Der Paulus-Code – Mitgliederorientierung, wohin wächst der Glaube? – Zur geistlichen Bedeutung der Freiburger Studie

Dr. Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD

9. Oktober 2019 in der Evangelischen Tagungsstätte Hofgeismar

Seit Ende April 2019 ist es nun heraus: Die beiden großen Kirchen verlieren bis zum Jahre 2060 im Schnitt die Hälfte ihre Mitglieder und die Hälfte ihrer Finanzkraft. Dies ist der harte Kern der Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung des Forschungszentrum Generationsverträge (FZG) in Freiburg zu der Entwicklung der Kirchenmitglieder und Finanzen beider großen Kirchen. Dass diese Untersuchungen in ökumenischer Eintracht von statten gingen, ist trotz des unerfreulichen Ergebnisses eine kleine Sensation. Und dass deutlich wird, dass die Entwicklung beider Kirchen annähernd gleich verläuft, zeigt, dass es offenbar übergeordnete Aspekte für diese Entwicklungen gibt, die jedenfalls nicht zuerst konfessionell bedingt zu sein scheinen. Jenes Grundergebnis wird sich zwar regional verschieden verteilen – d. h. es wird auch Regionen geben, in denen 2060 mehr als die Hälfte der Mitglieder fehlen werden (!) -, aber als Faustregel kann gelten: Eine „Wüstenwanderung später“ – Israels Wüstenwanderung ins gelobte Land dauerte bekanntlich vierzig Jahre – ist der Mitglieder-und Finanzbestand halbiert. 

I. Einordnung der Studie 
Dabei ist natürlich auch diesmal das zu sagen, was immer zu sagen ist, wenn man Entwicklungen soweit vorausberechnet: Es ist die Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft. Es bleiben damit naturgemäß nicht nur überraschende geschichtliche Entwicklungen unberücksichtigt – man schaue nur einmal zurück auf die Zeit von vor 40 Jahren (1980). Auch bleiben naturgemäß unberechenbare geistliche Phänomene wie eine Erweckungsbewegung oder eine tiefe, existentielle Krise der Gesellschaft (Stichwort: `Not lehrt beten´) ebenso unberücksichtigt wie unvorhersehbare Skandale (Stichwort: Missbrauchsskandale), was so oder so zu erheblichen Veränderungen führen kann. Auch gehen die Autoren von einer einigermaßen stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und Europa aus, was auch nicht garantiert ist; es kann alles sehr viel schneller gehen. 

Insofern gilt: Verlängert ins Morgen wird das Gestern; dies aber – soweit ich dies beurteilen kann – äußerst seriös, sodass man sagen kann: Wenn nichts passiert, wird dies passieren!

Allerdings wird man auch sagen müssen: So richtig viele Neuigkeiten gibt diese Studie nicht her. Wer auf evangelischer Seite den Text des Rates der EKD 2006 „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ noch erinnert, wer sich mit den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD seit 1973 etwas auskennt oder wer andere kirchen- und religionssoziologische Untersuchungen wahrgenommen hat, den wird eher wundern, dass sich so viele wundern über die Zahlen aus Freiburg. Wobei man auch sagen muss: Die Veröffentlichung der Zahlen hat keine Häme ausgelöst, sondern eher Sorge um die Zukunft unserer Gesellschaft, die keine stabile Kirchensituation mehr hat. Die kontinuierliche Schwächung der institutionalisierten christlichen Frömmigkeit wurde immer wieder analysiert und kommentiert, manchmal im Gestus des Vorwurfes („zu wenig Qualität und Service“), manchmal im Gestus des Besserwissers (“zu viel Politik, zu wenig Theologie“) und manchmal im Gestus der Ohnmacht („da kann man nichts machen“). 

Laut Freiburger Institut aber kann man etwas machen, jedenfalls im Blick auf die eine Hälfte der erwartbaren Reduzierung, insofern nur etwa die Hälfte der Mitgliederrückganges auf demographische Entwicklungen zurückzuführen ist, also auf den Überhang von Sterbefällen gegenüber Neugeborenen. Die andere Hälfte geht zurück auf das Ein- und Austrittsverhalten gegenwärtiger und zukünftiger Mitglieder. Hier könne man doch etwas machen, so das Freiburger Institut, beispielsweise die Taufzahlen steigern (das nannte man mal „Taufquote steigern“), die Austritte verhindern, die jungen Menschen zwischen 25 und 35 besser halten usw. Denn wenn man diese Hälfte des Abschmelzens abwehrte, sind die Zahlen der Zukunft deutlich besser. 

Nun hat man immer recht mit dem Hinweis, dass die Qualität der kirchlichen Arbeit verbessert werden kann - Qualitätsprozesse sind naturgemäß nie beendet -, dass mehr Mission betreiben werden kann, dass man serviceorientierter arbeiten, Skandale verhindern und effektive Zusammenarbeit verstärken muss, dass die Arbeit mit Familien, Kindern und Jugendlichen wichtiger sein solle usw. – die Menge der Ratschläge ist in den Wochen und Monaten nach der Veröffentlichung nach oben geschnellt. Und sie treffen ja zumeist etwas Richtiges. 

Allerdings traue ich mir doch auch den Hinweis zu, dass die Kirchen schon vielfache Anstrengungen unternommen haben, jene Taufbereitschaft zu fördern und diese Austrittsneigung zu minimieren. Es ist ja nicht so, dass die Kirchen erstmals den Grundsatz wahrnähmen: Kinder, die nicht getauft werden, lassen später auch ihre Kinder eher nicht taufen. Es ist auch nicht so, dass sie erstmals bemerkten, dass überproportional viele junge Menschen zwischen 25 und 35 Jahren aus der Kirche austreten – jeder Kirchgemeindevorstand, jede/r Pfarrer/in kann das fast monatlich wahrnehmen. Insofern muss auf die naheliegende Frage, wie denn nun die Kirchen auf die Freiburger Daten zu reagieren gedenken, zuerst festgehalten werden: Die Kirchen reagieren auf diese Entwicklung schon seit mindestens einer Generation – und dies durchaus auch mit großem Erfolg. Es gibt zwar keine „Placebo-Gegend“, aber ich bin überzeugt: unsere Taufzahlen wären noch viel schlechter, wenn es nicht seit Jahren gute Ideen in diesen Bereich gäbe. 

Dennoch müssen die Kirchen sich m.E. nüchtern eingestehen: Sie werden durch geeignete Maßnahmen bestenfalls das Tempo verlangsamen und den Prozess entschleunigen können. Denn die Deinstitutionalisierung lässt sich kaum aufhalten, weil sie mit der radikalen Individualisierung unserer Gesellschaft zu tun hat. Und diese ist keine Mode, es ist auch keine moralische Frage, sondern die Bedingung unserer spätmodernen Gesellschaft. Und weil wir – Gott sei Dank - als Kirchen weder eine nationalistischen Gemeinschaft-Rhetorik noch eine Abendland-Rettungsrhetorik gegen einen erstarkenden Islam bedienen wollen, werden wir auch keine kraftvollen Protagonisten gegen diese Individualisierung sein. Im Gegenteil: Christen teilen die Hochschätzung des Einzelnen. Die „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) ist keine Erfindung der Soziologen, sondern „Fleisch von unserem Fleisch, Bein von unserem Bein“. 

II. Bilder einer Zukunft 
Darum also frage ich in einem zweiten Schritt, wie unsere Kirche wohl im Jahre 2060, also in ca. 40 Jahren und eine Wüstenwanderung später aussieht? Ich frage so, damit wir mal ein Bild, ein Gefühl, eine Ahnung davon bekommen, was jene avisierte Halbierung meint. Denn einerseits ist eine halb so große Kirche ist ja auch noch keine Kleinstkirche, keine Sekte, sondern immer noch eine der größten gesellschaftlichen Gruppen, die es neben Fußballvereinen und ADAC gibt. Aber andererseits ist es eine gänzlich andere Kirche als heute. Und ich bin überzeugt: Nur wer ohne Angst, ohne Verzweiflung, aber auch ohne Häme und Ironie diese Zukunft nüchtern anschaut, kann eine belastbare Strategie von Mitgliederorientierung entwickeln. 

Ich versuche jenen zukünftigen Zustand 2060 anschaulich zu skizzieren mit Hilfe der Theorie von der dreifachen Präsenz des Christentums in der Moderne: Theologen wie Dietrich Roessler und Trutz Rendtorff entfalten diese Theorie als individuelles, als öffentliches und als kirchliches Christentum

- Mit individuellem Christentum ist der existentielle Bereich gemeint, die faktisch gelebte Spiritualität und Frömmigkeit: Dass Menschen am Morgen und Abend beten, dass sie die Bibel lesen und die Lieder des Gesangbuches singen können, dass sie Luthers Kleinen Katechismus und Psalm 23 auswendig können usw., das nennt man individuelles Christentum. Wie weit dies heute noch verbreitet ist und vorausgesetzt werden kann, darüber sollten wir uns allerdings keine Illusionen machen. 

- Daneben gibt es das öffentliche Christentum, das sich spiegelt in den öffentlichen Feiertagen von Ostern bis Fronleichnam, in den staatlichen Fakultäten, im Sonntag als arbeitsfreie Zeit zur „seelischen Erhebung“, in der Trennung und Zuordnung von Staat und Kirche, in der öffentlichen Diakonie usw. 

- Und dann gibt es das kirchliche Christentum mit seinen Gemeinden, seinen Ämtern und Hierachien, seinen Gottesdiensten und Amtshandlungen, seinem Unterricht und seiner Seelsorge usw. 

Es liegt nun auf der Hand, dass das Verhältnis zwischen den drei Dimensionen in Parallelität zu dem berühmten Böckenförde-Zitat zu formulieren ist: Das individuelle und das öffentliche Christentum leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren können, - sondern nur das kirchliche Christentum. Nur eine lebendige, relevant agierende Kirche kann beanspruchen, auch die existentielle Frömmigkeit und die gesellschaftliche Öffentlichkeit prägen zu wollen. Oder umgekehrt: wenn das kirchliche Christentum schwächelt, schwächeln auch Frömmigkeit und Relevanz. 

Wie aber sehen diese drei Dimensionen des Christentums in der Moderne 2060 - gleichsam eine Wüstenwanderung später - aus, wenn wir die gegenwärtig sichtbaren Entwicklungen fortschreiben? Die Kirche ist natürlich kleiner, wir Christen sind - auch zusammen mit den katholischen, mit ja allen Christen - eine Minderheit in der Bevölkerung 20 – 25%, im Osten und Norden deutlich weniger noch als  im Süden und Westen. Was aber bedeutet dies … 


a) ...für das individuelle Christentum 

Die 9. KMU von 2053/54 zeigt, dass der übergroße Teil der Kirchenmitglieder Hochverbundene sind, die in sich sehr vielfältig und differenziert sind – also von frommen Charismatikern bis zu 3-Welt-Engagierten. Aber weitgehend verloren gegangen ist uns die sog. Mittlere Verbundenheit, also jene große Mehrheit heutiger Kirchenmitglieder, die ein mildes, unaufgeregtes Christentum leben, die Weihnachten, Ostern und bei Amtshandlungen auftauchen und die mäßigend auf alle religiöse Aufgeregtheit wirken. Ebenso gibt es kaum noch Austrittsbereite, weil diese die Kirche längst verlassen haben. Vor Kurzem fand ich einen Satz im SPIEGEL zur Zukunft des Lesens; da hieß es: „Immer mehr Menschen kaufen gar keine Bücher. Das ist die schlechte Nachricht der Quo-Vadis-Studie. Die positive: Diejenigen, die noch Bücher kaufen, geben dafür im Schnitt mehr Geld aus, manche kaufen auch mehr Bücher. Nichtleser hier, Intensivleser dort.“ (Nr. 12, 23.3.2019, S.120) So wird es wohl auch bei uns: Viele glauben gar nichts mehr, eine Minderheit aber intensiver als je zuvor. Die Grundkenntnisse christlicher Narration sind entsprechend jenseits dieser Hochverbundenen wenig bekannt, die allermeisten allgemeinen Bildungsprozesse gelingen wohl über Kunst und Musik. Chorkonzerte von Bach und Brahms, Schütz und Händel, von Gospel bis Requiem faszinieren immer noch viele, die Ikonographie der abendländischen Kunst lebt von der Kenntnis christlicher Geschichten. Aber alles dies wird ästhetisch konsumiert und nicht als Einladung zu Glauben gehört und gesehen; die Ästhetisierung der Religion ist konsequent zu Ende gebracht. 

Dagegen werden Bibel und Bekenntnisse, Glaubenspraxis und Traditionskenntnisse bestenfalls in kleinen Einheiten (Familien, Haus- und Freundeskreise, auch Sonntagsschule und Christenlehre) weitergegeben. Die digitale Kommunikation eröffnet Möglichkeiten, die geringere Zahl von Christen ortsunabhängig zu verknüpfen, Inhalte `menschennah` zu kommunizieren und Netzwerke zu gestalten. Aber die analoge Gemeinschaft (am Tisch des Herrn) und die face-to-face-Kommunikation bleiben ein selten genutztes Privileg der Christen. Es gibt ungleich mehr Menschen, die sich „zugehörig fühlen“ zu den christlichen Haltungen, zu den moralischen Werten und ethischen Orientierungen als Menschen, die Christus öffentlich und sichtbar bekennen. Nur in Krisenzeiten ist die Zahl jener sprunghaft erhöht, die dankbar sind für ein stellvertretendes Gebet der Christen; manche nennen uns daher Krisen-Gewinnler. 

 

b) ...für das öffentliche Christentum? 

Die fördernde Neutralität unserer Verfassung ist unter der beständigen Kritik an der vermeintlich „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat zurückgenommen bzw. radikal geöffnet für alle anderen Religionen. Es gibt keinerlei Privilegien mehr, weder öffentlich-rechtlich noch staatsleistungs-ähnlich. Öffentliche Feierstunden kennen keinen christlich-ökumenischen Eröffnungs-gottesdienst mehr, sondern nur noch zivilreligiöse Erbauungsfeiern à la USA, der Sonntag ist individualisiert und kein allgemeiner Feiertag mehr. Die sog. `Bäderregelung´ ist umgedreht: Einige Städte und ländliche Kommunen haben erstritten, Sonntagsruhe einhalten zu dürfen. Da die wöchentliche Arbeitszeit bei 20 Stunden liegt und individuell gestaltet werden kann – wir sind bei „Arbeit 9.0“ Dank der Digitalisierung –, gibt es keine gemeinsamen freien Tage mehr, sondern eine Vielzahl freier Tage in den vielen gesellschaftlichen Blasen. Man feiert Ostern mit christlich geprägten Freunden, gesamtgesellschaftlich gibt es nur noch Frühjahrsferien. `Mediales Lagerfeuer-Potential´ haben nur noch Fußball-WMs und politische Katastrophen. Weihnachten, Ostern, Pfingsten sind gleichrangig mit Ramadan, Rosh Haschana, Weltfrauen-, Weltkinder-, Weltumwelttag usw.; allerdings sind alle diese Feste mittlerweile ebenfalls inhaltlich entkernte Konsumfeste. Die Kirchengebäude werden nur noch selten von den Christen für Gottesdienste genutzt, die überwiegende Zahl der Kirchen werden von säkularen Fördervereinen erhalten. Es gibt vielleicht noch 8 theologische Fakultäten in den 4 verbleibenden Kirchengebieten, die Studierendenzahlen entsprechen dieser Ausstattung und dem geringeren Bedarf der Kirchen. Die Kirchensteuer ist zur Kultursteuer geworden, wobei die helfenden Tätigkeiten deutlich besser finanziert werden als die konfessorischen. Die Kirchen leben von freiwilligen Spenden und ihren rechtzeitig eingerichteten Stiftungen. Die Kirchen äußern sich öffentlich nur noch ökumenisch, die kategoriale Seelsorge in staatlichen Zusammenhängen (BW, Polizei, Gefängnis, Krankenhauswerden) werden durchweg ökumenisch, wenn nicht interreligiös gemacht, soweit sie überhaupt noch gemacht werden dürfen. 

 

c) … für das kirchliche Christentum 

Es gibt nur noch einzelne Gemeinden, die wir Inseln gelingender Kirchlichkeit im Meer der säkularen Gesellschaft liegen. Diese Gemeinden sind die Grundform der Präsenz von Kirche in der Moderne, das flächendeckende Netz der Parochien ist zerrissen, es gibt in jeder Region jene Gemeindeinseln gleich früheren Klosteranlagen. Zu ihnen kommen die Menschen, um Glauben zu leben, um Gemeinschaft zu erfahren, um Bildung weiterzugeben und Entscheidungen synodal zu treffen. Kirchliche Trauerfeiern sind zu einer Ausnahme geworden, manche Pfarrer/innen kennen den Ritus nur noch aus der Ausbildung. Taufen sind ein zentraler Zielpunkt aller kirchlichen Bemühungen. Die Kirchen verlassen ihr staatsanaloges Format und haben nur noch „leichtes Verwaltungsgepäck“ (Rheinland), die institutionelle Dimension ist ersetzt durch vereinsähnliche Organisation und kreative, freie, angstlose und innovative Bewegungen geworden. Es gibt nur noch eine sehr flache Hierarchie: Jene Gemeinden als Inseln gelingender Kirchlichkeit an der Basis und eine allgemeine Repräsentation- und Leitungsebene, die jene Elemente verantwortet, die um der Erkennbarkeit der Christen jenseits allen Kongregationalismus gemeinsam sein müssen: Bibel, Gesangbuch, Agenden, Aus-, Fort- und Weiterbildung, Gehalt und annähernd gleiche Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch Öffentlichkeit und Stellungnahmen. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
das sind natürlich alles nur grobe Striche einer möglichen zukünftigen Kirchenlandschaft. Aber das Bild zeigt: Mitgliederorientierung, gar Mitgliederbindung dürfte unter der Voraussetzung einer halb so großen Kirche eher Elitenbildung sein, die Volkskirche wird zu einer Vereinskirche, deren Mitglieder selbstbewusst und aufrecht ihren Glauben im Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft leben. Man muss keine Angst vor dieser Zukunft haben, denn wohl ist das Minderheit-Werden Mist – so wie Opposition Mist ist! Aber Minderheit-Sein ist nicht zwingend ein Jammer, sondern erlaubt und erfordert ein neues Selbstbewusstsein bei denen, die die Minderheitsrolle annehmen. Wir Christen haben – wie in den ersten Tagen unseres Glaubens – weniger äußerliche Macht, das „dagobertinisch-konstantinische Zeitalter“ ist definitiv vorbei. Zugleich aber gilt doch der Grundsatz: Eine kleinere Kirche redet nicht zwingend größeren Unsinn! Und insofern - um mit Albert Camus zu sprechen – kann man sich die Christen des Jahres 2060 als glückliche Christen vorstellen! 


III. Befreiung zur Minderheit? 
Was aber bedeutet dieser Weg einer kleiner werdenden Kirche geistlich? Natürlich – folgt man dem biblischen Vorbild der vierzigjährigen Wüstenwanderung, dann gilt natürlich zuerst: Abbau, Rückbau, Umbau bringen Schmerzen, Trauer, Enttäuschungen und Verletzungen mit sich und mangelnde Anerkennung für Geleistetes; die berühmten Fleischtöpfe Ägyptens locken auch im 21. Jahrhundert. Unsere Kirchen werden den Rückbau vermutlich sozialverträglich gestalten können, aber es wird schon bald Verteilungskämpfe geben, es werden viele Stellen abgebaut, viele Arbeitszweige aufgegeben und manche kreative Blume wird verkümmern. Aber ich will nicht stehenbleiben bei Fragen, welche Fleischtöpfe leer bleiben könnten und mit welchem Murren zu rechnen ist. Sondern will fragen: Was bedeutet dieser Rückbau geistlich? Gibt es eine theologische Botschaft dieses Kleinerwerdens? Immerhin ziehen wir in diese Wüstenwanderung ja mit einem Gott, der befreien will, dessen Kennzeichen der Auszug aus den (babylonischen) Gefangenschaften des Lebens und des Todes ist, und von dem schon in 5. Mose 2,7 gesagt wird: „Er hat dein Wandern durch diese große Wüste auf sein Herz genommen. Vierzig Jahre ist der HERR, dein Gott, bei dir gewesen.“ Will Gott uns etwas Konstruktives sagen mit diesem Verlust an Bindungskraft und mit dem Abschmelzen der Mitgliedszahlen? Verlässt er uns, weil wir ihn verlassen haben? Straft er uns für unsere Liberalität? Oder überhören wir ihn, weil wir beständig selbst laut sind? Jeder Examenskandidat weiß: Nur Gott selbst kann Glauben an Gott schaffen? Warum tut er es nicht mehr so, dass unsere Kirche wächst? Gibt es für diesen Schwund vielleicht doch eine positive geistliche Perspektive? 

Mir ist schon klar, liebe Geschwister, dass dies nicht nur eine provokante Frage ist, weil es ja Kummer und Klage geben wird, sondern dass es auch eine gefährliche Frage ist, weil die eigenen Wünsche und Träume für eine Kirche mit Zukunft jetzt leicht mit Gottes Plänen zu verwechseln ist. Andererseits aber finde ich es auch sehr unbefriedigend, jene geistlichen Fragen nicht zu stellen. Denn ohne so eine geistliche Perspektive liegt lediglich ein Organisationsaufgabe vor uns: Dann müssen wir das Kleinerwerden eben nur gut managen! 

Das ist mir aber gerade um des managen willen zu wenig! Denn nur wer eine positive Narration, eine innere Freiheit, eine geistliche Gelassenheit hat, kann frei, offen und souverän Mission und Mitgliederbindung fördern. Wer Angst um seine Existenz hat, wem die Sehnsucht nach Zustimmung, nach Anerkennung und Liebgehabtwerden abzuspüren ist, der wird keine Mitglieder orientieren können. Jede Institution hat einen legitimen Selbsterhaltungswillen, aber wenn wir krampfhaft und gleichsam gierig nach Mitgliedern suchen oder an ihnen klammern, dann machen wir uns zu billig und damit unattraktiv. 

Deswegen diese geistliche Erinnerung: mit der Wüstenwanderung haben Christen geradezu eine archetypische Narration, mit der Enttäuschung und Zuversicht, Mangel und Segen zusammengebracht werden können. Also versuche ich mich jetzt mal mit einer theologischen Deutung der Entwicklung, die dem Gott der Geschichte Gutes und Barmherzigkeit (Psalm 103) unterstellt: Kann unserer Kirche durch diese Wüstenwanderung nicht auch frei werden von der Selbstüberforderung und Selbstausbeutung, die zum Grundgestus geworden ist, weil wir viel zu große Kleider anhaben? Will Gott uns aus dem „Großkirchendenken“ rufen, sowohl was den Gemeindeaufbau angeht als auch was die diakonische Zuständigkeit betrifft? Will er uns einen Ausweg eröffnen aus unseren Gremienwildwuchs und synodalen Übersteuerungen kleiner und kleinster Fragestellungen? Hat Gott genug von einer Behörden-DNA und Bürokratieverliebtheit, von Verwaltungslust und Finanzfixierung, die nicht selten eine moderne Gefangenschaft ist? Könnten hier nicht überall echte Befreiungen auf uns warten? Lockt hier ein gelobtes Land einer zuversichtlichen, fröhlichen „Kirche mit leichtem Gepäck“? 

Oder: Kann jenes Kleinerwerden nicht auch uns Christen befreien von der vielfach unnötigen Last konfessioneller Doppelung - intern und extern? Ist Gott längst müde geworden ob der konfessionellen Abgrenzungen und hilft uns hier heraus? 

Oder: Ist etwas dran an der These, dass unsere wissenschaftliche Theologie so sehr in Drittmittelzwang und interner Wissenschaftsrechtfertigung gefangen ist, dass sie oftmals nicht mehr in „Rufweite“ kirchlicher Frage-stellungen agiert? 

In England hat jüngst ein berühmter Richter ein Buch veröffentlicht, das die These vertritt: Nicht der Brexit, nicht der Neoliberalismus oder der Populismus, sondern die beständig weitergehende Verrechtlichung des Lebens führen zum Niedergang der Institutionen. Ist da was dran? Könnte das auch für unsere Kirchen stimmen? Liegt die Krise aller öffentlich-rechtlichen Institutionen von Kirche über Parteien zu Rundfunk und Verbänden darin begründet, dass sie zwar vorbildlich funktionieren, aber die Probleme nicht mehr repräsentieren, die sich der Gegenwart stellen? Manchmal frage ich mich, ob das nicht auch für unsere Spiritualität und Theologie gilt: Organisieren und funktionieren wir im geistlichen Bereich nicht Sonntag für Sonntag fast zu perfekt, zu abgeklärt, zu routiniert? Ist es Zufall, dass die Liturgische Konferenz in diesen Tagen eine Analyse der Sonntagsgottesdienste herausgibt, die den Sonntagsgottesdienst als randständigen Zielgruppengottesdienst für hochengagierte Mitarbeitende qualifiziert? Brauchen auch unsere geistlichen Formate eine Befreiung? Sind unsere Gottesdienste im Schnitt noch hinreichend glaubwürdig – geistlich, spirituell, theologisch? Abschaffen – so der jüngste Vorschlag – ist ja Selbstaufgabe; aber wie viel erschöpfte Routine gibt es? 

Insgesamt frage ich mich und uns: Könnten wir theologisch, geistlich, spirituell nicht durch jenen Verlust an Bindungskraft und durch diese zugemutete Reduktion des Kleinerwerdens in vielen Feldern auch in freieres Gelände geführt werden? 

Liebe Geschwister, 
das ist vielleicht der verzweifelte Versuch, dem Rückgang einen geistlich positiven Sinn abzugewinnen. Denn ich glaube wohl: Gott meint es gut mit unserer Kirche und insofern weigere ich mich, die anstehenden Jahre bis 2060 nur als organisatorische Resteverwaltung zu verstehen. Wir haben doch mit der Wüstenwanderung Israels und mit Kreuz und Auferstehung Jesu Christi Narrationen im Rücken und Herzen, die uns „unverzagt“ sein lassen – um ein schönes altes Wort zu nehmen. 
 

IV. Unverzagt in die Zukunft
 
Stimmt in etwa mein Zukunftsbild unserer Kirche 2060 und ist an meinen Hinweisen auf Befreiungspotentiale nicht nur falsch, dann ist das kein Plädoyer für eine um sich selbst kreisende, ohnmächtige Kirche, wohl aber ein klares Bewusstsein für eine zukünftige Strategie: Wir müssen das Kleinerwerden gestalten, nicht erleiden! Wir müssen das Kleinerwerden annehmen, nicht nur hinnehmen! 

Was ich in aller Regel aber erlebe, sind Abstoßreaktionen gegen jede Art von Veränderung; es werden endlose Abwehrschlachten geschlagen am liebsten gegen die jeweilige Hierarchie, es werden ungeheure Energie gebunden und am Ende müssen wir doch hinnehmen, dass es weniger geworden ist. Was aber können Verantwortliche in der Kirche tun, um die anstehende Wüstenwanderung so zu befördern, dass die „Fleischtöpfe Ägyptens“ nicht beständig zurückersehnt werden, sondern der Blick frei wird für jenes Manna und diese Wachteln, die wir nicht selber machen, sondern nur einsammeln können? 
Natürlich kann sich letztlich jeder Verantwortungsbereich, jeder Bezirk, jede Gemeinde und jeder Arbeitszweig nur selbstständig und in evangelischer Freiheit diesen strategischen Zukunftsfragen stellen. Aber einige strategische Grundkriterien lassen sich vielleicht doch benennen, gleichsam eine gemeinsame Ausrichtung, die dann jeweils als Anregung, Irritation oder Provokation vor Ort einbezogen werden in die je eigenen Überlegungen. Bei meinen Überlegungen bleibe ich in den drei Kategorien des individuellen, des kirchlichen und des öffentlichen Christentums treu: 

Im Blick auf das individuelle Christentum gilt der Grundsatz: „Jeder einzelne ist wichtiger denn je!“ Je kleiner wir werden, desto bedeutsamer wird der Einzelne. Nicht wenige vergleichen diese Situation mit den ersten biblischen Zeugen/innen, die sich als `electi´, als von Gott Erwählte wussten, weil ihnen im Glauben ein Geheimnis Gottes eröffnet wurde, das vielen anderen verborgen blieb. Von Gott und seinen Geheimnissen in Jesus von Nazareth zu wissen, schenkte einen Stolz, der in Gott selbst gründete: „Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.“ (1.Kor 4.,1). Diesen mit der Berufungsgewissheit gewachsene Erwählungsglaube teilen keineswegs Mehrheiten und Mengen, es wird in einer kleiner werdenden Kirche zu einem stellvertretenden Glauben für die Vielen. 

Zugleich wird dieser Glaube nicht nur Befremden, sondern auch Neugier freisetzen. Was in der Bibel vielleicht die `Gottesfürchtigen´ waren oder in der frühen Kirche die `Katechumenen´, sind heute vielleicht `Zugehörige´ oder `Zugewandte´, die sich zwar den Geheimnissen Gottes nur zögerlich nähern, aber doch ein Gespür dafür behalten haben, dass der Verlust der Transzendenz das Leben selbst gefährdet. 

Jenseits der `Berufenen´ gilt es, diejenigen im Blick zu behalten, die immer mal wieder, gelegentlich und anlassbezogen nach Gott fragen und seine Gegenwart vermissen. Diese schwebende, bekenntnisferne Frömmigkeit kann auf ihre Weise mithelfen, die rationalistisch geprägte Welt offen zu halten für Gottes Transzendenz. Und insofern gilt: Jene suchende, fragende, zögerliche Frömmigkeit sollte die Kirche stützen und stärken: jede Kasualie ist dazu eine Chance, jede anlassbezogene Initiative eine Gelegenheit. Wir sollen die unklare Sehnsucht nach Stille, nach Geheimnis, nach Innehalten und Gemeinschaft außerhalb der vertrauten Routinen aufsuchen und fördern, weil hier die individuelle Frömmigkeit ihren Ursprung und Wurzelgrund hat. Und was jeder von uns schon oft erlebt hat: Wenn der Jammer überhand nimmt, dann sind viele froh, dass andere stellvertretend für ihn beten können, glauben können, Liturgie können, Wissensbestände weiterzugeben haben, mit denen man Glück in dankbaren Jubel und Kummer in wachsenden Trost verwandeln können.
 
Im Blick auf das kirchliche Christentum zwingen die begrenzten Ressourcen zukünftig zu einem konsequent exemplarischen Handeln. Die traditionellen Aufgaben und gewachsenen Zuständigkeiten können so reduziert werden, dass sie den Menschen und Mitarbeitenden gleichsam „bekömmlich“ sind. D.h. die belastenden, aber leer gewordenen Routinen aufgeben zugunsten von Initiativen, die neuen Geist in neue Formate bringt. Wir müssen resonanzloses Handeln unterscheiden lernen von Resonanzräumen, die die Herzen und Seelen berühren. Das passiert ja auch schon oft: Spirituelle Erprobungsräume, geistliche Start-Ups, theologisches Neuland – von all diesem gibt es schon einiges. Und ich bin überzeugt, dass im Grunde jede/r in seinem Verantwortungsbereich ziemlich genau sagen kann, was leere Routine und was resonanzreiches Handeln ist. Im Grunde geht es strategisch gesagt darum, einen guten Übergang von einer flächendeckenden zu einer exemplarischen Versorgung zu gestalten: Nicht mehr überall, jederzeit und für alle etwas anbieten, sondern exemplarisch Gottes Geheimnisse in ihrer Tiefe und Schönheit verkünden, Nächstenliebe in den Maßen üben, die sich selbst nicht ausbeutet und die kirchlichen Orte so zentrieren, dass man Kraft und Liebe und Besonnenheit spüren kann. Da wird es manche starke Zentrale geben, die dann auch die Kraft hat, die Fläche zu versorgen. 

Im Blick auf das öffentliche Christentum wird es m. E. zuerst zentrale Aufgabe, die öffentliche Präsenz vom Missverständnis der Moralisierung und Gesetzlichkeit der Gesellschaft zu befreien. Ich persönlich halte dies für das Schlüsselproblem aller öffentlichen Präsenz und also für die Mitgliederbindung unserer Kirche: Wir kommen als Moralanstalt rüber, als Zeigefinger-Besserwisser, die weithin fromme Politik zu machen scheinen. Das liegt auch daran, dass man unter den Bedingungen einer nachreligiösen Gesellschaft das Verständnis von theologischen, geistlichen Zusammenhän-gen mit öffentlichen Positionierungen nicht mehr voraussetzen kann. Wahrgenommen und zitiert wird der eine politisch lesbare Satz, dessen theologische Einbettung nicht mehr verstanden und darum nicht kommuniziert wird. Ethische Äußerung aber so in Rufweite der Theologie und des Glaubens zu halten, das ist ein schwieriges Unterfangen. Andererseits kommt ja ein Verzicht auf öffentliche Präsenz nicht in Frage, es wäre eine Art Selbstab-schaffung, wie man in Holland studieren kann. Meine strategische Überzeugung heißt daher: Öffentliche Theologie muss thematisch breiter aufgestellt werden: Kirche soll sich nicht nur zu Politikthemen wie Greta, Sea-Watch oder Populismus äußern, sondern auch zu Kultur und Kunst, zur Erinnerungskultur und Tod, zu kirchlichen Reformagenda und zum letzten Sportereignis. Der christliche Glaube ist immer weltbezogen, aber nicht nur politisch. Und ich bin überzeugt: je thematisch breiter sich die öffentliche Präsenz des kirchlichen Christentums aufstellt, desto weniger kann man sie als Vorfeldorganisation einer bestimmten Partei denunzieren – und eben das sichert öffentliche Glaubwürdigkeit. 
Zuletzt diese drei Orientierungen: stellvertretende Frömmigkeit, exemplarisches Handeln und öffentliche Vielfalt erscheinen mir für eine kleiner werdende Kirche sinnvolle Perspektiven, um die Freiheiten eines Auszuges aus der babylonischen Gefangenschaft einer überdehnten Kirche zu befördern – Menschen das überhaupt können. Manche sagen zu diesem Konzept: Es scheint um ein Überwintern der Kirche zu gehen wie im 9./10. Jahrhundert. Ich glaube, dass ist nicht ganz falsch gesehen; aber wenn damit etwas Richtiges getroffen ist, dann gibt es keinen Grund, angstvoll auf den Weg in die Zukunft zu schauen, denn ich bin überzeugt, unsere Situation hat ihren Vergleichspunkt nicht im Dinosaurier, sondern in der Raupe.