Zwischen Tempel und Markt – Zum Ort der Kirche - Gastvorlesung EFS Bochum im Rahmen des Forums Zukunft der Kirche - Kirche der Zukunft

Manfred Kock

Für was unser Glaube steht und wozu es Kirche gibt

„Zwischen Tempel und Markt“ - die Begriffe des Themas benennen das Spannungsfeld, in dem die Kirche existiert: Tempel –das Symbol für den Innenraum, für den Ort an dem Kirche ihre Kraft schöpft, wo sie hört und anbetet; der Ort für die schöpferischen Pausen und ein Zeichen dafür, dass Rechnen und Hasten und Arbeiten nicht alles sind. Markt bezeichnet die Welt, in die die Kirche gesandt ist. Es ist der Ort, von dem sie nicht stammt, aber an dem sie ist und für den sie da ist. Nicht für sich selbst ist die Kirche, sondern für die Welt. Zu beachten ist, dass der Tempel mit Jesus eine völlige Veränderung seiner ursprünglichen Bedeutung erfahren hat. Tempel ist ursprünglich und in vielen Religionen der abgetrennte, heilige Ort; der Zugang ist nur besonderen, geweihten Personen erlaubt, den Priestern. Bei der Kreuzigung Jesu, so heißt es in den Evangelien, zerriss der Vorhang im Tempel, der Zugang zum Allerheiligsten war frei. Die Schranke zwischen Heilig und Profan ist beseitigt. Nun ist der Tempel der Ort, an dem die Kirche bei sich ist, wo sie anbetet, sich in ihrem Glauben stärken lässt.

Für was dieser Glaube steht, scheint den meisten Zeitgenossen ziemlich unklar zu sein. Ihnen scheint eher wichtig zu sein, wie sie klar kommen mit ihrem Leben:

- ob sie Arbeit behalten oder bekommen,

- ob sie gesund bleiben oder werden,

- wie sie den Frieden in ihren Familien und Freundschaften retten oder wieder gewinnen,

- ob sie anerkannt sind und wie sie mit Kränkungen umgehen.

Weil aber all diese Fragen so schwer zu beantworten sind, erwecken die Menschen den Eindruck, ihr Leben und ihr Interesse kreise im wesentlichen um Arbeit und Unterhaltung, um Genießen und Streiten.

Für was steht unser Glaube?

Manchmal bricht die Frage schon auf. Vor allem wenn unvermittelt Grenzen erreicht sind. Das kann doch nicht alles gewesen sein, dieses Rennen und Hetzen. Es muss doch noch mehr geben, als die oberflächliche Fassade.

Für was steht unser Glaube?

Der Apostel Paulus beantwortet die Frage so (Röm 12, 1-3):

Glauben heißt: Gott loben mit der Praxis des Lebens.

„Ich ermahne euch durch die Barmherzigkeit Gottes!“ Gott hat sein Herz den Menschen zugewandt. Das hatte Paulus in 11 Kapiteln vorher beschrieben.

Barmherzigkeit Gottes, das heißt, er hilft uns liebend zu Recht. Das Lebensschicksal, das ererbte und erworbene Menschenschicksal hängt nicht wie ein Mühlstein um den Hals. Auch  Schwäche und Versagen nicht. Wir sind geliebt und frei. Wir sind erlöst und darum können wir aufrecht gehen. Das neutestamentliche Wort für Erlösung ist bildlich mit der Befreiung von Gefangenen verbunden: Von den Ketten, an die sie gefesselt waren, sind sie befreit worden.

Das, sagt Paulus, das ergreift im Glauben! Und zieht daraus die Konsequenzen!

„Und darum ermahne ich euch“, schreibt der Apostel.

Zieht daraus Konsequenzen, lasst Praxis folgen.

„Gebt eure Leiber einander zum Opfer.“ sagt der Apostel. Das heißt: Gebt euch ganz, mit eurer ganzen Existenz einander zum Dienst. Gestaltet euer Leben entsprechend der geschenkten Liebe und Barmherzigkeit, die ihr erfahren habt.

Die theologische Fachdiskussion entfaltet das – Dank sei Martin Luther – als Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben. In einer bemerkenswerten Diskussion um die Verständigung zwischen römisch-katholischer Kirche und dem lutherischen Weltbund ist der Begriff der Rechtfertigungslehre in den letzten Jahren wieder in das Bewusstsein aller Interessierten gekommen.

Ich kann die speziellen Details der Diskussion hier nicht entfalten. Im ganz einfachen Kern bedeutet Rechtfertigung nichts Vergangenes, die brisante Zukunft entscheidende Erkenntnis unseres Glaubens auf eine einfache Formel gebracht:

Du Mensch, du bist geliebt ohne Vorleistung, das ist deine Würde. Darum gilt die Würde allen Menschen, jedem Einzelnen auf dieser Welt.

Das ist zu preisen in Liedern und in Gebeten. Und warum nicht auch mit feinsinnigsten Formeln dogmatischer Sprachkunst? Das ist auch eine Art des Lobpreises des ganz einfachen Wunders: Wir sind Gottes geliebte Kinder. Er hat alles daran gesetzt, uns das zu schenken. Sich selbst hat er hergegeben bis ans Kreuz.

Dafür steht unser Glaube. Und die Kirche ist dazu da, dass der Glaube gehört, gepriesen und gestaltet wird.

Aus Befreiung entsteht die Aktion der Befreiten

„Passt euch nicht ein in das Schema dieser Welt“, sagt der Apostel. „Erneuert euer Denken und Sinnen.“

Es ist, wenn es um den Glauben geht, eine Befreiungsaktion im Gange. Sie hat zur Folge, dass Christenmenschen sich nicht an das Schema der Welt anpassen.

Diese Welt macht, was machbar ist. Sie heckt aus, was Geld bringt. Wohin diese Welt unterwegs ist, erfahren wir täglich den Medien: „Brave new world – schöne neue Welt“. Die Welt macht sich daran, Menschen nach menschlichem Bilde zu schaffen. Embryos sollen nur heranreifen, nachdem sie genetisch geprüft sind. Obskure Professoren kündigen an, Menschen zu klonen. Der Wahn einer vermeintlichen Unsterblichkeit steckt dahinter.

Gottes Schöpfung muss aber nicht durch Tricks und Manipulation korrigiert werden. Was käme dabei wohl anderes heraus als wieder nur menschliche Hybris und Selbstvergötzung! In dieser Welt sterben täglich hunderttausende Kinder an Mangelernährung und an Hunger. Wie viele Möglichkeiten gäbe es, hier wissenschaftliches Können und menschliche Zuwendung einzusetzen! Aber stattdessen heizen eitle Selbstdarsteller den Wettbewerb um das Superwunschkind an. Passt euch nicht ein in das Schema dieser Welt, die macht, was machbar ist!

Ich will das jetzt nicht ausweiten, obwohl es zahllose Beispiele gäbe. Ich könnte sprechen von einem Urteil aus Köln, das den Lärm von Behinderten für weniger zumutbar erklärt, als das Geräusch eines Rasenmähers. Ich könnte sprechen von den magischen Worten „Sachzwang“ oder vom „Diktat der Öffentlichkeit“. Ich könnte sprechen von den Hunderttausenden von Abtreibungen, die ja nicht alle wegen nicht zu bewältigender Konflikte zustande kommen, sondern weil Kinder als Last empfunden werden. Ich könnte sprechen von all den Lügen der Diplomaten und Geheimdienste, die uns weismachen wollten, zum Krieg im Irak hätte es keine Alternativen gegeben; es war ein frommer Präsident mit seinen Gebeten, der das der Welt  weiszumachen suchte.

Unser Glaube darf sein Fähnlein nicht nach dem Wind der herrschenden Meinung drehen. Passt euch nicht ein in das Schema der Welt!

Nach dem Zusammenhang, den ich aufgezeigt habe, ist das nicht Fluchtweg nach innen, kein Fluchtweg vor der Verantwortung. Die Kirche befreiter Menschen lebt in dieser Welt. Sie hat die Möglichkeit, öffentlich zu wirken über die Medien, über den Religionsunterricht, über die Diakonie. Aber eben nicht im Heutigen ersticken, nicht sagen, bloß weil es die anderen sagen, nicht denken, was alle denken. Die Kirche muss die dahin treibende Gesellschaft unterbrechen!

Passt euch nicht ein in das Schema der Welt.

Ich will wenigstens andeuten, dass dies auch ein gefährlicher Satz ist. Nicht nur weil mangelnde Anpassung auch das Leben gefährden kann, wie die Geschichte der Verfolgungen aufweist. Sich nicht anpassen kann gefährlich sein, weil auch Nichtanpassung missbrauchbar ist. Der Vorwurf, die Kirche verfalle dem Zeitgeist, das ist auch Waffe und Munition gegen alle kirchlichen Äußerungen und Handlungen, die den Geist der Zeit stören. Die Waffe eines Glaubensverständnisses, das sich im warmen Nest der Innerlichkeit verschanzt. Eine Keule in der Hand von Starken, die Zweifelnde und Suchende sprachlos machen und im Glauben Schwache von der Pforte der Kirche abweisen. Heinz Zahrnt hat einmal gesagt: „Der eigentliche konfessionelle Bruch besteht zwischen denen, die fragen und denen, die nicht mehr fragen.“

„Passt euch nicht ein in das Schema dieser Welt.“ Der Satz muss immer einbeziehen, dass wir selber auch Welt sind und bleiben – unentrinnbar, mit all unseren Handlungen, all unsere Tage bis ans Ende der Zeit. Darum ist beim Apostel die Erneuerung unseres Sinnes, unseres Verstandes als ein Prüfen beschrieben. Es geht um urteilsfähigen Umgang mit dieser Welt.

Wir müssen jeweils neu erkunden, was dran ist. Dazu brauchen wir Christen einander, dazu führen wir den Diskurs. Darum ringen wir. Darin werden wir nicht fertig. Darum sind Christenmenschen, wie auch einzelne Gemeinden unzulänglich, wenn sie nur um sich selber kreisen. Sie brauchen die Gemeinschaft.

Immer wieder auf Gottes Barmherzigkeit zurückkommen und sich dabei gegenseitig helfen, dafür steht unser Glaube. Das ist die eigentlich befreiende Botschaft für uns Christen und für die Menschen, die nach dem Glauben suchen. Wir brauchen uns nicht selbst zu überfordern. Es geht auch in den Konsequenzen des Glaubens nicht um Leistung.

Wir führen in uns immer die Auseinandersetzung

- zwischen Schein und Sein,

- zwischen Anspruch und Wirklichkeit,

- zwischen Vorsatz und Erfüllung,

- zwischen Freimut und Getriebensein,

- zwischen Liebe und Egoismus.

Dafür steht der Glaube, dass wir von Selbstüberschätzung frei werden und in der Selbsteinschätzung wachsen. „Nach dem Maß des Glaubens, “ sagt der Apostel. Wir können uns öffnen für das Geschenk des Glaubens und darin wachsen.

Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns erneuern und ändern.

Paulus nennt diesen Prozess den „vernünftigen Gottesdienst.“ Gottesdienst im Alltag der Welt. Er ist nicht an heilige Zeiten und Räume gebunden.
Zwischen Tempel und Markt gilt es, Gott zu loben, der Gerechtigkeit zu dienen und ein Zeichen für die Welt zu sein.

Die real existierende Kirche und der Abbruch der Tradition

Die Kirche, die wir vorfinden und die das Arbeitsfeld derer ist, die in ihr haupt- oder ehrenamtlich arbeiten, ist eine andere Kirche als die, die wir uns von diesen theologischen Einsichten und unserem dogmatischen Verständnis her wünschen. Unser normatives Bild von der Kirche steht in Spannung zu dem Bild, das wir täglich erleben. In dieser Gesellschaft und in unserer historischen Situation ist die Gestalt der Kirche gekennzeichnet durch Merkmale, die es sonst in keiner Region dieser Welt gibt: Noch ist Kirche "volkskirchlich"; sie hat öffentlich-rechtlichen Status, der im Grundgesetz unseres Staates verankert ist. Sie hat das Recht, von ihren Mitgliedern Steuern zu erheben und lässt sich beim Einzug der Steuern von der Dienstleistung des Staates unterstützen; sie wirkt mit im Sozialgefüge unseres Staates als Trägerin sozialer Einrichtungen und Angebote. Aber etwa 30 Prozent der deutschen Bevölkerung rechnen sich keiner christlichen Konfession oder anderen Religionen zu. Fast 40 % der Kinder in unserem Land kennen nicht den Grund für Weihnachten, sagt eine andere Umfrage. Religion kommt in der Erziehung vieler Eltern nicht vor. Väter klagen gegen Kreuze in Schulen, gegen Gebete in Kindergärten. Jeder Heidenspuk findet ernsthaftes Interesse, aber der christliche Glaube scheint niemanden aufzuregen.

Wie wird es weiter zu geben mit der Kirche? „Es kommen härtere Tage", heißt es in einem Gedicht von Ingeborg Bachmann, „`s könnt sein, dass dieser Bär sich losreißt, nicht mehr droht".

Diese härteren Tage könnten übrigens gerade nicht mit der weiteren Verdunstung christlicher Tradition über uns kommen, sondern als die Gespenster des Fundamentalismus in moslemischer und in auch christlicher Gestalt. Jedenfalls nimmt die Entfremdung der Menschen von ihrer Kirche  zu. Mit dem, was Kirche ist und wie sie sich versteht, sind viele nicht mehr vertraut und identisch. Die Ursachen sind vielfältig diskutiert:

Traditionslenkung geht zurück.

Die Ablehnung der Botschaft ist im pluralen Zeitalter nicht durch landesherrliche Machtentscheide zu kaschieren.

Die Lebenswelt ist so kompliziert geworden, dass zwar die Sehnsucht nach bergender Einheit groß ist, aber Kirche im Blick auf die Lösung der weltweiteren Probleme nicht über einheitliche Konzepte verfügt.

Die Emanzipation der Individuen, irdische Folge der befreienden Botschaft Jesu Christi, führt auch zu kritischer Haltung gegenüber der Institution, die diese Botschaft  vermittelt.

Nach dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens hat sich Kirche als Wirkung des göttlichen Geistes konstituiert, wie die alte Pfingsterzählung berichtet.  Der Heilige Geist wurde ausgegossen, die bis dahin Furchtsamen kamen aus ihren Verstecken und trauten sich, von der Botschaft Jesu öffentlich zu reden. Heute bringen viele das lebendige Wirken des Heiligen Geistes mit der Institution Kirche so leicht nicht zusammen; höchstens, um den Mangel an Geist zu beklagen, der sich in der Zerrissenheit der Kirche und in der Schwerfälligkeit der Institution offenbart. Ja, Institution scheint geradezu der Widerspruch zur Kraft des Geistes zu sein, wenn sie als erstarrt, als verknöchert erscheint.

Da werden dann die Gegensätze gegeneinander ausgespielt: Hierarchie gegen Teilhabe der Glaubenden; Macht gegen Liebe; Apparat gegen spontane Gesellung; starre Kultsprache gegen Gefühl und Herzlichkeit, - das gängige Verständnis von Institution  gegen Geist. Und der Vorwurf lautet: Den meisten in der Kirche fehle es an Begeisterung, darum habe sie auch nicht die Kraft, Außenstehende zu begeistern. Dieses Urteil ist nicht von der Hand zu weisen. Begeisterungsschwierigkeiten der Institution sind unübersehbar.

Normalerweise wird Geist immer als das Ungebundene, das Transzendente verstanden. Nach der Bibel ist Geist aber mehr als nur ein Gegenbegriff zur Materie. Der Geist Gottes schafft schon bei der Schöpfung Neues. Durch Gottes Geist werden Propheten bewegt. Aus Geist ist Jesus Christus geschaffen. Durch die Ausgießung des Geistes wird schließlich Gemeinde gebildet. Eine Gabe des Geistes ist die Kirche als ein sichtbarer Leib. Sie ist ein Geschöpf des Geistes. Der Geist ist schöpferische Kraft, also mehr als ein belebendes Element, das nur zu etwas schon Vorhandenem dazukommt. Insofern umfasst der Geist die Kirche und nicht die Kirche den Geist. Der Geist hat durchaus die Freiheit zu anderen Schöpfungen.

Wenn diese Freiheit des Schöpfergeistes beachtet wird, ist eine positive Sicht der  Institution Kirche möglich und nötig. Unter dieser Voraussetzung ist sie nicht die Bedrohung oder das Gefängnis der Freiheit. Sie kann vielmehr ihren hilfreichen und entlastenden Charakter entfalten. Sie nimmt dem Einzelnen vieles ab, damit er in Freiheit leben kann. Die institutionellen Elemente dienen also letztlich dem Ziel, Teilhabe an der Gemeinschaft des Heiligen Geistes zu gewähren.

Mit dem Bekenntnis zu der einen Kirche sehen wir in der bruchstückhaften Gestalt unserer real existierenden Kirche die Gemeinschaft Jesu Christi, die bruchstückhafte Gestalt unserer Kirche in Gemeinschaft mit den vielen anderen Bruchstücken.

Die Selbstverständlichkeit, dass die Mehrheit der Bevölkerung an Kirche gebunden wäre, ist  verloren gegangen. Immer mehr Menschen können oder wollen nichts mehr mit den religiösen Institutionen anfangen.

Bis es zu dieser Situation gekommen ist, gab es viele Anzeichen, dass Kirche auf sie zusteuern würde:

das Versagen zur Zeit der Industrialisierung, als die Kirchen das Verhältnis zu den Industriearbeitern verloren, trotz sehr eindrücklicher Bemühungen, ich erinnere an Wichern und an den Kirchen – Bauboom um die Wende zum 20 Jahrhundert.

Da ist auch die zunehmende Distanz des Bildungsbürgertums, die vor allem im Protestantismus gewachsen ist.

Auch die Identifikation eines großen Teils unserer Kirche mit Nationalismus und völkischer Religion hat die Kirche vie an Vertrauen gekostet.

Schließlich nenne ich noch nicht zu bestreitende Auswirkungen des Rationalismus. Die atheistische Erziehung der DDR hat sich ebenso in das Denken vieler Menschen eingenistet wie die entsprechende Propaganda im Westen Deutschlands.

Dieses sind wesentliche Gründe, die zum Traditionsabbruch geführt haben.

Eine Folge ist der Auszug aus den Kirchen. Er geschieht zumeist schleichend, wie Wasser verdunstet. Die Begründungen sind, wenn sie sich in Briefen und Gesprächen erkennen lassen, sehr gegensätzlich. Es gibt Menschen, die sich stoßen an Versuchen, ganz modern  zu sein, und solche, die Kirche für unheilbar antiquiert halten. Den einen ist sie zu politisch, den anderen zu introvertiert. Den einen redet sie zu viel, den anderen zu wenig über ethische Fragen. Den einen redet sie nur und tut zuwenig, andere werfen ihr vor, sie sei in bloßen Aktionismus verfallen. Kurz – man kann sagen: Jedem Menschen liefert die Kirche Gründe, sie zu verlassen – und das ist das Problem. Denn solche Erscheinung ist nicht der grundsätzliche Abschied von Religion. Im Gegenteil, bei vielen steht im Hintergrund ein Bild vom unüberbrückbaren Gegensatz zwischen sichtbarer Kirche und ihrem Bild, vielleicht ihrem Traum von Kirche.

Für die angespannte Lage der Kirche schildere ich als konkretes Beispiel  eine landeskirchliche Projektplanung. Das Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeaufbau an der Universität Greifswald begleitet die Planung und Entwicklung eines missionarischen Projektes, das die Pommersche Kirche in einem „Hochproblemgebiet“ durchzuführen beabsichtigt. Hochproblemgebiet, das heißt dort: Plattenbausiedlung mit 40 %  Arbeitslosigkeit, Überalterung, Einwohnerschwund (von 20.000 Menschen, die zur Zeit der DDR von Arbeit in der Erdölindustrie lebten, sind ab 1990 40 % weggezogen, nachdem die Industrie nach Westmaßstab als unrentabel galt). 50 % der Schulen werden überflüssig sein.

Zur Kirche gehören 4 % der Wohnbevölkerung. Auch diese 4 % sind nicht allesamt hoch engagierte Christen. Zwei Drittel von ihnen muss man wohl auch zu den Distanzierten rechnen. Seit drei Jahren gibt es keinen Konfirmandenunterricht mehr, weil es keine Konfirmanden gibt. Ich skizziere das nur, Sie können sich Weiteres ausmalen. Ich will nur auf den Beginn des Projektes hinaus, der die dort existierende Kirchengemeinde einbeziehen, vorbereiten und beteiligen möchte.  Die Gemeinde umfasst noch andere Teile der Mittelstadt und Dörfer am Rande – mit 1,5 Pfarrstellen. Bei der Vorstellung des Projektes gab es folgende Reaktionen:

Missionarisches Projekt – sind wir hier denn in Brasilien?

Wir haben doch schon alles versucht.

Wir wollen die Leute auch nicht in unserer Gemeinde haben, sie haben in DDR - Zeiten auf uns herabgesehen.

Die bisherige eigene Arbeit würde disqualifiziert, wenn plötzlich ein solches Projekt angefangen würde.

Die Menschen hier sind so vom atheistischen Sozialismus geprägt, dass man an sie sowieso nicht ran kommt. Und manipulieren oder gar kaufen wollen wir sie doch nicht.

Mission, das ist doch Manipulation, dieses Argument ist deshalb bezeichnend, weil es wie so oft den Missbrauch anführt, um den inneren Widerstand gegen die Sache zu legitimieren.

Ich habe das beschrieben, weil an diesem extremen Fall etwas deutlich wird, was sich an vielen Orten abspielt, wenn Menschen nach neuen Wegen suchen. Und ein Teil der Diskussion über Mission und Evangelisation spiegelt die gleiche Abwehrhaltung, gerade wenn beim Stichwort Mission als erstes von der Gefahr der Manipulation gesprochen wird, nicht von den Menschen, die die Kirche erreichen sollte, sondern innerhalb des Kreises derer, die in der Kirche arbeiten.

Säkularisierung bedeutet nicht das Ende der Religiosität. Traditionsabbruch ist nicht Religionsabbruch. Aber die Verbindlichkeit einer Religionsgemeinschaft wird oft vermieden. Das Individuum macht sich die Religion, die in seine persönliche Bedarfslage passt und bedient sich dabei der Versatzstücke aus dem Arsenal, das der Religionsmarkt zu bieten hat. Mit diesem Phänomen werden Sie sich ja noch in Ihrer Seminarreihe befassen.

Viele meinen, die Kirche solle weniger Ordnung und Recht, aber mehr Liebe ausstrahlen. Sie verkennen aber dabei, daß Regelungen und Strukturen nicht nur einengen, sondern auch schützen.

Folgende Gesichtspunkte verdeutlichen diesen Satz:

Die Kirche stellt ein kollektives Gedächtnis für den Einzelnen dar, in dem Glaubenserfahrungen und Werte bewahrt und weitergegeben werden. Je schwächer die Familien in der Weitergabe der Frömmigkeitstraditionen werden, desto wichtiger wird die Institution. Von ihrem Glaubens- und Erfahrungsschatz werden die künftigen Generationen zehren. Ich nenne es einen rücksichtslosen Umgang mit geistlichen Ressourcen, wenn mit Betonung auf das Individuelle und Persönliche die Orte der Vergewisserung verlassen werden. Die am christlichen Glauben festhalten wollen, aber jegliche Institutionalisierung ablehnen, müssen mit ihrer eigenen Person stets für das Ganze einstehen, auch im Blick auf die kommenden Generationen. Und wer vermöchte das denn?

Diese Botschaft Christi wird allein dadurch, dass sie verkündigt wird – mag sich auch in einzelnen Gottesdiensten nur eine kleine Schar versammeln - immer wieder daran erinnern, dass Menschen nicht einfach Konsumenten, Arbeitsmaschinen oder Außenseiter der Gesellschaft sind. Das zu betonen, ist die aktuelle Aufgabe für die kommende Zeit.

Die Kirche bietet Raum, um den Glauben in Gemeinschaft mit anderen zu leben. Dieses dient nicht der Pflege kleiner, in sich geschlossener Zirkel, sondern der Erfüllung des Auftrags zur öffentlichen Verkündigung, die grundsätzlich für jeden zugänglich sein muss.

Diakonie und Caritas brauchen Mobilisierung und Motivierung der Einzelnen durch die Botschaft. Menschen, die für andere tätig werden, brauchen Stärkung zum Durchhalten; und die Gesellschaft braucht das verlässliche Hilfepotential einer gut organisierten Gemeinschaft und bietet Möglichkeiten, sich im  Haupt- und Ehrenamt für andere zu engagieren. Das ist wichtig vor allem, wo die Hilfesysteme unseres Sozialstaates Lücken lassen. Wer denn, wenn nicht die Kirche, wird in einer kommerzialisierten, am Geld und an Rentabilität orientierten Gesellschaft den Wert und die Würde des Menschen einschärfen, die unabhängig ist von dem, was einer zahlen und zählen kann?

Die Kirche nimmt ein Wächteramt wahr. Regierende und Regierte soll sie an Gottes Gebot und Gerechtigkeit erinnern (Barmen V). Das ist weder für Regierende und Regierte noch für die Kirche immer angenehm. Aber die Gesellschaft braucht starke Gesprächspartner, die in einem wirklichen Dialog sind. Nur so wird der Staat vor einer Ideologisierung oder vor dem Chaos bewahrt. Und positiv gesprochen, nur so wird die Kirche ihrem Auftrag gerecht, Gottes Gerechtigkeit, sein  parteiliches Eintreten für die Benachteiligten anzusagen.

Auch wenn die Gesellschaft nicht danach fragt, braucht sie die Botschaft, die sich dem einzelnen Menschen zuwendet und ihn an die Mitmenschen weist. Ich möchte sogar behaupten, je weniger die Gesellschaft nach dieser Botschaft fragt, umso mehr braucht sie diese.

Es gibt so wahnsinnig viel zu tun in der Kirche. In allen Gemeinden und kirchlichen Gruppierungen arbeiten viele Menschen mit hoher Kraft. In vielen evangelischen Gemeinden ist trotz guter personeller Situation die Fülle der Aufgaben gewaltig, Es gibt tröstende gegenseitige Ermutigung.

Der Ruf nach professioneller Öffentlichkeitsarbeit 

Zwischen Tempel und Markt ist der Ort der Kirche. Markt habe ich bisher als Synonym für Welt und Öffentlichkeit gebraucht. Der Begriff lenkt aber auch auf das, was auf dem Markt im Speziellen und in der Hauptsache geschieht. Es wird gehandelt, es wird verkauft und gekauft, und das geschieht heute nicht nur auf beschaulichen Plätzen. Markt ist ein gigantisches, Welt  umspannendes Geschehen, zum größten Teil heute virtuell organisiert, bei dem mit Knopfdruck Milliarden Dollar oder Euro oder Yen um den Erdball geschickt werden.

Wie das die Kirche zu bedenken hat, ist heute nicht mein Thema. Über die finanzielle Lage der Kirche, über Chancen und Schwierigkeiten werden Sie zudem in einer späteren Seminarsitzung nachdenken. Ich möchte aber in Aufnahme des Begriffes Markt über die Vorschläge zu einer professionellen Unternehmensberatung und besseren Öffentlichkeitsarbeit sprechen, die der Kirche immer wieder gemacht werden.

Mit den ersten, mit wissenschaftlichen Methoden erarbeiteten Befragungen ihrer Mitglieder hat die evangelische Kirche selber unternehmerische Mittel eingesetzt, um die Veränderungen des Mitgliederverhaltens zu untersuchen.
Man ruft nach Beratung von Firmen, deren Erfahrung in der Begleitung anderer non-profit-Organisationen ausgewiesen ist. Dem kam entgegen, dass kirchentreue Unternehmer und Unternehmerinnen - oft genug von Kirchenleuten schlecht behandelt - ihrerseits ihre Fähigkeiten und Einsichten anboten, um ihrer Kirche in schwieriger Lage zu helfen.

Richtig daran ist Folgendes:

Die institutionelle Kirche hat Handlungsgesetze zu beachten wie Unternehmen, vor allem solche im so genannten non-profit-Bereich. Sie bietet Dienstleistung für Menschen; sie braucht daher qualifiziertes Management; ihre Personalpolitik muss insoweit unternehmerisch ausgerichtet sein, denn Menschen arbeiten gemeinsam nur sinnvoll, wenn sie sich gemeinsamen Zielen verpflichtet sehen, sich auf abgestimmte Arbeitsschritte verständigen und diese auch auf Erfolge hin bewerten.

Kirche braucht eine gute Öffentlichkeitsarbeit, um ihre Stärken und Kompetenzen deutlicher herauszustellen.

Was Kirche anbietet, kann als ein "immaterielles Produkt" bezeichnet werden, dessen Gestalt um suchende, fragende Menschen  bemüht sein muss, nennen wir das ruhig: Kundenorientierung.Da die Arbeit der Kirche in unserem gesellschaftlichen Kontext auch von den finanziellen Möglichkeiten abhängt, ist Rechenschaft zu geben, ob die Mittel zielorientiert und effektiv eingesetzt werden.

Unter dem Stichwort "Innovation" werden Verfahren angeboten, um die kirchliche Binnenstruktur, die kirchlichen Äußerungen und Handlungen so zu gestalten, dass sie den oben beschriebenen Aufgabenstellungen besser gerecht werden. - Solche Innovationen, sagen die Befürworter, müssen dringend auf das ganze Feld der Kirche ausgedehnt werden, denn die Erosion hat eine sich steigernde Dynamik erreicht, die für den institutionellen Bestand der Kirche und für die Ausrichtung ihres Auftrags bedrohlich geworden ist.

Nun müssen wir aber darauf achten, dass wir nicht in Fallen tappen.

Durch die beschriebene Übernahme wirtschaftlicher Kategorien soll  aber offenbar viel mehr erreicht werden.

Die Kirche hat kein "Produkt", das durch wirtschaftliche Bemühungen an die Menschen gebracht werden könnte. Es geht um geistliche Prozesse. Die sind menschlicher Strategie nicht verfügbar, vor allem, weil sie auf den Glauben der Mitarbeitenden angewiesen sind und nicht auf antrainierte, lächelnde Stromlinienform.

Selbstverständlich ist wirtschaftlicher Umgang mit den kirchlichen Mitteln geboten. Aber unternehmerisches Handeln ist viel mehr als gebotene Sparsamkeit und transparente Organisation. Weniger Geld heißt: Zwang zu Kostensenkungen. Wenn wegen Einnahme-Rückgang die Kosten gesenkt werden müssen, ist es erforderlich, sich über Kriterien zu verständigen. Der Ruf nach dem "Eigentlichen" wird wieder laut. Was ist das Eigentliche? Im Bewusstsein von innen oft das Handlungsfeld für Ortsgemeinden. Und hier besonders die Arbeit, die sich an die 15-20 % Überzeugten richtet. Ich kann das verstehen. Christen brauchen Bestärkung und regelmäßigen Trost. Angesichts unterschiedlicher Erwartungen der verschiedenen Gruppen innerhalb der Kirche ist die Versuchung groß, als Pfarrer/Pfarrerin sich an die Gruppe in der Gemeinde zu halten, die mit dem eigenen Kirchenbild bzw. dem eigenen Kirchenverständnis am nächsten verwandt sind. Das wird eher eine Gruppierung der Engagierten sein, die mit Ernst Christen sein wollen und ihre Kirchenzugehörigkeit im Sinne der Gliedschaft am Leibe Christi verstehen - seien sie nun evangelikal, sozialethisch oder gesellschaftspolitisch oder bewusst traditionell kirchlich bestimmt. Die Amtshandlungen an den anderen werden dann routinemäßig bis widerwillig ausgeführt, weil sie als bloßes Ritualbedürfnis gelten. Das ist sicher verallgemeinernd und überspitzt formuliert und trifft ebenso sicher weder für alle und jeden, noch für alle Gemeinden zu; was man aber in manchen Gemeinden mitbekommt: So mancher Streit hat hier seinen Grund.

Flächendeckende Präsenz von Verkündigung und pastoralen Angeboten hat in sich selbst schon Stärkendes für die Ansage des Evangeliums in der Welt. Dennoch ist dringend darauf zu achten, dass nicht ausgerechnet die meist überörtlichen Arbeitsfelder für "Distanzierte" dabei wegrationalisiert werden: Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt, Akademie-Arbeit, City-Arbeit usw.

Die Sammlung und Stärkung der Ortsgemeinden darf nicht zu einer Aufkündigung von Bestandsschutz für diakonische Angebote und zum Abbruch missionarischer Weggenossenschaft führen.

Die Bevölkerung unseres Landes ist in zunehmender Migrationsbewegung - innerhalb der Bundesgrenzen und von außen her. Das würde - nur aus dem Blickwinkel der Ortsgemeinden betrachtet - unzureichend wahrgenommen. Die „subkulturellen“ Arbeitsformen brauchen weiter Raum und Ressourcen.Daher muss die Kritik an kirchlichen Unternehmensstrategien gehört werden, wo sie zu recht fürchtet, bei der Suche nach Einsparmöglichkeiten würden überproportional gerade die Dinge abgebaut, die in den letzten Jahrzehnten die Öffnung der Kirche zur Gesellschaft bezeichneten.

Unter Beachtung der folgenden beiden Voraussetzungen allerdings können die oben genannten  Vorteile unternehmerischen Denkens genutzt werden:

Die Kirche darf ihre Geschichte und ihre gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht kaschieren. Sie muss auch die dunklen Anteile ihrer eigenen Machtgeschichtebearbeiten, statt sie zu verdrängen. Dabei hat sie durchaus imagefördernd die Chance, auch die guten Beispiele ihrer  Geschichte - ihre Heiligen und  Vorbilder – herauszustellen.

Die Botschaft selber wird/muss anstößig bleiben. Der Mann am Kreuz steht für den Gott des Rechts, und sein Recht ist parteilich. Die Visionen der Propheten und Prophetinnen aus diesem Geist stehen gegen die Bedürfnisse nach Ruhe und Leidfreiheit. Ihre stärkende Kraft haben sie erst durch die Verheißung eines überzeitlichen Ziels. Dieses glaubend zu ergreifen, bewahrt nicht vor den Leidstrukturen dieser Welt, sondern vermittelt ihren Trost dadurch, dass zur Annahme des Kreuzes eingeladen wird.

Jürgen Fliege hat der Kirche einmal 150 Ratschläge erteilt. Viele sind gut und beherzigenswert. Aber eine seiner Ideen ist entlarvend. Er sagt: Die Menschen brauchen eine Kirche zum Wohlfühlen, eine Kuschelkirche. Darum solle man das Kreuz aus den Kirchen entfernen; die Kreuzigungsgeschichte sei grausam und bedrückend, das schrecke Menschen ab  Ein Marketing, das zu solchem "Dienst an ein weiches Sinnbedürfnis" (F. Steffensky) rät, verdirbt den Grund der Botschaft. Es raubt den Adressaten, den Leidenden, ihre Hoffnung, die gerade in der durch das Kreuz symbolisierten Nähe Gottes zu ihrem Leid gründet.

Wo unternehmerisch gedacht und gehandelt wird in unserer Kirche, muss diese Falle vermieden werden. Denn in der Botschaft vom Kreuz ist das "Unternehmensziel" beschrieben, dem alle auf den Bestand des Unternehmens bezogenen Teilziele unterzuordnen sind.

Wenn Kirche für sich wirbt, benutzt sie eines der wesentlichen Regulative marktwirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Damit lässt sie ihre Botschaft unter dem Mechanismus konkurrierender Mächte erscheinen. Das ist vom Selbstverständnis unseres Glaubens her unmöglich. Wir sind überzeugt, dass unser Glauben konkurrenzlos ist. In den Augen der Außenwelt sind wir aber - mit anderen - konkurrierende Anbieter.

Daher bedarf es von Seiten der Kirche deutlicher Gesprächsangebote. Sie dürfen nicht manipulieren und vor allem nichts versprechen, was nicht zu halten ist.

Hier stoßen wir auf eines der komplizierten Innenprobleme unserer Kirche: Wir sind zwar durch Schrift und Bekenntnis als Kirche konstituiert. Aber das Verständnis darüber unter uns ist strittig. Einladung an Menschen zu Suchprozessen in die Gottesdienste und Veranstaltungen begegnet nicht nur offenen Armen. Oft sind hohe Hürden der Sprache, der Dogmatik und der Moral aufgetürmt.

Eine der wichtigen Forderungen aus der unternehmerischen Kultur ist, "einladend und offen sein". Das stößt sich allerdings mit dem Erscheinungsbild. Oft stehen Arbeitsformen und Kommunikationsfähigkeit der Mitarbeitenden gegeneinander. Das ist besonders schlimm, wenn Verabredungen für einheitliches Vorgehen nicht eingehalten oder unterlaufen werden.

Ich bin überzeugt, Unternehmensstrategien müssen auf Vielfalt setzen. Für die evangelische Kirche ist daher Pluralität eine wichtige Voraussetzung ihrer Wirkung in unserer gegenwärtigen Situation.

Gerade die Vielfalt aber macht Orientierung und Verpflichtung der handelnden Personen und der kooperierenden Gemeinden auf gemeinsam verabredete Schritte erforderlich. Solche Verbindlichkeiten widersprechen dem Evangelium nicht.

Auch Fleiß und Kompetenz sind kein Widerspruch zur Gabe des Geistes, und der Satz "den Seinen gibt's der Herr im Schlaf", ist keine Rechtfertigung der Faulheit.

Schlechte Predigten müssen kritisiert werden.

Ein unwürdiges Betriebsklima kann verbessert werden.

Gemeindestrukturen dürfen nicht ewig die gleichen bleiben.

Leitungskompetenz für Pfarrer/Pfarrerinnen kann wesentlich verbessert werden.

Kommunikationsfähigkeit kirchlicher Gremien kann man trainieren.

Darin bieten Unternehmensberatungen heilsame Hilfen, ja sie sind unerlässlich. Eine Fülle von hausgemachten Defiziten könnte beseitigt werden. Daher wiederhole ich einen alten Satz: Kirche, die sich nach außen wendet, darf ihre Mängel nicht kaschieren, sondern muss Buße tun und sich dadurch bessern. Nur so wird sie glaubwürdig!

Zusammenfassend:

Die Arbeit der Kirche kann, ja muss sich im oben beschriebenen Sinn unternehmerischer Formen bedienen, aber die Kirche geht darin nicht auf. Sie ist selber Gegenstand des Glaubens. Ihr Wesen ist unabhängig von der Gestalt und nicht mit soziologischen und ökonomischen Kategorien zu beschreiben. Biblische Bilder, wie Leib Christi oder wanderndes Gottesvolk oder Gemeinschaft der Heiligen als Beschreibung von Kirche weisen auf eine überinstitutionelle Wirklichkeit.

Die jeweilige Gestalt der Institution steht immer zur Disposition. Sie ist Wandlungen unterworfen. An diesem Prozess sind wir in der Kirche beteiligt: bremsend, fördernd, leidend, - durch unser Handeln oder Nichthandeln. Aber er ist vielleicht sogar eher noch von der Dynamik des außerhalb der Kirche stattfindenden gesellschaftlichen Wandels abhängig.

Die beiden Seiten der Kirche, ihre institutionelle Gestalt und ihre geistliche Wirklichkeit, sind nicht dergestalt zu unterscheiden, dass für die eine Seite, die institutionelle, die unternehmerischen Kategorien anzuwenden wären, ohne dass die andere Seite davon berührt würde.

Kirche kann nicht das "Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen" (Barmen VI). Auch im Bereich des Institutionellen sind wir Jesus Christus zu Eigen und nicht anderen Herren (Barmen II).

Im Anerkenntnis dieser Wesensbestimmung muss Kirche aber ihre institutionelle Gestalt im jeweils historischen Kontext nutzen. Wollte sie zunächst ein abstraktes geistliches Gebilde beschreiben und auf dieses hin ihre Arbeit konzipieren, würde sie die Hürde der Zeit schwärmerisch überspringen und ihren konkreten irdischen Auftrag verfehlen. Deshalb brauchen wir auch soziologischen und ökonomischen Sachverstand für kirchliche Arbeit. Wir haben darin Hilfe zur Analyse vor allem der kommunikativen Bedingungen, auf die die Botschaft trifft.

Erwartungen der Gesellschaft an die Kirche und was die Kirche zu bieten hat

Trotz des häufig auftretenden Desinteresses gibt es gleich bleibende, wenn nicht gesteigerte Erwartungen an die Kirchen. Sie sollen ihre Rolle für die Wertorientierung in der Gesellschaft eher noch entschlossener als bisher wahrnehmen. Diese Erwartung stützt sich auf das anerkannte soziale Engagement, wie auf das relativ hohe Ansehen der Kirche in der Zeit der politischen Wende.

Kirchen können Obdach sein, können so etwas wie ein geistliches Asyl sein für Menschen, die auf der Suche sind. Kirche muss Orte und neue Formen des spirituellen Erlebens bieten, ohne in voraufklärerische Mythisierungen oder psychodemagogische Manipulationstechniken zu verfallen.

Komplizierte Fragen müssen transparent gemacht werden; kirchliche Institution muss Fragen wach halten und kann dabei Ratlosigkeit eingestehen, darf nicht besserwisserisch moralisieren; sie kann zu langem Atem ermutigen, weil ihre Botschaft Hoffnungsdimension hat.

Die Kirchen sind Anwältin der Freiheit. Sie haben den gesellschaftlichen Pluralismus, gegen den sie sich in ihrer Geschichte oft genug gesperrt haben, heute ausdrücklich zu hüten. Sie dürfen nicht fundamentalistischen Einheitsvorstellungen verfallen. Sie müssen Verfechterin sozialer und individueller Freiheit bleiben.

Natürlich bleibt es die Schwäche der Kirchen, dass sie eine Kulturströmung unter anderen repräsentieren. Sie liegen miteinander und mit anderen in Konkurrenz. Konsensfähig sind sie insgesamt nur in wenigen Punkten. Aber die Kirchen sind ein Schatz in einer Gesellschaft der Säkularisation, und dieser Schatz entfaltet sich als Befreiung und als Streben nach weltweiter sozialer Gerechtigkeit. Die Geburtsurkunde der Kirche, die Heilige Schrift, gibt Gott zu erkennen als den, der die Menschen öffnet und aufeinander zu bewegt.

Die Umbruchsituation ist voller Chancen. Wir brauchen Aufbruch, nicht Abbruch. Wir brauchen Umkehr, nicht Rückkehr.