"Es ist zum Ungläubigwerden ..." - Zur Rolle der Religionen in den aktuellen Konflikten

Manfred Kock

Französiche Friedrichstadtkirche zu Berlin

Ansprache beim Johannisempfang des Bevollmächtigten des Rates der EKD in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin


Verehrte liebe Gäste, meine Damen und Herren,

zur Rolle aller Religionen in den aktuellen Konflikten möchte ich sprechen. Der Anlass eines solchen Empfangs nötigt zu einer Kürze, die dem Thema sicher nicht angemessen ist. Ich hoffe aber, einige Anstöße zum Weiterdenken zu geben.

Vor ein paar Wochen hat Gustav Seibt in der Besprechung des neu erschienenen Buches von Bernard Wasserstein über Jerusalem folgende Summe gezogen: Nachdem man die Geschichte Jerusalems zur Kenntnis genommen hat, mag man "einen Namen nicht mehr hören: den Namen Gottes. Wassersteins Buch ist zum Ungläubigwerden, und recht aus Herzensgrund möchte man einem chinesischen UN-Delegierten zustimmen, der 1947 anregte, man möge die heiligen Stätten Jerusalems 'einem philosophischen Atheisten mit Menschenfreundlichkeit' unterstellen" (Süddeutsche Zeitung vom 4. April 2002, S. 16).

I
Diese Formulierung trifft eine weit verbreitete Stimmungslage. Wo man hinschaut in der Welt, sind die aktuellen Konflikte mit religiösen Motiven verwoben: im Nahen Osten, auf dem Balkan, auf dem indischen Subkontinent, auf den Philippinen, in Nordirland usw. usw. ... Bei manchen verfestigt sich der Eindruck, die Welt würde friedlicher werden, wenn es nur gelänge, den Faktor Religion auszuschalten.

Das ist zwar allzu simpel gedacht. Denn auch sogenannte religionslose, vorgeblich auf Vernunft gegründete Systeme können maßlos und fanatisch sein, wie der jakobinische Terror in Folge der Französischen Revolution und wie der Stalinismus es gezeigt haben. Aber es lässt sich - leider Gottes ! - nicht leugnen, dass es religiöse Traditionen und Überzeugungen gibt, die aus sich heraus der Anwendung von Gewalt Vorschub leisten oder sich jedenfalls zur Legitimation oder Bemäntelung von Herrschaftsansprüchen und Unterdrückungsmaßnahmen instrumentalisieren lassen - wie auch zu deren Bestreitung und Überwindung.

Die christlichen Kirchen können in dieser Beziehung nicht vom hohen Ross herab reden. Die Geschichte des christlichen Abendlandes ist voll von Beispielen dafür, dass Menschen unter Berufung auf christliche Glaubensüberzeugungen Andersdenkende verfolgt und getötet haben. Aber dieser Schatten, der über der Geschichte der christlichen Kirchen liegt, kann und darf sie nicht hindern, sich heute kritisch zur Rolle der Religionen in den aktuellen Konflikten zu äußern. Ja, diese dunkle Geschichte nötigt und befähigt sie geradezu, sich in dieser Sache zu engagieren.

Die christliche Theologie hat es gelernt, die Heilige Schrift von ihrer Mitte her zu verstehen, von der Liebe Gottes in Jesus Christus. Auch mit Hilfe von Impulsen der Aufklärung hat sie einen kritischen Umgang mit den biblischen Geschichten gewonnen. Beides bewahrt davor, biblische Aussagen fundamentalistisch, das heißt: losgelöst von ihren historischen Bedingungen, zu deuten. In der islamischen Theologie selbst gibt es für den Umgang mit dem Koran erste Ansätze für historische Kritik. Aber sie müssen sich kräftiger entwickeln, um in der islamischen Welt größeren Einfluss erlangen zu können. Hoffentlich kann der Dialog mit dem Islam dazu beitragen, dass Muslime im Umgang mit dem Koran zu neuen Ufern gelangen.

II
In verhängnisvoller Weise wirkt sich der religiöse Faktor bei politischen Konflikten überall dort aus, wo politische Ansprüche religiös begründet werden. Soweit im Konflikt um Jerusalem und um Israel bzw. Palästina territoriale Ansprüche und ihre Bestreitung religiös untermauert werden, bleibt kaum Raum für pragmatischen Ausgleich und vernünftigen Kompromiss, vor allem, wenn eine Seite mit der Ideologie des Heiligen Krieges die Mordtaten begründet und die Selbstmordattentäter zu Märtyrern stilisiert.

Im 16. und 17. Jahrhundert war es auch in Europa nicht viel mehr als eine reale Utopie, Politik und die Durchsetzung religiöser Ansprüche zu entkoppeln und zu einem aufgeklärten Verhältnis von Religion und Politik zu gelangen. Die gemeinsam durchlebten Schreckenszeiten haben damals bereit gemacht, neue Wege einzuschlagen. Hoffentlich ist es im Nahen Osten nicht schon zu spät für eine solche Wende.

III
Das Datum des 11. September steht für die Einsicht, dass gegenüber dem Islam - wie gegenüber jeder anderen religiösen Erscheinung - die Stärkung der Dialogfähigkeit und die Stärkung der Fähigkeit zu kritischer Wahrnehmung gleichermaßen wichtig sind. Die schrecklichen Attentate in den USA waren nicht nur die Sache einiger radikalisierter, wahnsinniger Fanatiker. Die teilweise unverhohlen zustimmenden Reaktionen in der islamischen Welt ließen deutlich zu Tage treten, dass neben dem säkularisierten westlichen Lebensstil auch der religiöse Hintergrund des Westens, die jüdisch-christliche Tradition, gemeint war. Der Islam steht in Europa vor der Bewährungsprobe, ob er in der Lage ist, sich auf die Bedingungen einer freiheitlichen Demokratie und des weltanschaulichen Pluralismus einzulassen. Der interreligiöse Dialog mit Muslimen darf diese Frage nicht aussparen. Nur dann besteht überhaupt Hoffnung, dass sich eines Tages auch die islamischen Staaten selbst wandeln und Religionsfreiheit für andere Glaubensrichtungen gewährleisten.

IV
Religion hat es mit der Beziehung des Menschen zu Gott zu tun. Sie bietet die Chance tiefer Einsicht und klarer Orientierung. Aber Religion ist nicht selbst etwas Göttliches, sondern etwas durch und durch Menschliches. Sie trägt darum auch die Kennzeichen des Bösen, das manchmal gerade unter der Verkleidung der erhabensten und edelsten Lebensäußerungen daherkommt. Religion kann sich - so gut wie jede andere Äußerung der menschlichen Kultur - vermischen mit Irrtum und Überheblichkeit. Darum ist der kritische und der selbstkritische Umgang mit Religion eine unaufgebbare Forderung. Aber gerade weil religiöse Motive in so viele Konflikte hineinverwoben sind, machen es sich manche allzu einfach und reduzieren das Bündel der jeweiligen Konfliktursachen auf das religiöse Motiv.
So bleibt es ein Ärgernis, dass - wider besseres Wissen - in der Berichterstattung über Nordirland die Konfliktpartner in den Medien wieder und wieder als "Katholiken" und "Protestanten" einander gegenübergestellt werden. Der Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten ist nicht der Kern, nicht einmal ein dominierender Faktor in der nordirischen Tragödie. Wenn man schon eine Kurzformel verwendet, dann wäre es weit angemessener, von Auseinandersetzungen zwischen pro-britischen und pro-irischen Elementen zu sprechen - wenngleich auch dies nicht ganz zureichend ist.

V
Allerdings sollte man die Religion auch nicht vorschnell entlasten, indem alle politischen Konflikte nur auf soziale Ursachen zurückgeführt werden. Gerade diese Reduktion würde diejenige Religionskritik bestätigen, die Religion lediglich als eine Maske menschlicher Wünsche oder eine Kompensation gesellschaftlicher Leiden erklärt. Im Umgang mit der Rolle der Religionen in den aktuellen Konflikten kommt es aus der Sicht der evangelischen Kirche und Theologie darauf an, die in der biblischen und theologischen Tradition enthaltenen religionskritischen Züge zu bewahren. Der biblisch inspirierte Gottesglaube hat immer die Zweideutigkeiten der Religion aufgedeckt, schon im Alten und Neuen Testament selbst gibt es anschauliche Beispiele dafür, dass Religion unterdrücken und befreien, zerstören und heilen kann. Die prophetische Kultkritik („Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!“ vgl. Jesaja 1,11 ff, Matth 9,13), die von Jesus betonte Unterordnung der Religionsgesetze unter ihren humanen Zweck („der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht“, Markus 2,27), die urchristliche Deutung des Gekreuzigten als Selbsthingabe Gottes und als endgültige Aufhebung des sakralen Opfermechanismus - dies sind nur einige zentrale Motive biblischer „Gegen-Religion“, die zum christlichen Selbstverständnis gehören. Die neuzeitliche Religionskritik befindet sich dort im Irrtum, wo sie glaubt, es seien Verhältnisse herstellbar, in denen es der Religion als Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren nicht mehr bedarf. Im Irrtum befindet sie sich vor allem darin, dass sie die Gefahr nicht sieht, wie in das Vakuum einer Gottesverdrängung andere „Götter“ einströmen, die zur Anbetung mit Habgier und Egoismus, mit Kälte und Gleichgültigkeit, mit Selbstherrlichkeit und Größenwahn locken.

In der gegenwärtigen kulturellen Landschaft zeichnen sich bei der Debatte über Religion zwei völlig gegensätzliche Tendenzen ab: einerseits eine verschärfte Erneuerung radikaler Religionskritik und andererseits eine neue Sensibilität für die positive Bedeutung der religiösen Dimension. Jürgen Habermas hat in seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 14. Oktober des vergangenen Jahres eine interessante Neubewertung der Religion vorgenommen. Ihm komme es vor - so sagt er -, als „hätte das verblendete Attentat [vom 11. September] im Innersten der säkularen Gesellschaft eine religiöse Saite in Schwingung versetzt“. Er wirbt dafür, dass sich auch die säkulare Gesellschaft „ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ bewahrt, weil sie sich „nur dann nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung“ abschneidet.

Gustav Seibt hat in seiner Besprechung des Jerusalem-Buches, an die ich eingangs angeknüpft habe, an die Stimme jenes chinesischen UN-Delegierten erinnert, der 1947 anregte, man möge die heiligen Stätten Jerusalems „einem philosophischen Atheisten mit Menschenfreundlichkeit“ unterstellen. Nur - wo kommt Menschenfreundlichkeit her? Von welchen Wurzeln nährt sie sich? Von welchen Quellen wird sie gespeist? Mir liegt es fern, den religiösen Wurzeln und Quellen einen Alleinvertretungsanspruch bei der Hervorbringung und Förderung von Menschenfreundlichkeit, Friedfertigkeit oder Versöhnungswillen zuzuerkennen. Aber eines wird man sagen müssen: Es gibt in der Kultur der Menschheit nicht unendlich viele Ressourcen, die sich als fähig gezeigt haben, diese Tugenden hervorzubringen und kräftig zu erhalten. Der Ruf in die Nachfolge Jesu gehört auf jeden Fall dazu. Wer diesen Ruf vernimmt, findet zur Selbstkritik, ohne die keine ernsthafte Kritik an den Religionen möglich ist. Das Bekenntnis zu dem Gott, der sich allen Menschen zuwendet, stärkt die Achtung gegenüber anderen Religionen. Und deshalb kann man angesichts der heillosen Konflikte der Gegenwart durchaus auch zu der Schlussfolgerung kommen: Es ist zum Gläubigwerden.

Hannover / Berlin, 27.6.2002
EKD-Pressestelle