlicher Embryonen sind Beispiele hierfür.

Neben der Orientierung an der Wahrheit in ihrer all unser Begreifen übersteigenden Fülle, an der Freiheit des Menschen, die seine Freiheit zum Forschen einschließt, sowie an der Liebe zum Nächsten als dem verbindlichen Horizont alles menschlichen Handelns bringt die Theologie noch einen weiteren Gesichtspunkt in den wissenschaftsethischen Diskurs ein. Ich meine die Einsicht in die Verführbarkeit des Menschen und in eine Zerstörung seiner Lebensbezüge, die ihre tiefste Wurzel in der Störung seiner
Gottesbeziehung, also in der Sünde, hat. Mit dieser theologischen Perspektive ist die Einsicht verbunden, dass auch die guten Möglichkeiten des Menschen in ihr Gegenteil
verkehrt werden können, die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis eingeschlossen. Diese guten Möglichkeiten des Menschen können missbraucht werden zur Verkehrung der Wahrheit, zur Stillung persönlichen Ehrgeizes oder zur Instrumentalisierung anderer Menschen. Ein sensationslüsterner Umgang mit den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin bildet dafür ebenso ein Beispiel wie die bedrückenden Vorgänge im Zusammenhang mit der Klonierung menschlicher embryonaler Stammzellen in Korea.

Weil die Verführbarkeit des Menschen zu den elementaren Bedingungen der conditio humana gehört, braucht die Wissenschaft einen klaren rechtlichen Rahmen, eine institutionalisierte Selbstkontrolle sowie die Bereitschaft zur beständigen ethischen Selbstprüfung.

In der Universität selbst verdient es Beachtung, dass die Geisteswissenschaften den resultathaft arbeitenden Wissenschaften Reflexionsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Die Idee der Universität als eines wissenschaftlichen Universums sich ergänzender und korrigierender Perspektiven auf die Welt bleibt eine wichtige Vorkehrung gegen eine ethikvergessene Forschung.

Die Pflicht zur Wahrheit, das Ja zur Freiheit, die Liebe zum Nächsten und die Umkehr aus den Irrwegen der Verführung bilden die vier Hinsichten, in denen die Theologie eine wichtige Orientierung für verantwortliche Wissenschaft zu vermitteln vermag. Der Orientierungsrahmen, zu dem die Theologie das Ihre beiträgt, bezieht sich auf die theoretische Dimension der Wissenschaft in ihrer Verpflichtung zur unablässigen Wahrheitssuche und dem damit verbundenen kategorischen Verbot der Lüge. Er orientiert sich an der Forschungsfreiheit als der unabdingbaren Voraussetzung für solche Wahrheitssuche. Er bezieht sich zugleich auf die praktische Dimension der Wissenschaft in ihrer Pflicht zum Dienst am Nächsten und somit in der Ausrichtung an der unantastbaren Menschenwürde und dem Verbot jeglicher Instrumentalisierung des Menschen zu fremden Zwecken. Und er bezieht sich schließlich auf die selbstreflexive Funktion der Wissenschaft in ihrer Pflicht zur kritischen Prüfung ihrer ethischen Verantwortbarkeit.

IV.
Wir sind also gut beraten, die Wissenschaft selbst, und zwar in Gestalt der jeweils betroffenen Fachwissenschaft, als Subjekt ethischer Selbstverständigung in den Blick zu nehmen. Es führt deshalb in die Irre, wenn man den gegenwärtig von ethischen Herausforderungen besonders betroffenen Wissenschaften mit einer generellen Hermeneutik des Verdachts begegnet und ihnen die Bereitschaft zu ethischer Selbstbegrenzung von vornherein abspricht. Doch es ist offenkundig, dass die Einhaltung solcher selbst gesetzter Grenzen unter den Bedingungen resultathaft organisierter Forschung besonders schwer ist. Die Einbindung der Wissenschaft in einen globalisierten Wettbewerb richtet für die individuelle ethische Rechenschaft große Hürden auf. Deshalb brauchen die einzelnen Wissenschaften und die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugleich auch verabredete und institutionalisierte Grenzziehungen.

Forschung ohne Fesseln, wie man dann und wann polemisch zugespitzt hört, ist deshalb, für sich genommen, eine gefährliche Losung. Genauso wäre freilich auch Forschung ohne Freiheit eine gefährliche Losung. Wie alles menschliche Handeln so muss es sich auch die Forschung gefallen lassen, dass ihr von außen Grenzen gesetzt und damit, wenn man es so nennen will, Fesseln angelegt werden. Auch sie sollten, so weit das möglich ist, in der Wissenschaft selbst diskutiert und von ihr selbst festgelegt werden. Deshalb gebührt den Formen wissenschaftlicher Selbstkontrolle und ethischer Diskussion in den Wissenschaften – auch so weit sie über die einzelne Wissenschaft hinausgehen – eine hohe Priorität. Die universitas litterarum gewinnt in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung. Dass eine Universität über die Expertise für eine solche Diskussion verfügt, ist ein hohes Gut. Für eine solche Diskussion ist nicht nur naturwissenschaftliche, sondern ebenso auch sozialwissenschaftliche Kompetenz in einer Universität von Nöten. Der ethische Beitrag aus Theologie und Philosophie ist genauso erforderlich wie die Sachkunde der unmittelbar betroffenen Lebenswissenschaften oder die bessere Förderung der Wissenschaftsgeschichte, die als das ethische Gedächtnis der Wissenschaften eine besondere Funktion hat.

Forschung selbst ist als hohes ethisches Gut, ja als Auftrag an den Menschen anzusehen. Aber es sollte auf keinen Fall dahin kommen, dass Ethik nur benutzt wird, um dem, was man ohnehin tun will, eine zusätzliche Legitimität zu verleihen. Vielmehr sollte die Ehre von Wissenschaftlern nicht zuletzt darin liegen, dass sie die Wirklichkeit kritisch betrachten – ihr eigenes Tun eingeschlossen. Dass Sie den Doktortitel, den Ihnen die Universität Tübingen verliehen hat, stets auch als Verpflichtung zur kritischen Selbstprüfung verstehen, ist an diesem Tag mein herzlicher Wunsch.