"Die Tugend des Glaubens" - Eröffnungsvortrag im Rahmen der Vortragsreihe „Moralische Reden über Sünden und Tugenden“ in der Marktkirche zu Hannover

Wolfgang Huber

1. Glanz und Grenze des Themas

Sie haben mich gebeten, einen Eröffnungsvortrag zum Thema „Die Tugend des Glaubens“ im Rahmen Ihrer Vortragsreihe „Moralische Reden über Sünden und Tugenden“ zu halten. Dieser Einladung bin ich gerne gefolgt. Mit der Frage nach einem tugendhaften Leben wendet man sich dem Thema zu, das man in alter Zeit als den „Gipfel christlicher Seelenbildung“ bezeichnet hat. Und wenn man den Glauben als Tugend betrachtet, bewegt man sich in demjenigen Bereich, den die klassische Tradition als „theologische Tugenden“ benannt hat.

Da ich gerade aus Rom zurückkomme, liegt ein präzisierender Hinweis nahe. Die Rede von den drei theologischen Tugenden, nämlich Glaube, Hoffnung und Liebe, ist eine große gemeinsame christliche Tradition. Sie ist ganz gewiss in der mittelalterlichen Scholastik besonders markant vertreten worden, weshalb man sie häufig als „katholisch“ zu bezeichnen pflegt. Doch die vorreformatorische christliche Tradition ist „katholisch“ vor allem in dem Sinn, dass es sich um ein gemeinsames christliches Erbe handelt, um dessen Erneuerung aus den biblischen Quellen die Reformation sich bemüht hat. Eine auch unter Protestanten gelegentlich anzutreffende Neigung, die vorreformatorische Entwicklung mit leichter Hand als „katholisch“ zu betrachten, als wäre diese Entwicklung für die evangelische Kirche ohne Bedeutung, hat der frühere Hannoversche Landesbischof Horst Hirschler einmal mit dem spitzen Satz zurechtgerückt: „Die römisch-katholische Kirche ist die katholische Kirche, die nicht durch die Reformation gegangen ist.“
Von der klassischen Tugendlehre aber gilt in einem ganz besonderen Sinn, dass sie ein gemeinchristliches Erbe ist. Denn nicht erst seit dem großen Scholastiker Thomas von Aquin, sondern schon seit den Kirchenvätern Ambrosius, Augustin und Gregor dem Großen gibt es eine ausgeführte christliche Tugendlehre, die neben die vier klassischen Kardinaltugenden - nämlich Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit und Maß - die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe stellt. Dabei geht die Liste der Kardinaltugenden auf den griechischen Philosophen Aristoteles, die Liste der theologischen Tugenden aber auf den Apostel Paulus zurück, dessen berühmter Satz im Hohen Lied der Liebe heißt: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13, 13).

In der christlichen Tradition gelten die drei theologischen Tugenden als der Gipfel menschlichen Seins, als Adel jeder christlichen Seele, als Glanz geistlichen Lebens. Da nach einem wichtigen Grundsatz der mittelalterlichen Theologie die Gnade die Natur nicht zerstört oder aufhebt, sondern ergänzt und vollendet, erfüllt sich die Bestimmung des Menschen und vollendet sich das Geschick der menschlichen Gattung mit diesen theologischen Tugenden. Insofern denkt der Mensch im Medium der theologischen Tugenden bestens von sich selbst. Natürlich sind auch in der katholischen Tradition diese Tugenden keinesfalls alleinige Leistung des Menschen. Sie sind nicht als Selbstvervollkommnung verstanden, sondern als Geschenk und Auftrag der Gnade Gottes, die dem Menschen im Sakrament des Abendmahls, vermittelt wird und ihm den inneren Raum und die seelischen Kräfte eröffnet, diese Tugenden auch wirklich zu leben und ihnen eine praktische Gestalt zu geben.

Man kann also sagen: Die theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung. Liebe formulieren die Seelenverfassung eines reifen, erwachsenen autonomen Christenmenschen, der auch in Anfechtungen seinen Glauben bewährt und die Liebe zu seinen Nächsten lebt. Ein in diesem Sinne tugendhafter Mensch ist eine Zierde des Menschengeschlechts, ein Geschenk des Himmels für seine Nächsten, ja manche denken vielleicht sogar eine Art personaler Gottesbeweis, denn in der Begegnung mit einem solchen Menschen wird es einem leichter gemacht, an Gottes Güte zu glauben.

Soweit ein Versuch eines kurzgefassten Lobgesangs der theologischen Tugenden. Aber Sie werden dahinter doch zugleich ein Problem vermuten. . Man muss doch ehrlicherweise zugeben: Die Rede von den theologischen Tugenden setzt einen sehr anderen Akzent als das stärker innerlich und aus der Gottesbeziehung entwickelte reformatorische Denken über den Menschen. Die Reformatoren sehen in der Rechtfertigung des Gottlosen die Mitte und das Wesentliche der evangelischen Freiheit; sie rücken damit alle menschlichen Tugenden genauso wie die guten Werke ins zweite Glied - gemäß dem berühmten Satz Martin Luthers: „Nur ein guter Baum bringe auch gute Früchte.“

Die Reformation hat mit der Rechtfertigungslehre ein Verständnis christlicher Freiheit entwickelt, das auch in ethischen Debatten ernst genommen und verteidigt zu werden verdient. Im Blick auf die Rede von den Tugenden gibt es dafür auch sehr gute Gründe. Denn neben all den Verdiensten der klassischen Tugendlehre steht die Erinnerung an einen oftmals überaus fatalen „Tugendterror“. Er hat bis hinein in unsere Tage das Christliche allzu oft auf das Tugendhafte reduziert und darin einen vermeintlich einfachen Maßstab zur Beurteilung von Menschen gefunden. Wehe dem, der solchen Tugendvorstellungen nicht entsprach – er konnte auch auf Gottes Gnade keinerlei Anspruch erheben! Natürlich kann man in Hannover gar nicht davon absehen, in welcher Gestalt dieser Tugendterror seine karikaturistisch vollendete Darstellung gefunden hat, nämlich in Wilhelm Buschs porentief humorloser und gestrenger Witwe Bolte. Aber auch heute, in einer Zeit, in der die Tugenden angeblich außer Kurs gekommen sind, kann man doch sehr leicht jenen tugendhaften Menschen begegnen, die schon ein zweites Glas Wein für einen Exzess halten, die keinen halb aufgegessenen Apfel ohne Erwähnung der hungernden Kinder in Afrika sehen können und die eine Art „unkrümmbaren Zeigefinger“ besitzen, der ständig den kalten Wind des Rechthabens ausströmt. „Tugendhafte Menschen“ können durchaus den Charakter einer Drohung annehmen, bis hin zu jenem furchtbaren „Tugendterror“, den nicht erst die Jakobiner während der Französischen Revolution erfanden und der auch nach ihnen noch viele Nachfolger gefunden hat. Man findet sie im Großen und Grausamen in Gestalten wie Stalin oder Mao bis hin zu Pol Pot; man findet sie im vermeintlich Kleinen auch in bestimmten Spielarten des Protestantismus, im angelsächsischen Puritanismus beispielsweise. Vielleicht entdecken wir sie sogar in Spielarten des deutschen Protestantismus; und wenn uns das zu schwer fällt, denken wir an deutschen Kadettengehorsam mit seinen „Sekundärtugenden“. Wir kennen Tugendterror und den unkrümmbaren Zeigefinger auch.

Noch einen anderen Aspekt gibt es, der mich nur vorsichtig, gleichsam „mit spitzen Fingern“ auf das Thema „Die Tugend des Glaubens“ zugehen lässt. Die Veranstalter stellen die Vortragsreihe „Moralische Reden über Sünden und Tugenden“, unter den Leitsatz: „In der politischen Kultur und in der öffentlichen Debatte besteht derzeit großer Bedarf an ethischer Reflexion über Werte, ethische Prinzipien und Entscheidungsmodelle sowie über moralische Orientierung.“ Das ist eine zutreffende oder doch jedenfalls diskutable Beschreibung eines gesellschaftlichen Bedarfs. Bloß: was hat der Glaube damit zu tun? Soll nun die „Tugend des Glaubens“ diesen „großen Bedarf“ befriedigen? Ich warne davor. Denn wenn der Glaube dazu herhalten soll, einen gesellschaftlichen Bedarf zu erfüllen, wenn die Kirche vor allem unter dem Gesichtspunkt gesehen wird, ob sie gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht wird, wenn Religion nur noch als eine Funktion der Gesellschaft angesehen wird, dann besteht Grund zur Vorsicht. Denn hier liegt ein Bild von Kirche und Glaube nahe, das ich nicht empfehlen kann: Zuerst wird die allgemeine Orientierungslosigkeit in der Welt beklagt; daraus werden Erwartungen an die Kirche abgeleitet, an deren Erfüllung die Brauchbarkeit der Kirche gemessen wird. Dabei sind diese Erwartungen für die Kirche nur schwerlich erfüllbar. Der wichtigste Grund dafür ist der folgende: Der Glaube sperrt sich gerade dagegen, in der Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse aufzugehen; Gott ist gesellschaftlich nicht funktionalisierbar. Und zum andern versteckt sich hinter derartigen Ansinnen an die Kirche zumeist die Erwartung, dass derjenige, der solche Erwartungen äußert, in seinen eigenen Überzeugungen von der Kirche bestätigt und bestärkt werden will. Wer eine allgemeine Orientierungslosigkeit beklagt und sagt, die Kirche solle nun endlich klare Orientierung vermitteln, meint in aller Regel, dass diejenigen Antworten, die der Fragende schon längst vorher hatte, nun endlich von der Kirche gegeben werden sollen. Das nennen wir dann Werte. Wenn jemand auf eine solche Weise von der Kirche Auskunft darüber erwartet, wo es „langgeht“ und was „nötig“ ist, will der Betreffende allzu oft nur seine eigenen Auffassungen von der Kirche bestätigt erhalten.

Man behandelt dann die Kirche wie eine „Bundesagentur für Werte“, die diese Werte auf die offenen Stellen in der Gesellschaft vermitteln soll. Natürlich werden die Zumutbarkeitsregeln immer weiter abgeschwächt, je länger die Stellen offen bleiben; und wie bei jedem ordentlichen Arbeitslosen muss die Flexibilität des Wertes zunehmen, er muss sich anpassen und auch zu geringeren Preisen zum Mitmachen bereit sein. Uns als Kirche muss es nachdenklich stimmen, wenn die Gesellschaft nur nach Werten und in diesem Sinn dann auch nach Tugenden ruft. Möglicherweise brauchen wir heute zuerst etwas ganz anderes als vermittelte Werte und vertretene Normen; vielleicht ist uns mit einem neuen Nachdenken über den Glauben viel mehr geholfen als mit einem bloßen Nachdenken über die Tugend.

II. Eine evangelische Tugendlehre?

Aber es bleibt dabei: Die Rede von der „Tugend des Glaubens“ verpflichtet dazu, die Frage nach dem Glauben in so etwas wie eine evangelische Tugendlehre einzuzeichnen. Was würde wohl passieren, wenn wir uns daran machen würden, alle sieben Tugenden durchzudeklinieren -die vier Kardinaltugenden zuerst die drei theologischen Tugenden danach?. Es würde uns doch nicht schwer fallen, das jeweils an aktuellen Beispielen zu konkretisieren. Über die Tugend der Gerechtigkeit würden wir dann ganz schnell reden, und sie an der Agenda 2010, an Hartz IV am Arbeitslosengeld II konkretisieren und der Frage nachgehen, ob ein Sozialstaat eigentlich die Aufgabe hat, im Falle von Arbeitslosigkeit den jeweils erreichten Lebensstandard oder nur ein Existenzminimum zu sichern. Oder man könnte im Blick auf die Tugend der Tapferkeit sehr würdigende Überlegungen zum 20. Juli folgen lassen und sechzig Jahre nach dem gescheiterten Attentat gegen Hitler den versuchten Tyrannenmord der Widerstandsbewegung um Graf von Stauffenberg erinnern, ergänzt und erweitert durch die Tapferkeit eines Janusz Korczak, eines Dietrich Bonhoeffer oder eines Pater Maximilian Kolbe. Und über die Tugend des Maßes ließe sich trefflich reden im Blick auf die Managergehälter in Banken, Industrieunternehmen oder Gewerkschaften. Damit könnte der Redner sicher auch manchen Applaus hervorrufen und manche Schlagzeile erreichen.

Doch dann hätte endgültig die Frage nach der Tugend über die Frage nach dem Glauben den Sieg davongetragen. Deshalb müssen wir uns beharrlich an die Frage halten, worin denn der spezifische Beitrag des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Gestalt zur Tugendfrage besteht. Gibt es überhaupt eine „Evangelische Tugendlehre“ (Konrad Stock)? Was haben wir Besonderes beizutragen, was nicht auch andere sagen könnten?

Aus evangelischer Sicht muss es darum gehen, nicht den Glauben von der Frage nach der Tugend aus, sondern die Tugend von der Frage nach dem Glauben aus zu betrachten. Deshalb stellt der Einführungstext zu Ihrer Vortragsreihe ganz zu Recht fest, dass die „Rede von Tugenden und Sünden - im Plural! - in der evangelischen Theologie immer problematisch“ war. Ja, das stimmt und das sollte auch so bleiben. Denn wichtiger als die Frage nach Tugenden ist die Frage nach Gott. Grundlegend für alles Fragen nach Tugenden und Lastern ist das Gottesverhältnis des Menschen. Vor allen Tugendlehren geht es um das Verhältnis von Glauben und Unglauben, von Gottesnähe und Gottlosigkeit.

Auf diese Frage gibt es eine klare urreformatorische Antwort. Sie stellt klar, dass wir uns von uns aus eindeutig und unausweichlich in der Position des Unglaubens und der Gottlosigkeit befinden. Keine unserer Tugenden reicht dazu aus, diese Kluft zu überbrücken. Der Anfang unserer Gottesbeziehung liegt in der Gerechtsprechung des Gottlosen, in der Aufhebung des Unglaubens, die Christus für uns vollzogen hat. Rechtfertigung meint im diesem durch Martin Luther neu gewonnenen Verständnis die Aufhebung und Überwindung der einen, alles entscheidenden, alles in Gefangenschaft nehmenden (Ur- oder Erb-)Sünde des Menschen: seines Unglaubens, seiner Ferne und Entfremdung von Gott. Sünde - so lautet die Definition der Reformation - ist ein Leben „ohne Gottesfurcht, ohne Vertrauen zu Gott und mit Begierde.“ Sünde in diesem Verständnis ist eine tiefe Orientierungslosigkeit, die es nicht im „Plural“ geben kann. Diese Sünde hat man noch nicht dadurch erfasst, dass man Sünden aufzählt. Aber worum es in dieser Orientierungslosigkeit geht, lässt sich sehr gut im Spiegel der drei „theologischen Tugenden“ Glaube, Liebe und Hoffnung verdeutlichen. Es ist ein Leben ohne Glauben, also ohne Beziehung zu Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit. Es ist ein Leben ohne Hoffnung, also ohne ein Vertrauen auf die Zukunft, das über die eigene Lebenserwartung und Bestimmungsmacht hinausreicht. Es ist ein Leben ohne Liebe, also ohne das innere Vermögen, den anderen Menschen um seiner selbst willen für mein Leben als wichtig anzuerkennen.

Dass Gott uns in Christus unsere Sünde vergibt, bedeutet, dass er uns aus dieser Orientierungslosigkeit befreit und uns ein Leben in Glaube, Hoffnung und Liebe neu erschließt. Wir lernen neu, aus der Beziehung zu Gott zu leben, unser Leben aus einer Zukunft zu begreifen, die weiter reicht als unsere Lebenserwartung und Bestimmungsmacht, und den anderen Menschen um seiner selbst willen für unser Leben als wichtig anzusehen. In dieser Aufhebung der Gottesferne und in diesem neuen Leben in und mit Gott wurzeln alles gute Tun und alle Tugend, also auch alle Tugend des Glaubens. Reformatorisch über Tugend zu reden heißt, den tugendhaften Christen von seiner Gottesbeziehung her zu beschreiben– und nicht die Gottesbeziehung von seiner Tugendhaftigkeit aus. Nicht etwa seine menschliche Größe oder seine moralische Vollkommenheit begründet seine Stellung vor Gott. Sondern Gottes grundlose Zuwendung zum Menschen bewegt ihn dazu, Tugenden für sich selbst als wichtig zu finden und Gutes zu tun, wo immer er kann. Nicht dass der Glaube als Tugend gepriesen wird, sondern dass das Evangelium von der Gerechtsprechung des Gottlosen bezeugt wird, ist der alles entscheidende Ausgangspunkt.

Doch gerade in dieser Hinsicht stimmen mich einige Beobachtungen sehr nachdenklich. In manchen Bereichen unserer Kirche nehme ich eine Frömmigkeit der Sehnsucht wahr, eine Art Vermissen Gottes als letzte Grundhaltung des Glaubens, ein zögerliches, vorsichtiges, suchendes Sich-Ausstrecken nach Gott, das lange nicht die Gottesgewissheit zu erreichen vermag, die in den Liedern und Texten unserer Väter und Mütter aufscheint. Es ist, als müssten wir die theologische Tugend des Glaubens eher als Spiegel eines Verlustes verstehen, den die Feinsinnigen und Berührbaren unter ihren Verehrern noch spüren, weil die Tugend des Glaubens in unseren Tagen eine Tugend des Zweifelns, des Fragens, der Sehnsucht nach Spiritualität und der Suche nach Gewissheit geworden ist. Täusche ich mich, wenn ich sage: Jedenfalls in Mitteleuropa leben wir heute in einer eher „glaubenschwachen Zeit“? Wenn das stimmt, dann ist die Krise der Kirchen nicht zuerst eine finanzielle oder organisatorische Krise, sondern eine geistliche Krise. Uns sind viele Selbstverständlichkeiten und Glaubensgewissheiten abhanden gekommen, Glaubensinbrunst und Glaubensstärke sind kleinlauter als in früheren Zeiten und nicht wenigen fröhlichen Christenmenschen zerfließt der Glaube zwischen den Fragen wie Sand zwischen den Fingern. Wir erleben – übrigens durchaus in ökumenischer Gemeinsamkeit der beiden großen Kirchen – kollektiv eine Glaubenskrise, wie viele Menschen sie auch individuell aus ihrer persönlichen Biographie kennen.

Diese Glaubenskrise lässt uns immer intensiver fragen: Leben wir in Zeiten einer „Gottesfinsternis“? Hat Gott sich von diesem rational-aufgeklärten und wirtschaftstaumeligen Großraum Europa abgewandt? Wie viele Menschen mag es in unserer Welt geben, die zwar nicht einen so festen Glauben und so starke Glaubensgewissheiten haben, wie sie uns in unseren Traditionen entgegentreten, die aber dennoch Gott suchen und vermissen, die eine unauslöschliche Sehnsucht nach jenem Geheimnis des Lebens haben, das sie selbst nur noch vom Hörensagen kennen? Wie viel in diesem Sinne ‚negative Theologie’ mag es geben? Wie viel Verteidigung gegen die dunklen Künste der Durchrationalisierung unseres Lebens ließe sich finden? Und wie viel stummer Einspruch gegen alle vorschnelle Auffüllung der Gottesstille durch Banalitäten? Sind wir als Kirche gut auf solche Sehnsucht vorbereitet? Schaffen wir genügend „Räume der Begegnung“ für diese offene, tastende Sehnsucht nach Gott, nach Sinn und Halt? Haben wir als evangelische Kirche ein Gespür dafür entwickelt, dass es viele Menschen um uns her, ja auch in unseren Gemeinden gibt, die eine Sehnsucht nach dem Heiligen haben, aber den vorschnell festgezurrten Formeln, mit denen wir antworten, mit einem großen Misstrauen entgegentreten? Singen wir für deren Fragen nicht etwas zu laut – oder auch etwas zu langsam? Reden wir für diese Suche nicht etwas zu viel – oder auch zu allgemein?

Auf diesem Hintergrund hat die Rede von der „Tugend des Glaubens“ einen guten Sinn. In den Blick tritt diejenige Art von Herzensbildung, die wir brauchen, um in unserer Situation auf das Fragen unserer Mitmenschen wirklich einzugehen und ihnen bei ihrer tastenden Suche die Rechtfertigung des Gottlosen zu bezeugen.

Dafür müssen wir als einzelne den Glauben neu als Mitte unseres Lebens erkennen, nicht als abgesonderten Bezirk unseres Lebens, sondern als „Lebensakt“, wie Dietrich Bonhoeffer gesagt hat. Und als Kirche müssen wir uns neu auf unseren „geistlichen Markenkern“ konzentrieren. Evangelisch von der Tugend des Glaubens zu sprechen meint, der verbreiteten Selbstsäkularisierung in unseren Kirchen zu widersprechen und mutig für die Sehnsucht nach Gott einzustehen.

Manche fürchten, eine solche Konzentration des einzelnen auf den Glauben als Mitte seines Lebens, eine solche Konzentration der Kirche auf ihren „geistlichen Markenkern“ führe zu einer Abwendung der Kirche von den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Mit einer solchen „Wendung nach innen“ gebe die Kirche ihr „prophetisches Wächteramt“ auf. Gewiss hat es in der Geschichte der Kirche Zeiten gegeben, in denen eine Wendung nach innen als bloße Pflege einer innerlichen Gesinnung gemeint war. Für unsere evangelische Kirche und angesichts der Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts sehe ich diese Gefahr nicht. Ich sehe die größere Gefahr darin, dass es uns überhaupt an Glaubensmut gebricht; ich sehe sie nicht so sehr darin, dass uns die Themen gesellschaftlicher und politischer Art ausgehen, an denen sich dieser Glaubensmut zu bewähren hat. Ich glaube nicht, dass unsere Kirche in der Gefahr steht, die gesellschaftlichen Herausforderungen zu ignorieren, an denen sie sich als „Mund der Stummen“ und als Anwalt der Schwachen zu bewähren hat. Aber ich glaube sehr wohl, dass wir uns der Glaubenskraft neu vergewissern müssen, die jeder und jedem von uns zum aufrechten Gang verhilft und die uns so auch befähigt, in den Stürmen unserer Zeit Farbe zu bekennen und zu dem Weg zu stehen, für den wir eintreten wollen: den Weg an der Seite Jesu, den Weg der gleichen Würde für alle Menschen, unabhängig von Sozialprestige und Einkommen.

Wenn schon von der „Tugend des Glaubens“ die Rede ist, dann ist damit eine Tugend gemeint, die allzu pathetische Gewissheiten, allzu dröhnende Verkündigungsformeln, allzu steile Behauptungen hinter sich lässt. Denn Vollmundigkeit ist weder beim Essen noch beim Glauben eine Tugend. Eine „charakterliche Exzellenz“ des Glaubens sieht vielmehr anders aus. Sie bemüht sich um die Entwicklung „geistlicher Manieren“ vor Gott. Denn auch die Tugend des Glaubens bringt die vier klassischen Kardinaltugenden in Gebrauch. Die Tapferkeit wird eine Tapferkeit angesichts der Zweifel, die Klugheit zu einem Suchen nach Gott, die Mäßigung wird zu einem heilsamen Maß in der Anerkennung von Wissen wie von Nichtwissen; die Gerechtigkeit anerkennt die Vorläufigkeit all unserer menschlichen Bemühungen angesichts der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Die theologische Tugend des Glaubens entfaltet die vier Kardinaltugenden als eine Erwählung zum Fragen, als eine Berufung zum Suchen, als den Auftrag, mit den Grenzen unseres Wissens zu leben. Die Tugend des Glaubens befähigt zu einem „geistlichen Wächteramt“, das heute genauso wichtig und bedeutsam ist wie das so oft beanspruchte „prophetische“, also das „politische Wächteramt“. Meine ganze Leidenschaft geht dahin, dass wir endlich aufhören, das eine gegen das andere auszuspielen.

Das geistliche Wächteramt, das der neu gefassten theologischen Tugend des Glaubens entspricht, beklagt und beweint, der alttestamentlichen Prophetie (Jesaja 65) folgend, Gottes Fernsein, sein Ausbleiben, sein Schweigen. Es ruft ihn herbei und erinnert ihn an seine Verheißungen. Gerade weil uns heute oft nicht mehr der siegesgewisse Glaube der Vater und Mütter zur Verfügung steht, der laut pfeifend durch den dunklen Wald der modernen Anfragen und rationalen Einwände läuft, wird die Tugend des Glaubens zu einer inneren Haltung, die für Gott auch in der Stille der eigenen Seele einen Platz freihält mit Gebet, mit Meditation, mit Lesen der Bibel und Singen der Lieder. Die Tugend des Glaubens ist zuerst das Eintreten für Gott vor sich selbst und vor den anderen; denn ohne Gott gehen wir viel zu leicht verloren in der Oberflächlichkeit des Lebens. „Gott und die Seele gehören zuhauf“, heißt es bei Luther, und weil dies stimmt, können sie auch beide zuhauf verloren gehen. Gott und die Würde der Seele machen sich gemeinsam rar in unserer Welt und werden zusammen still. Für mich ist darum der harte Kern jeder zukünftigen evangelischen Tugend des Glaubens die Freundschaft zu Gott und die aufrichtige Weisheit, sich seines eigenen Bekennermutes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Die Tugend des Glaubens ist eine Tapferkeit auch vor den eigenen Zweifeln, sie ist ein Maßhalten im Blick auf das, was wir von Gott erwarten und zugleich die Gerechtigkeit, die auch dem Gott gilt, der stiller geworden ist, der ferner zu sein scheint, obwohl doch in ihm das ganze Geheimnis des Lebens, die Fülle allen Trostes und die Mitte aller Tugenden beheimatet ist.

III. Evangelische Tugenden im Streit der Positionen
 
Gemäß der klassischen ethischen Unterscheidung zwischen Pflichtenlehre, Güterlehre und Tugendlehre (z.B. in Schleiermacher`s Philosophischer Ethik) wendet sich die Tugendlehre dem einzelnen Menschen zu und macht den Versuch, aus den prinzipiellen Überlegungen zum ethischen Sollen in der Pflichtenlehre und dem klärenden Diskurs um die lebensweltlichen Güter, die diesen Prinzipien gemäß anzustreben sind, persönliche Voraussetzungen zu beschreiben, die den Christenmenschen auszeichnen. Das bisher entwickelte Verständnis eines „tugendhaften Glaubens“ hat entsprechend auch Auswirkungen auf die Beschreibung einer persönlichen Haltung, die der Tugend des Glaubens entspricht. Wenn man ein Bild davon entwerfen will, dann kann man dem evangelischen Theologen Konrad Stock folgen, der eine solche Haltung bei denen erkennt, „deren Herzensgüte und deren lautere Gesinnung, deren Treue und deren zielstrebige Beharrlichkeit inmitten eigener Schwäche, bedrohlicher Anfechtungen, unausgeräumter Zweifel, aber auch äußerer Widerstände und Gefahren Zeugnis ablegt von der Wahrheit des Evangeliums“. Letztlich wird unser Nachdenken über die Tugend des Glaubens immer wieder dahin führen, dass wir Haltungen wie Herzensgüte, Lebensfreude, Liebesfähigkeit und Mitgefühl als Grundpfeiler einer Lebensauffassung beschreiben, die nach Folgen der Rechtfertigungsbotschaft im Leben fragt, aber gleichzeitig anerkennt, dass der gerechtfertigte Mensch immer frei und unabhängig bleibt von den ethischen Leistungen, Einsichten und Vermögen, die er sich erwirbt.

Versucht man nun aber abschließend, aus diesen Haltungen so etwas wie einen evangelischen Geist zu formulieren, der allen politischen, gesellschaftskritischen und kulturellen Äußerungen der Kirche zu Grunde liegen sollte, dann sind mir dabei vier Grundbestimmungen, gleichsam vier „Charakterzüge“ wichtig, die allerdings keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erheben:

1. Grenzbewusstsein verteidigen

Schon bei Platon wird die Kardinaltugend des Maßes auch gegenüber den Göttern betont (Platon, Charmides: „nicht mit den Göttern spielen“). Gemeint ist damit, dass wir Menschen die Götter nicht leichtsinnig herausfordern, sondern dass wir sie als Symbole menschlicher Grenzen achten.

Im Grunde könnte das doch auch ein christlicher Grundsatz sein: Wenn wir Gott nicht mehr als unser Gegenüber haben, sondern meinen, wir könnten mit ihm spielen, wenn wir Gott nicht als Begrenzung unseres Seins als ‚homo faber’, unseres Machermenschentums und unseres Menschenmachertums ansehen können, dann müssen wir alle anderen als Helden überragen, als Tugendhelden meinetwegen, Wirtschaftshelden, Politikhelden, immer aber und auf jeden Fall als Heldinnen und Helden. Wenn uns die Sehnsucht nach Gott erst einmal abhanden gekommen ist, bleibt uns Menschen nicht viel anderes übrig, als die tugendhafte Befreiung der Welt zu gerechten Strukturen allein von uns selbst zu erwarten und uns eben damit hemmungslos zu überfordern. In diesem Sinne ist die ganze Tugend des Glaubens zusammengefasst in dem wunderbaren Morgenlied von Paul Gerhardt: „Die güldene Sonne voll Freud und Wonne, bringt unseren Grenzen mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht.“ Da heißt es nicht: "bringt unseren Stärken mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht." Gottes Geist versöhnt uns mit unseren Grenzen, er ist kein Steigerungsmittel, kein Leistungsverdoppler, kein Medaillenspiegeloptimierer. Sondern "deinen Grenzen schafft er Frieden" wie es im Psalm heißt. Es ist leicht, sich auszumalen, an welchen Themen man das heute konkretisieren könnte. In einer Zeit, in der das Klonen von Menschen wieder so sehr in greifbare Nähe gerückt wird: erlaubt schon jenseits des Kanals, diskutiert auch in unserem Land. Ich weiß, Kontroversen haben wir darüber auch in unserer eigenen Kirche. Aber einen verhältnismäßig weitgehenden Konsens haben wir doch auch erreicht.

Wo freilich die Grenzen des Machermenschen und des Menschenmachers auszumachen sind, ist und bleibt strittig. Doch über diesen Streit brauchen wir nicht zu resignieren. Ich bin vielmehr dankbar dafür, ja sogar stolz darauf, dass wir diesen Streit in unserer Kirche offen austragen und durch die Kontroverse hindurch nach einem Konsens suchen. Die strittigen Fragen von Lebensanfang und Lebensende sind dafür ein aktuelles Beispiel. Dieses Beispiel zeigt. Als evangelische Kirche haben wir durch alle Kontroversen hindurch einen verhältnismäßig weitgehenden Konsens in diesen Fragen erreicht. Gemeinsam bekennen wir uns zu der Verpflichtung, Leben zu schützen. Unterschiedliche Einschätzungen von Abwägungssituationen dürfen an dieser Grundüberzeugung keinen Zweifel aufkommen lassen: und deshalb treten wir miteinander dafür ein, dass Leben nicht „gemacht“, sondern empfangen und angenommen werden wird. Aus demselben Grund treten wir für die Einsicht ein, dass „die Situation des Wartens auf den Tod“ sich nicht durch sogenannte aktive Sterbehilfe „wegmachen“ lässt (Johannes Fischer). Auch die genetische Nicht-Planbarkeit des Menschen wollen wir festhalten, den „genetischen Zufall“ wollen wir als Ursprung der Person bewahren. Auch wenn wir das Beste für unsere Kinder wünschen, wollen wir sie uns deshalb nicht genetisch zurechtfeilen.

2. Diskurs, nicht Dekretieren

Aus der Tugend des Glaubens, so will ich behaupten, folgt für uns als evangelische Kirche, dass wir nicht Glaubenspositionen dekretieren. Denn keiner von uns verfügt über den Glauben, weder über den eigenen noch über fremden. Genau dies macht uns zurückhaltend im Verkünden von Glaubenswahrheiten, die von allen und überall beachtet werden müssen. Grundsätzlich sind wir ausgerichtet auf eine Suche nach einem „großen Konsens“, was mitunter außerordentlich kompliziert und langwierig sein kann, was aber Ausdruck des prinzipiellen Verzichtes auf eine Wahrheitsschiedsstelle ist. Wir haben nicht und wir wollen auch nicht die Möglichkeit entwickeln, inhaltliche Positionen - wie es früher hieß – „durchzustellen“. Wir können Argumente nennen, Argumentationslinien entfalten und zweifellos auch deutliche Positionen beziehen, durch inhaltliche Autorität andere überzeugen. Es ist nicht die Auffassung, dass die evangelische Kirche dann schon am Ziel ist, wenn möglichst viele Positionen ein vollkommen undurchschaubares Stimmengewirr erzeugen. Es ist nicht besonders evangelisch, überhaupt keine Position mehr einzunehmen. Nein, klare Positionen können formuliert werden. Aber jeder, der sie formuliert, weiß, dass er durch bessere Einsicht auch selber überzeugt werden kann.

Ich habe gerade schon den Diskurs über die großen bioethischen Fragen als Beispiel genannt. Wir haben als Rat der EKD dazu klare Positionen bezogen. Aber wir haben gleichzeitig einen Diskussionsprozess organisiert, in dem wir auch immer sagen: Wir wollen unsere eigenen Positionen prüfen, bewähren, weiterentwickeln an neuer Einsicht - und das nennen wir evangelisch. Wir sind davon überzeugt: Solch ein offener, suchender, fragender Diskurs bewahrt davor, die eigene Wahrheitserkenntnis mit der Wahrheit des Glaubens zu verwechseln. Von diesem Weg wollen wir uns auch nicht durch den Vorwurf abbringen lassen, wir seien bisweilen „unsichere Kantonisten“. Denn Glaubensgewissheit und der Zweifel am Stand der eigenen Wahrheitserkenntnis schließen sich nicht aus, sie gehören vielmehr zusammen.

3. Den Einzelnen würdigen

Als evangelische Kirche beanspruchen wir eine besondere Kompetenz in der Würdigung des Einzelnen. Unsere Kirche besteht nicht aus besseren Politikern. Auch gegen manches Zerrbild, das Pastoren und Pastorinnen bisweilen auch auf Kanzeln zu produzieren vermögen, sage ich: Das ist es nicht, was uns auszeichnet. Wir sind Menschen, die in der Gemeinschaft des Glaubens besonders den einzelnen Menschen im Blick haben, weil jede und jeder von Gott ganz besonders gewürdigt ist.

Weder Volk noch Rasse, weder Klasse noch Milieu sind von Haus aus evangelische Kategorien, sondern im Zentrum steht der einzelne Mensch in seiner Größe und in seinen Grenzen, in seinem Kummer und in seiner Würde.
Deshalb fühlt sich die evangelische Kirche mitverantwortlich dafür, dass jede gesellschaftliche Veränderung, jede medizinische Innovation, aber auch jede Agenda 2010, jedes Hartz IV oder wie die politischen Debatten heißen mögen, immer auch kritisch beleuchtet werden im Blick darauf, was damit dem Einzelnen zugemutet wird. Unsere Aufgabe ist es nicht, praktikablere Vorschläge oder idealere Konzeptionen für all diese Fragen zu entwickeln; sondern wir erheben unsere Stimme für die, die unter die Räder kommen und in unzumutbare Lebenssituationen hineingeraten. Dabei ist die Definition der Grenzen des Zumutbaren jeweils im Fluss und in der Diskussion, auch hier gibt es legitimerweise durchaus unterschiedliche Einschätzungen. Aber es bleibt die Grundausrichtung: Jeder einzelne Mensch hat eine unverlierbare Würde und deswegen ein Recht darauf, auch in der Kirche eine Stimme zu finden, die seine existentielle Situation wahrnimmt und sie als Kummer oder Klage vor Gott und den Menschen ausspricht.

4. Mut zu Reformen

Eine Kirche, die die Tugend des Glaubens durch den Geist ihrer Positionen und Erklärungen kenntlich machen will, ist verpflichtet, den Menschen Mut zu machen auch zu schwierigen Schritten. Die Grundbotschaft muss heißen: Bangemachen gilt nicht! Gewiss haben die gegenwärtigen Probleme in ihrer Schärfe auch damit zu tun, dass wir die Probleme über lange Zeit nicht haben sehen wollen. Trotzdem gilt: Die Herausforderungen, denen sich unsere Gesellschaft stellen muss sind bewältigbar. Trotz mancher Einschränkung, mancher Härte, mancher objektiven Verschlechterung der Lebenssituation gilt: Auch unsere Generation wird den Weg ins Freie finden.

Eine Kirche, die nicht nur selbst so alt geworden ist, dass sie alles zwischen Aufbruch und Grenze, zwischen Enttäuschung und Erweckung, zwischen Stagnation und Fortschritt hat erfahren müssen, sondern die in ihrer grundlegenden Quelle, der Bibel, alle existentiellen Gründe und Abgründe des Menschen spiegelt, kann mit guten Gründen zu neuen Wegen ermutigen. Alle Veränderungen, die wir jetzt erleben, die demographische Entwicklung, die Frage nach der Zukunft von Familien, die Umschichtungen in der Alterabsicherung oder dem Gesundheitswesen, im Funktionieren unseres Sozialstaats, dürfen uns nicht irre machen darin, nach den Zielen zu fragen, um die es geht, und um dieser Ziele willen auch die kurzfristige Verwirklichung eigener Interessen daran zu messen, ob sie dem gemeinsamen Leben zu Gute kommen. An welchem Ziel orientieren wir uns: an der kurzfristigen Verwirklichung eigener Interessen oder an der Nachhaltigkeit unserer Sozialsysteme, an der Inanspruchnahme des für uns selbst Möglichen oder an der Finanzierbarkeit des Sozialstaats auch für die nächste Generation? Dabei gibt es manche Kompromisse, die fade wirken, manche politischen Einigungen, die keine Zuversicht ausstrahlen. Aufgabe der Kirche ist es, Menschen dabei zu helfen, dass sie Mut zur Zukunft haben und diesen Mut zur Zukunft mit anderen teilen. Denn das wissen wir ja alle: Nichtstun ist zur Zeit die schlechteste aller denkbaren Alternativen.

„Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist“ – Klaus Peter Hertzsch hat 1989 so gedichtet. Dieses Lied, ursprünglich für eine Hochzeit gedichtet, hat schnell in unser Gesangbuch und in unser Liedgut Eingang gefunden. In einer Zeit, in der vor lauter Aufregung wirklich nichts zu erkennen war von der Zukunft, ist dieses Lied zum Ausdruck eines Grundvertrauens geworden, das viele Menschen miteinander verbindet. Die Zuversicht, dass Gott gerade unsere Geschichte in der Hand behält, ist die Grunderfahrung, die wir alle miteinander vor fünfzehn Jahren machen konnten, in der Zeit, in der dieses Lied gedichtet wurde. Eine derartige Überzeugung gegen alle Einwände, gegen alle Belastungen, gegen allen Streit zu verteidigen, halte ich für eine tugendhafte Grundhaltung evangelischen Glaubens in den Jahren, die vor uns liegen. In diesem Sinn kann ich dann doch die Aussage beherzt mitvollziehen, die sagt: Ja, der Glaube in seiner evangelischen Gestalt, er kann eine Tugend sein, die dann nicht nur uns selbst, sondern auch anderen zu Gute kommt.