Zuwanderung und Integration aus kirchlicher Sicht

Manfred Kock

Rummelsberg

Es gilt das gesprochene Wort!

Vortrag anlässlich der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft für die Woche der ausländischen MitbürgerInnen / Interkulturelle Woche 2003
Tagungszentrum Rummelsberg

Sehr geehrte Damen und Herren,

für die Einladung, zum Thema Zuwanderung und Integration aus kirchlicher Perspektive zu sprechen, danke ich dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuss. Ich nutze die Gelegenheit, um Ihnen für die Arbeit, die Sie zum Wohl unseres Gemeinwesens leisten, meine Anerkennung im Namen des Rates der EKD auszusprechen.

Sie sind ein interessiertes und fachkundiges Publikum, Sie kennen die entsprechenden Daten, Fakten und geschichtlichen Hintergründe. Darum erlaube ich mir, schwerpunktmäßig den Aspekt der "Integration" zu behandeln. Leitend wird dabei die Frage sein, welchen spezifischen Beitrag die Kirchen von ihrem Auftrag und aufgrund ihrer Erfahrungen und Möglichkeiten bei der Integration von Menschen leisten können, die als zunächst Fremde zu uns kommen. Bei dieser Gelegenheit werde ich mich wesentlich auf den am 20. Dezember letzten Jahres veröffentlichten Grundsatzbeitrag des Rates der EKD zur Integrationsfrage „Zusammenleben gestalten“ beziehen.

Integration ist ein Thema, das bei den Kirchen schon seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung steht und von ihnen kontinuierlich im gesellschaftlichen Raum angesprochen wurde. Inzwischen – und das begrüße ich nachdrücklich – wird auch seitens der Politik den längst gegebenen Realitäten von Zuwanderung und einer entsprechend pluraler gewordenen Gesellschaft Rechnung getragen. Die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts, der Bericht der Süßmuth-Kommission und das nun nicht in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz haben den Abschied von einer Politik eingeleitet und vollzogen, die - mit Ausnahme jener frühen Phase der Anwerbung von „Gastarbeitern“ - Zuwanderung stets nur abwehrend negativ qualifiziert hat und die in der Vergangenheit lieber Rückkehrprämien als Integrationsmaßnahmen finanzierte. Dieses Politikverständnis liegt hinter uns - hoffentlich.

Bundesinnenminister Schily hat in seinem beachtenswerten Vortrag „Soziale Integration in der deutschen Gesellschaft als politische Aufgabe“ vom vergangenen September in Berlin den Kirchen bescheinigt, sie seien es gewesen, ich zitiere, „die als erste gesellschaftliche Kräfte die Notwendigkeit des Dialoges mit den Zuwanderern erkannten, sie also nicht nur als Arbeitskräfte sahen, sondern als Menschen aus einem anderen Kulturkreis, die hier in Deutschland mit der Mehrheitsgesellschaft in Kontakt kommen wollen und sollen.“ Wenn ich im Folgenden kurz einige Stationen der kirchlichen Bemühungen und des kirchlichen Engagements für Zuwanderung und Integration in Erinnerung rufe, dann geschieht das nicht, um dem ministeriellen Lob noch ein Eigenlob hinzuzufügen, sondern weil daran einerseits die politischen Versäumnisse besonders deutlich werden und weil auf der anderen Seite damit auch die gegenwärtige gesellschaftliche Situation erkennbar wird, die weiterhin den Beitrag der Kirchen unentbehrlich macht.

1. Die kirchlichen Positionen zu Zuwanderung und Integration

Vor dem Hintergrund ihres eindeutigen biblischen Auftrags zugunsten von Fremden haben sich die Kirchen und ihre Hilfsorganisationen schon frühzeitig der Nöte und Probleme zugewanderter Menschen angenommen und sich zum Anwalt der Zugewanderten gemacht. Seit Beginn der 70er Jahre erschien eine Vielzahl von öffentlichen Stellungnahmen und Publikationen der Kirchen, die für die Integration von Ausländern und für die Aufnahme und menschenwürdige Behandlung von Verfolgten und Schutzsuchenden im Sinne der Erhaltung des Grundgesetzartikels 16 eintraten. Das war schon in den 70er und 80er Jahren gegen den politischen Trend. Denn seit 1976 wurden bei jeder Bundestagswahl immer wieder die Einwanderer zum Thema gemacht. Man warnte vor Überfremdung und vor sozialen Verwerfungen und konnte damit Stimmen gewinnen. Das durchgehende Motto lautete: „Das Boot ist voll“. Gebetsmühlenartig wiederholten Vertreter der Politik das von den Tatsachen längst überholte Bekenntnis, dass die Bundesrepublik „Kein Einwanderungsland“ sei. Erst vor zwei Jahren hat sich mit dem Parteien-Konsens eine Revolution im Denken Bahn gebrochen, die viele, so hat es allerdings den Anschein, seit dem Streit um das Rot-Grüne Zuwanderungsgesetz bereits wieder vergessen möchten.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle erneut unterstreichen, dass ein Zuwanderungsgesetz überfällig ist. Nach den Landtagswahlen vom 2. Februar wird es leichter, den Gesetzentwurf erneut einzubringen. Es ist ein Entwurf, der breite Zustimmung verdient.

Ich möchte nur einige wenige Punkte in Erinnerung rufen, bei denen die Kirchen, die hier übrigens in allen wesentlichen Positionen stets übereinstimmen, die Rechte und die Würde der Fremden gegen die herrschende Meinung eingefordert haben. Die nachhaltig wirkungsvollste Initiative, der wir auch unser Beisammensein an diesen beiden Tagen verdanken, war der 1975 von der EKD initiierte erste bundesweite „Tag des ausländischen Mitbürgers“, an dem sich dann auch die katholische Kirche und die griechisch-orthodoxe Metropolie beteiligten. In der Folge weitete sich die Initiative zur Institution „Woche der ausländischen Mitbürger/ Interkulturelle Woche“ innerhalb eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses einschließlich der Gewerkschaften aus. 1980 konnte der Ökumenische Vorbereitungsausschuss für den Tag des ausländischen Mitbürgers, wie der damals noch hieß, unter dem Leitthema „Verschiedene Kulturen - gleiche Rechte. Für eine gemeinsame Zukunft“ erstmals von einer „multikulturellen Gesellschaft“ der Bundesrepublik reden. Nach dem Motto „Was haben Ausländer mit Kultur zu tun?“ stieß dieser Begriff damals auf Unverständnis und löste eine öffentliche Diskussion aus, die auf der einen Seite Angst erzeugte aber auch neue Perspektiven aufzeigte. Eine Diskussion über politische Ziele und kulturelle Grundlagen des gemeinsamen Lebens in der Bundesrepublik wurde in Gang gesetzt, die bis heute nicht beendet ist, auch wenn es um den Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ selbst inzwischen ruhig geworden ist. Die interkulturelle Komponente, die darin sichtbar wird, d.h. der Hinweis auf den Beitrag der deutschen Bevölkerung und Politik zur „Integration“ der Fremden ist in den meisten Stellungnahmen der Kirchen ausdrücklich enthalten.

Entsprechend hat die EKD bereits 1985 in der Veröffentlichung „Gesichtspunkte zur Neufassung des Ausländerrechts“ auf einen gesetzlichen Rahmen für eine positive Integrationspolitik gedrängt. Integration wurde dabei als ein längerfristiger Prozess beschrieben, ich zitiere, „dessen Gelingen nicht nur von Ausländern, sondern wesentlich auch vom Verhalten der Deutschen abhängig ist. Dabei verlangt Integration nicht Assimilation und nicht die Aufgabe der ethnischen, kulturellen und religiösen Identität.“ Anfang der 90er Jahre, Sie erinnern sich, gab es aufgrund der nach 1989 stark gestiegenen Zahlen von Asylsuchenden jenen unsäglichen Streit um das Grundrecht auf Asyl in einem hochemotionalisierten Klima mit allen Anzeichen von gesellschaftlichen Verwerfungen. „Asylkompromiss“ nannte man das, was die großen Parteien zustande brachten. Der Artikel 16 GG wurde geändert. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der EKD haben 1992 an die politisch Verantwortlichen appelliert, ich zitiere, „eine Asyl- und Flüchtlingspolitik in die Wege zu leiten, die das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte schützt und im erforderlichen Umfang die Zuwanderung steuert und begrenzt“. Sozusagen als Selbstverpflichtung gegenüber dieser Position sind die Mitte der 90er Jahre vorgelegten beiden EKD-Asylberichte zu sehen. Beide Stränge, die Zuwanderung- und die Integrationsthematik, werden dann in grundsätzlicher und umfassender Weise in dem gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht „ ... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“ von 1997 wieder aufgenommen. Das Leitbild von Integration, das hier entworfen wird, ist überschrieben als „Gemeinsames Fundament für Vielfalt“. Das gemeinsame Wort sagt: „Das Zusammenleben in unserer kulturell und religiös pluralen Gesellschaft muss auf der Grundlage der für alle verbindlichen Grundrechte und Grundfreiheiten gestaltet werden. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bietet dieses Fundament und zugleich den Rahmen für die rechtliche und soziale Gestaltung der Gesellschaft ... Zuwanderer haben ein Recht auf Wahrung, Pflege und Fortentwicklung Ihrer kulturellen Identität, sofern deren Verwirklichung mit den Grundwerten der Bundesrepublik Deutschland vereinbar ist und sie auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung handeln. Ein wichtiges Ziel ist die gleichberechtigte Beteiligung der eingewanderten Bevölkerung am öffentlichen Leben.“

Das hier vertretene verfassungsstaatliche bzw. republikanische Integrationsmodell mit dem Grundgesetz als gemeinsamer Grundlage für ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt hat hier einen Ausdruck gefunden, der im Modell des Ökumenischen Rates der Kirchen von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ formuliert worden ist.

Zusammen mit den Einsichten der EKD-Schrift von 1985, wonach Integration sowohl ein langfristiger wie auch ein wechselseitiger Prozess zwischen Zuwanderern und aufnehmender Gesellschaft ist, sind damit die beiden Grundpositionen beschrieben, auf denen der am 20. Dezember vergangenen Jahres veröffentlichte Grundsatzbeitrag des Rates der EKD „Zusammenleben gestalten“ aufbaut.

Der Rat hatte den Zeitpunkt der Veröffentlichung bewusst in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 2002 gewählt. Er wollte damit deutlich machen, dass ein Gesamtkonzept für die Bereiche Arbeitsmigration, Aufnahme aus humanitären Gründen und Integration unverändert notwendig ist.

Die im Titel einer im Juli des vergangenen Jahres von meiner eigenen rheinischen Landeskirche herausgegebenen Arbeitshilfe erhobene Forderung "Integration braucht ein Konzept" ist mit dem Ratsbeitrag insofern umgesetzt worden, als hier Integration als ein Prozess entfaltet wird, der alle Bereiche der Gesellschaft umfasst und zudem zu nachhaltigen Veränderungen führt. Ich möchte Ihnen die zugrundeliegenden konzeptionellen Überlegungen vorstellen und dabei besonders auf die spezifischen Aufgaben und Möglichkeiten der Kirchen eingehen.

2. Einheit in Vielfalt als Leitbild für Integration

Wenn sich die Kirche mit einem Beitrag zur Integration von Menschen anderer kultureller und religiöser Traditionen zu Wort meldet, geschieht das von zwei Voraussetzungen aus. Zum einen ist die Botschaft des Evangeliums universal; sie richtet sich an alle Menschen ungeachtet ihrer nationalen, ethnischen, sprachlichen und kulturellen Herkunft. Von ihren Ursprüngen her ist so der Kirche bis heute Vielfalt eingestiftet. Die Kirche existiert als weltweite Gemeinschaft in ethisch, konfessionell und kulturell unterschiedlichen Gestalten. Erst ein langer Lernprozess, der auch geschichtliche Irrwege und Katastrophen aufgrund von konfessioneller Intoleranz einschloss, hat zu dem Verständnis geführt, dass konfessionelle Vielfalt und die Ausprägung des Evangeliums in unterschiedlichen Kulturgestalten kein Mangel an Einheit ist, sondern zum geschichtlichen Wesen des Evangeliums gehört. Die Bejahung der Vielfalt von Lebens- und Glaubensformen ist bereits im neuen Testament begründet. Die Spannung zwischen geglaubter Einheit und sichtbarer Vielfalt, zwischen dem einen Evangelium und der Vielzahl der Kirchen ist und bleibt aber die grundlegende ökumenische Herausforderung.

In den letzten Jahrzehnten haben wir uns dieser Herausforderung zunehmend stärker gestellt und den innerchristlichen Dialog erheblich intensiviert. Deshalb können die Kirchen heute das Modell von „versöhnter Verschiedenheit“ als theologischen und ökumenischen Leitbegriff entfalten und als konkretes Modell gesellschaftlicher Integration vorleben. Parallel dazu haben sich die Kirchen in Gestalt interreligiöser Dialoge auch dem Austausch mit den Angehörigen der anderen Religionen geöffnet. Dieser wichtige Beitrag der Kirchen zur gesellschaftlichen Integration wird durchaus auch auf politischer Ebene registriert und gewürdigt. Ich zitiere als Beleg ein zweites Mal aus der Rede des Bundesinnenministers vom vergangenen September:

„Der gewachsene religiöse Pluralismus in unserem Land bedeutet zunächst eine Herausforderung für die Kirchen und ihre Gläubigen, die ihr Verhältnis zu den Angehörigen der anderen Konfessionen und Religionen in theologischer und gesellschaftlicher Hinsicht bestimmen müssen. Den Kirchen gebührt Anerkennung dafür, dass sie sich diesen Herausforderungen durch das ökumenische Gespräch und den interreligiösen Dialog stellen. Sie leisten damit einen unverzichtbaren Beitrag zur besseren Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft.“

Überträgt man das religiös-theologische Konzept der Einheit in versöhnter Vielfalt auf den säkularen Bereich der Gesellschaft, bedeutet das: Die Verfassung als die nicht disponible Einheit der Rechts- und Werteordnung bildet die Grundlage, auf der sich eine Gesellschaft in kultureller Offenheit und Pluralität entfalten kann. Integration setzt darum das Einverständnis in diese notwendigen Grundlagen des Zusammenlebens voraus, wie sie durch die Verfassung der Bundesrepublik vorgegeben sind. Von daher ist das Grundgesetz gleichermaßen für Zugewanderte wie für hiesige Bürgerinnen und Bürger ohne Einschränkung verbindlich. Ich zitiere den Beitrag des Rates: „Von beiden wird verlangt, dass sie diese Verfassungsgrundsätze als Basis des Zusammenlebens anerkennen. Respekt, Akzeptanz und die Freiheit zu pluralen Lebensformen sind Ausdruck einer offenen und vom Grundsatz her vielfältigen Gesellschaft.“

Dies zu fordern und anzuerkennen ist keineswegs so selbstverständlich, wie es klingen mag. So gibt es z.B. eine organisierte Minderheit unter den Muslimen bei uns, die fordert, Deutschland müsse islamischer werden, wenn eine Einbindung der Muslime ermöglicht werden soll. Ebenso wird auf der anderen Seite gefordert, die christliche Tradition unseres Landes verpflichte zu einer deutlichen Weiterentwicklung ihrer Ursprünge, folglich könnten andere Religionen allenfalls geduldet werden - und das müsse in der Rechtsentwicklung ihren Ausdruck finden. Solche Forderung zur Integrationsbedingung zu erheben, bedeutet nichts anderes, als das hier kulturell bzw. religiös begründete Sonderrechte eingefordert werden. Dem gegenüber stellt der Rechtswissenschaftler Prof. Matthias Rohe aus Erlangen klar: „Es muss ein Anliegen aller Menschen in unserem Land sein, dass unsere Verfassungsordnung als Basis für friedliches Zusammenleben nicht zur Disposition steht. Soweit Muslime Positionen formulieren, die dem entgegenstehen, muss klar sein, dass sie nicht zu dem hierzu Lande akzeptablen Spektrum an Handlungsmöglichkeiten zählen“.

Es ist in diesem Kontext bemerkenswert, dass der Zentralrat der Muslime vor einem Jahr mit der „Islamischen Charta“ erstmals öffentlich Position bezogen hat zu der Frage, wie Muslime zu den Fundamenten des deutschen Rechtsstaates, zu seinem Grundgesetz, zu Demokratie und Pluralismus stehen. Der Rat der EKD hat es gewürdigt, dass hier erstmalig eine Islam Position dargestellt ist, die sich mit den Bedingungen unserer Verfassung auseinandersetzt. Jetzt kann rückgefragt werden, wo es noch an wünschenswerter Klarheit und Deutlichkeit mangelt. Dies betrifft vor allen Dingen die Absage an die Vorstellung von einem Islamischen Staat, die dezidierter hätte erfolgen müssen, sowie auch die Äußerungen zur Gleichberechtigung der Frau. Wichtig hingegen, da im Islam sehr umstritten, ist das Bekenntnis zur Religionsfreiheit. Denn ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben ist in einer pluralistischen Gesellschaft nur möglich, wenn Zugewanderte wie Einheimische Rücksicht auf die Rechte anderer nehmen.

Ich fasse diesen ersten Punkt zusammen: Das republikanische Integrationsmodell einer in der Verfassung begründeten Einheit in gesellschaftlicher Pluralität beruht auf der Gleichberechtigung aller in diesem Staat lebenden Menschen. Mit dem Schlüsselbegriff Gleichberechtigung ist gemeint, dass den zugewanderten Menschen neben den gleichen Pflichten eben auch die gleichen Rechte wie der einheimischen Bevölkerung zuerkannt werden müssen. Der Politikwissenschaftler Jochen Hippler schreibt: "Wenn Migranten (jedoch) auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, wenn sie juristisch Bürger zweiter Klasse bleiben und ihnen der Zugang zu den Universitäten oder dem Bildungswesen insgesamt schwerer fällt, dann wird Integration auch beim besten Willen aller Beteiligten erschwert und verzögert. Gleiche Rechte aller Bürger ist also die Schlüsselvoraussetzung der Integration. Wer seit Jahrzehnten hier lebt, arbeitet und Steuern zahlt, wer schon hier geboren ist und sein Leben dauerhaft in Deutschland führt, kann auf Dauer nicht fremd bleiben, (kann auf Dauer) nicht `Ausländer´ sein."

3. Integration als langfristiger und wechselseitiger Prozess

Von einem wirklich integrationsfreundlichen Klima der Akzeptanz und Toleranz gegenüber zugewanderten Menschen sind wir noch ein gutes Stück weit entfernt. Unbestreitbar wird die ethische, kulturelle und religiöse Pluralität unserer Gesellschaft von einer nennenswerten Zahl von Deutschen nicht als Herausforderung empfunden. Sie müsste, wenn nicht gewünscht, doch selbstbewusst gestaltet werden. Stattdessen fühlen sich viele Menschen verunsichert und sehen sich in ihrer nicht gefestigten Identität und ihrer sozialen Situation gefährdet. Sie sehen – aufgeschreckt auch durch Berichte z.B. über extreme islamistische Gruppen – mit Argwohn die Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten in ihrer Nachbarschaft, und sie fürchten, von diesen an den Rand gedrängt zu werden. Sie verbinden ihre Furcht vor zunehmender Kriminalität mit Cliquen jugendlicher Aussiedler und Ausländer. Sie projizieren ihre Ängste vor Arbeitslosigkeit, vor einer Verschärfung sozialer Konflikte auf Zugewanderte. Die Konsequenz: Offene Gewalttaten gegen Ausländerrinnen und Ausländer sind nur die Spitze des Eisbergs einer nach wie vor verbreiteten Fremdenfeindlichkeit. Seit 1990 kamen in Deutschland fast 100 Ausländer durch Anschläge ums Leben. Diese erschreckende Zahl nennt Karl-Heinz Meier-Braun in seinem letztes Jahr bei Suhrkamp erschienenen Buch "Deutschland, Einwanderungsland". Ohne Polemik, nüchtern und kenntnisreich, aber auch konsequent schonungslos  zeigt Meier-Braun darin die Fehler und Versäumnisse der letzten Jahrzehnte auf. Die Politik hat ein "Ausländerproblem" immer nur herbeigeredet und zum Wahlkampfthema gemacht. Insgesamt hat die Politik, wie ihr von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz im Juli 2001 bescheinigt wurde, zu wenig gegen Rassismus, Antisemitismus, Fremdenhass und Intoleranz unternommen. Daher ist auch zunächst die Politik gefragt, die die Rahmenbedingungen für ein Klima von Akzeptanz und Toleranz zu schaffen hat. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgleich sind die beiden sozialpolitischen Aufgaben mit Schlüsselfunktion. Erfolge auf diesen Feldern beeinflussen entscheidend die Aufnahmebereitschaft der deutschen Bevölkerung.

Allerdings ist der Staat dabei auf Hilfe angewiesen, wie Innenminister Schily unumwunden zugibt, wenn er in Berlin sagte: "Die Integration so verschiedener und quantitativ beträchtlicher Bevölkerungsgruppen ist für beide Seiten eine gewaltige Aufgabe. Der Staat kann sie nicht alleine bewältigen, sondern ist auf tatkräftige Unterstützung durch die Institutionen und Strukturen der Zivilgesellschaft, auf die Hilfsbereitschaft und den Ideenreichtum der Bürgerinnen und Bürger angewiesen." Der Integrationswettbewerb des Bundespräsidenten hat hier ein erfreuliches, phantasievolles und kreatives Engagement in nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen zu Tage gefördert.

Und was die Kirchen betrifft, so haben sie sich in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten sehr stark für Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende engagiert. Sie haben sich sowohl in der Arbeit vor Ort, aber auch mit überregionalen Projekten, Aktionen und Initiativen für ein Zusammenleben eingesetzt, das den sozialen Frieden fördert und die Menschenwürde respektiert. Sie haben immer wieder – durchaus auch an die Adresse der eigenen Gemeinden - ein Umdenken von der Abwehrhaltung gegenüber Menschen anderer Sprache und Herkunft gefordert und sich entschieden gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in allen Bereichen der Gesellschaft gewandt. In den Landeskirchen gibt es eine beachtliche Arbeit zur Integration von Aussiedlern, es gibt Sprachförderungsprogramme über die mit öffentlichen Geldern geförderten Programme hinaus. Interreligiöser Austausch wird gepflegt, vor allem mit Muslimen. Asylgruppen und Flüchtlingsinitiativen leisten wertvolle Starthilfe, ich denke etwa an das Modell der Sprachpatenschaften. Es gibt an vielen Orten Begegnungen zwischen Kirchengemeinden und christlichen Gemeinden ausländischer Herkunft, auch wenn hier noch keinesfalls alles Gold ist, was glänzt. Gerade der Zusammenarbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft kommt aber eine besondere Bedeutung zu. Denn an ihr kann sich in exemplarischer Weise im Raum der EKD und ihrer Gliedkirchen die Bereitschaft zur Anerkennung, zur gleichberechtigten Zusammenarbeit und zur Teilhabe mit Zugewanderten bewähren. Die Aussage in Epheser 2,19 "Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen" ist eine theologische Verpflichtung und eine praktische Herausforderung für den Alltag der Gemeinden zugleich.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Kirchen hatten den Bericht der Unabhängigen Kommission "Zuwanderung" und auch das Zuwanderungsgesetz im großen und ganzen begrüßt, weil ersichtlich wurde, dass die politisch Verantwortlichen endlich die Notwendigkeit für einen grundlegenden Perspektivenwechsel erkannt und daraus wenigstens im Ansatz Konsequenzen gezogen hatten. Nach dem vorläufigen Scheitern des Zuwanderungsgesetzes und vor den kommenden parlamentarischen Auseinandersetzungen besteht jedoch die Gefahr, dass mühsam erzielte Fortschritte wieder zunichte gemacht und alte Fehler wiederholt werden. Schon jetzt geben bestimmte Tendenzen Anlass zur Besorgnis. Zu recht gibt es eine Kritik am Zuwanderungsgesetz, dass es nicht ausreichen würde für die Integration der hier lebenden Ausländer. Das haben die Kirchen immer wieder angemahnt. Jetzt aber würde dieses Defizit bemüht, um das Gesetz zu torpedieren. In letzter Zeit ist häufiger zu hören, vor weiterer Zuwanderung müssten sich erst einmal die in Deutschland lebenden Ausländer integrieren. Es wird die an sich erwünschte und notwendige Integration benutzt, um eine erneute Zuwanderungsblockade zu errichten. Zu vermuten steht, dass hier mit Integration eher die Assimilierung der Migranten gemeint ist, "ihre Einschmelzung in die deutsche Gesellschaft mit folgendem Unsichtbarwerden", wie es Dieter Oberndörfer treffend beschreibt. Anpassungsleistungen werden dabei allein von den Zugewanderten gefordert. Tatsächlich aber setzt die Integration der Migranten in Deutschland wie anderswo Anstrengungen von beiden Seiten voraus. Migranten müssen Deutschland als ihre neue Heimat annehmen und sich zuhause fühlen können. Aber die neue Heimat muss auch bereit sein, die neuen Bürger anzunehmen. Ich wiederhole noch einmal: Integration ist nicht Assimilation. Integrationsförderung ist vielmehr die vorrangige Aufgabe, um Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen ist, der eingesessenen Bevölkerung Mut zur Akzeptanz der Zuwanderer zu machen. Integration hat um so mehr Aussicht auf Erfolg, wenn sie von beiden Seiten als sinnvoller und bereichernder Lernprozess verstanden und angegangen wird. In diesem Sinn begrüße ich den in NRW begonnenen Konsultationsprozess „Integration mit aufrechtem Gang“, an dem sich eine Vielzahl von Initiativen, Migranten-Organisationen, die Gewerkschaften und Kirchen beteiligen. Als erstes Zwischenergebnis sollen Vorschläge erarbeitet erden, die später von den Parteien aufgegriffen und in praktische Politik umgesetzt werden. Hier wird Integration als Prozess beispielhaft ins Werk gemacht und ich hoffe auf Nachahmung in anderen Bundesländern.

Historisch war die Integration von zugewanderten Menschen in vielen anderen Ländern und unter anderen Umständen selten eine Angelegenheit von nur zwei oder drei Generationen. Prozesse des Zusammenwachsens passieren nicht über Nacht und lassen sich nur in begrenzten Maßen beschleunigen. Wichtig ist, dass die Richtung stimmt, dass die Integrationsbedingungen rechtlich und politisch weiter verbessert werden - und dass alle Beteiligten dazu bereit sind.

Das ist mein fester Wunsch und ihr Anteil im ÖVA mit der Unterstützung durch die EKD, die Deutsche Bischofskonferenz und die Griechisch-Orthodoxe Metropolie geben mir Anlass zu hoffen, dass wir erfolgreich sein werden.

Hannover 31. Januar 2003
Pressestelle der EKD