Bürger zweier Welten? Christen in der Politik

Manfred Kock

Johannisempfang in Berlin

I.
Vom Engagement der Christen in der Politik soll die Rede sein. Und umgekehrt: Wie Männer und Frauen mit dem Erfahrungsschatz, den sie in politischer Verantwortung gewonnen haben, in unserer evangelischen Kirche verantwortlich mitarbeiten.

Der Anlass zu diesem Thema ist schon benannt: Der ehemalige Bundesminister Dr. Jürgen Schmude hat nach drei Amtsperioden, also nach 18 Jahren, sein Amt als Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland abgegeben. Der Dank ist ihm und auch den anderen ausgeschiedenen Mitgliedern des Präsidiums ausgesprochen worden.

Ich möchte diesen Dank nicht einfach wiederholen, sondern ihn mit diesem Vortrag abstatten, der - in diesem Rahmen gewiss unvollkommen - das Wirken von Deutschen in zwei Welten, der Kirche und der Politik beschreibt.

Es geht mir um die Würdigung dessen, was wir im kirchlichen Sprachgebrauch den 'Gottesdienst im Alltag der Welt' nennen(1), also um die vor Gott verantwortete, dem Menschen dienende Lebensgestaltung.

Damit ist deutlich, dass diese Würdigung nicht nur den politischen Beruf einbezieht. Es geht um die vielen anderen, die ihr Christsein im Beruf bewähren und sich zugleich in unserer Kirche engagieren: Rechtsanwälte, Journalisten, Arbeiter, Ärzte, Handwerker, Beamte, Kaufleute, Wissenschaftler, Hausfrauen, Jugendliche, Alte.

Wenn ich im Folgenden exemplarisch vom Beruf der Politikerin, des Politikers spreche, so möchte ich zugleich all denen Respekt und Anerkennung aussprechen, die mit der Bezeichnung „Berufspolitiker“ sonst so oft nur negativ bewertet werden. Wie ja auch manche meinen, es sei auch im Blick auf die Institution Kirche schon alles gesagt, wenn man in ihr hauptamtlich Mitarbeitende als 'Berufschristen' etikettiert.

II.
'Beruf' hat in seinem eigentlichen Sinn eine positive Bedeutung, die immer wieder einzuschärfen ist.

Jürgen Schmude hat als Mitglied der Kammer für Öffentliche Verantwortung an der Erarbeitung der Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985 mitgewirkt. Sie trägt den Titel "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe"(2). 

Einer der Schlüsselsätze dieser Denkschrift lautet: "Nach evangelischem Verständnis gehört die politische Existenz des Christen zu seinem weltlichen Beruf."(3) Das Wort "Beruf" ist hier nicht nach üblichem Sprachgebrauch die Bezeichnung für eine jeweils ausgeübte Erwerbstätigkeit oder Ausbildung.

"Beruf" ist hier - wie Dietrich Bonhoeffer in Aufnahme der reformatorischen Tradition gesagt hat - der  "Ort der Verantwortung"(4) und der verantwortlichen Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen.

In diesem Sinne sind alle Menschen die Adressaten von Gottes Berufung, können ihre Gaben als Gottes Geschenk erkennen und haben auf Gottes Gebot zu hören(5).

In der Denkschrift heißt es: "Im Beruf kommen nach evangelischem Verständnis seit Luther eine weltliche Aufgabe und die Verantwortung vor Gott zusammen."(6) Damit ist die Instanz im Blick, gegenüber der Verantwortung wahrzunehmen ist. Eine Dimension menschlichen Tuns wird aufgezeigt, die über den einzelnen Menschen hinausgeht. Berufung hat mit Begabung zu tun und damit, wie die Berufenen ihre Gaben entfalten.

Weil Machterwerb und Machterhalt für das politische Mandat eine Rolle spielen, wird ein Korrektiv benötigt, das davor bewahrt, Politik zum Selbstzweck werden zu lassen. So mahnt die Demokratie-Denkschrift: "Christen müssen im politischen Prozess dazu beitragen, dass die Gegensätze sachlich und fair ausgetragen werden und dass ein Raum gegenseitiger Anerkennung erhalten bleibt, in dem die Politiker einander menschlich begegnen können." Christen sollen "die Kraft der Liebe in die politische Wirklichkeit einbringen".(7) Sie sollen "besonders sensibel sein, vor allem, wo es um das Eintreten für Schwache geht; sie sollen die von ihnen erkannte Wahrheit über den politischen Ehrgeiz stellen"(8).

Die harte Diskussion um die Reformen des Sozialstaates zeigt es: Wir brauchen keine Taktiker und keine Trickser, wir brauchen Menschen, die die konstruktiven und schöpferischen Seiten ihrer beruflichen Motivation einbringen.

III.
"Bürger zweier Welten?" Die Themenstellung ist mit einem Fragezeichen versehen. Lassen Sie mich das Fragezeichen begründen: Nicht selten habe ich von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die zugleich in unserer Kirche mitarbeiten, gehört, dass sie sich als Mitglied einer Synode oder einer Kammer oder Kommission der Kirche in eine andere Welt versetzt fühlen. Richard von Weizsäcker, wie Jürgen Schmude lange Jahre Mitglied der Kammer für Öffentliche Verantwortung und des Rates der EKD, schreibt in seinen 1997 veröffentlichten Erinnerungen über seine politische Mitarbeit in kirchlichen Gremien: "Sie waren oft eine Ermutigung für uns, zuweilen auch eine Erholung gegenüber der Atmosphäre in unserem professionellen politischen Alltag"(9).

Über diese Anerkennung möchte man sich freuen. Denn auf der anderen Seite gibt es immerhin auch die Beobachtung, dass in der Kirche unter dem Deckmantel der christlichen Nächstenliebe manchmal erbittert und unversöhnlich um die Durchsetzung von Standpunkten und Interessen gestritten wird.

Es wird wohl an beiden Erfahrungen etwas richtig sein. Darum ist es notwendig, deutlich zu machen, in welchem Sinn hier von zwei Welten gesprochen wird.

Unsere Kirche ermutigt ihre Gemeindeglieder, sich politisch zu engagieren, und sie nimmt den ehrenamtlichen Dienst von Menschen in politischer Verantwortung in Anspruch. Damit wird jener Position widersprochen, die beide Bereiche völlig voneinander getrennt sehen möchte. Es ist in der Geschichte unserer Kirche und für das Gemeinwesen verhängnisvoll gewesen, die Verantwortung für das Gemeinwohl ausschließlich der Obrigkeit, dem "Führer", dem Staatsapparat zuzuschreiben und vom einzelnen Christenmenschen schlichten Gehorsam zu verlangen. Die Verantwortung für das Gemeinwesen tragen die einzelnen Menschen mit; sie dürfen sie nicht auf den Staat abwälzen. Johannes Rau hat in einem Gespräch mit Friedrich Schorlemmer gesagt: "Wenn die Menschen aufhören, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen - und genau das bedeutet Demokratie! - dann gewinnen Mächte über uns Gewalt, die der Demokratie nicht förderlich sind."(10)

Damit aber sind sie all den schweren Fragen der Zeit ausgesetzt, auf die so schwer Antwort zu finden ist:

  • Wie gewinnen wir Sicherheit angesichts der Globalisierung terroristischer Gewalt und worin besteht unsere friedensethische Verantwortung?
     

  • Welches Bild vom menschlichen Leben, bewahren wir angesichts gentechnischer Möglichkeiten?
     

  • Wie werden wir der kulturellen und ökologischen Verantwortung für nachkommende Generationen gerecht?
     

  • Welche Entscheidungen sind nötig, um angesichts der demografischen Entwicklung die Sozialpflichtigkeit von Eigentum und die soziale Leistungsfähigkeit unseres Staates zu wahren?

  • Was gibt tragenden Boden unter unsere Füße, „wo Wahn die Weisen treibet und Trug die Klugen prellt“? - wie es in einem unserer Kirchenlieder  heißt.

Die Antworten auf diese Fragen wären einfacher, wenn unsere Welt überschaubarer wäre. Das ist sie aber nicht. Daher ist es gut, auch Bürger/Bürgerinnen einer anderen Welt zu sein.

Der Apostel Paulus bietet dafür das anschauliche Beispiel. Nach dem Bericht der Apostelgeschichte des Lukas konnte er bei einem Verhör sagen: „Ich bin ein römischer Bürger“. ( Apg 16, 37; 22, 28). Dieses Bürgerrecht hat ihn, soweit die Instanzen sich daran hielten, vor der Folter geschützt. Doch das Bekenntnis zu solcher Staatsbürgerschaft hat ihn nicht gehindert, der Gemeinde in Philippi in seinem Brief aus dem Gefängnis heraus einzuschärfen: „Unser Bürgerrecht ist aber im Himmel“ (Phil 3,20).

Der Christenmensch ist also im Glauben dem Herrschaftsbereich Gottes zugehörig. Sein Leben, das vor Augen liegt, vollzieht sich ganz und gar in der Welt, aber es geht darin nicht auf. Damit ist eine Freiheit eröffnet, die scheinbare Zwangsläufigkeit geschichtlicher Prozesse zu verlassen und neue Wege zu wagen - und zugleich das Unlösbare als das Vorläufige auszuhalten.

Auch die erfahrbare Kirche ist nichts anderes als ein Stück Welt. Sie unterscheidet sich vom Rest der Welt allerdings in dem Einen: dass sie um jene andere Welt, um die Wirklichkeit des Glaubens, weiß und auf sie ausgerichtet ist.

IV.
Christen in der Politik sind zugleich auch Politiker in der Kirche, denn Christ sein kann man nicht außerhalb der Gemeinschaft - wie immer die Beziehung zur Kirche im Einzelfall gestaltet sein mag. Die Kirche kann für das Gemeinwesen nur ein relevanter Partner sein, weil und sofern Christen in der Politik bewandert sind und ihre Kompetenz auch in die Arbeit der Kirche einbringen.

Unsere Kammern und Kommissionen - nicht nur in der EKD, sondern auch in den Landeskirchen - auch die Synoden und Presbyterien beziehen ihre zivilgesellschaftliche Kompetenz ganz wesentlich aus dem, was Christen aus der Politik, der Wirtschaft, den Medien und anderen Bereichen als Berufserfahrung und Fachkompetenz in kirchliche Beratungen einbringen. Der mit der „doppelten Bürgerschaft“ verbundenen Wechselwirkung ist zu verdanken, dass Entscheidungen und Stellungnahmen der Kirchen nicht an den Realitäten vorbei gehen. Umgekehrt gilt: Dass die Politik die Kirchen nicht nur anhört, sondern dass sie auch versteht, was sie sagen, liegt ganz entscheidend an jenen Dolmetscherinnen und Dolmetschern des Glaubens im Bereich der Politik, die den Zungenschlag kirchlicher Verlautbarungen kundig und einfühlsam übersetzen können.

Was Jürgen Schmude betrifft, so hat er noch in jüngster Zeit bei einer der wichtigen Fragen unserer Zeit mitgearbeitet, nämlich bei der Zuwanderungspolitik. Der entsprechenden Regierungskommission hat er ausdrücklich nicht als Vertreter der evangelischen Kirche angehört, sondern als politischer Sachverständiger - und war darin gerade in seinem kirchlichen Profil erkennbar. Dass uns bis heute immer wieder solche Brückenbauer geschenkt wurden, die für die Kirche wie für die Politik ein Segen waren und sind, ist allemal ein Anlass zum Dank.

V.
Gott in beiden Welten fröhlich zu dienen, in denen man Heimat hat und Bürgerrechte genießt, das läuft nicht auf eine Verdoppelung der Belastung von Christen in der Politik hinaus, sondern auf eine doppelte Entlastung: Die Welt ist schon gerettet, darum können sich Politikerinnen und Politiker getrost auf die Kunst des Möglichen konzentrieren.

Gott sei Dank müssen wir Gerechtigkeit nicht erfinden. Sie ist uns - wie so vieles andere, was wir zum Leben und zum gelingenden Zusammenleben brauchen - in der jüdisch-christlichen Überlieferung vorgegeben. Von daher lassen sich verlässliche Maßstäbe gewinnen zur Bewertung unseres Lebensstils, unserer Bildung und unserer sozialen Verantwortung.

Zweihundert Jahre nach der mit dem Regensburger Reichsdeputationshauptschluss (25. Febr. 1803) eingeleiteten Säkularisation, nach Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud wird das Thema "Religion" wieder aktuell und verbindet sich mit all der Sehnsucht nach Geborgenheit und Verbindlichkeit, aber auch mit all den Ängsten, die ein unvermittelter Zusammenprall höchst verschiedener Kulturen auszulösen vermag.

Christen in der Politik sehen dies alles nicht als hinzunehmendes Schicksal, sondern als eine Chance zur Sinnstiftung und als Herausforderung zur politischen Gestaltung von Entwicklungsprozessen, die, wenn man sie sich selbst oder radikalen Agitatoren überlässt, tatsächlich zur Gefahr für den Frieden werden. Politiker in der Kirche helfen, den nüchternen Blick für das Machbare auch dort zu behalten, wo die Fülle der Probleme die politisch Ungeübten mutlos machen würde.

Johannes Rau ist in dem erwähnten Gespräch von Friedrich Schorlemmer gefragt worden, ob das Christsein politisches Handeln nicht noch mühsamer und verletzbarer mache. Darauf hat er geantwortet: "Ja, verletzbarer schon, aber nicht mühsamer." Und er hat dann erinnert an Hanna Ahrendt, die große jüdische Philosophin, die gesagt hat: "Politik ist angewandte Nächstenliebe, angewandte Liebe zur Welt."
So sei allen denen gedankt, die in diesem Sinne politische Verantwortung wahrnehmen und von denen viele am heutigen Abend der Einladung des Bevollmächtigten der EKD gefolgt sind.

Fussnoten:

(1)  (vgl. Röm 12,1-3)

(2)  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh 1985/ 4. Aufl. 1990

(3)  a.a.O. S. 22

(4)  D. Bonhoeffer, Ethik, 1998, Hg. von Ilse Tödt u.a., S. 289 ff

(5)  Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Band III, 4, S. 533.

(6)  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. S. 22

(7)  a.a. O. S. 24

(8)  a.a.O. S. 23

(9)  vgl. R.v. Weizsäcker, "Vier Zeiten", 1997, S. 186

(10)  Johannes Rau in "Lebenswege" hg. von Friedrich Schorlemmer, 2000, S. 362.

(11)  EG Lied Nr. 357,1

(12)  a.a.O. S. 363