Welches Ethos braucht die Gesellschaft von morgen?
Robert Leicht
Mannheim, Vortrag beim Kongress "Solidarität und Selbstverantwortung - Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft" (Zukunftskommission des Landes Baden-Württemberg)
Keine Angst, meine Damen und Herren, die Vorbemerkung wird nicht allzu konkret. Es geht gewiss nicht darum, in eine aktuelle Polemik einzugreifen. Aber die Rede vom Ethos kann auch keine bloße Verallgemeinerung und Abstraktion sein - und bleiben. Im Gegenteil: Bei der Rede vom Ethos geht es geradezu - mit Hegel zu sprechen - um das konkrete Allgemeine - also um die Übersetzung von allgemeinen Regeln in individuelles Handeln, von der Gültigkeit generell abstrakter Normen für individuell konkrete Personen: also von der Gültigkeit allgemeiner Anforderungen an schlechterdings alle, die es angeht.
Da nützt es also wenig, große Programmsätze aufzustellen (oder noch schönere ethische Imperative zu formulieren) - solange man niemanden findet, der sich daran halten wird. Im Gegenteil: Je höher die Stellung einer Person ist, die sich an Regeln nicht hält (zum Beispiel an ein Parteiengesetz, zu dem man als Regierungschef drei Novellen unterzeichnet hat - und zwar: drei Novellen, deren Notwendigkeit sich nicht zuletzt aus dem vorvergangenen eigenen Tun ergeben hatte) - je höher also die Stellung einer Person ist, die sich an Regeln nicht hält, desto nutzloser, desto weniger glaubwürdig, ja: desto kontraproduktiver ist der Diskurs über Regeln.
Der gegenwärtige Bundeskanzler hat im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Vereidigung gesagt, Religion sei "Privatsache". Das war zumindest zur Hälfte falsch - und allenfalls zur Hälfte richtig. In der Tat, so er dies gemeint haben sollte: Religion ist eine höchst persönliche Angelegenheit - aber sie ist eben keine private, sondern eine höchst öffentliche Angelegenheit.
Ähnliches gilt vom Ethos: Zwar käme niemand auf den Gedanken, Ethik sei eine Privatsache; geht es doch um die - vorweg zu erwägenden und hernach zu verantwortenden - sozialen Folgen individuellen Handelns. Aber gewiss ist auch Ethik eine höchst persönliche Angelegenheit, weil es eben um potentiell genau bestimmte Personen und ihr Verhalten zu Mitmenschen, um ihr Verhalten im Zusammenwirken mit Mitmenschen geht.
Es gibt also keinen ethischen Diskurs ohne den Blick auf Personen. Dieser Blick fällt umso schärfer und folgenreicher aus, desto deutlicher sich diese Personen in einer öffentlich wahrnehmbaren Garantenstellung für den Fortgang der Gesellschaft befinden. Wir können auch ganz traditionell sagen: desto klarer es ist, dass diese Personen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position - Vorbilder sein müssten; eigentlich Vorbilder sein müssten.
Dieser Sachverhalt wird sofort deutlicher, wenn wir nicht abstrakt von einem Ethos - oder von Werten, auch nicht von: Grund-Werten sprechen, sondern konkret - und auf Personen als deren Trägern gemünzt - von Tugenden.
Indem ich einen berühmten Satz Thomas Jeffersons variiere, spitze ich dieses Argument folgendermaßen zu: Vor die Wahl gestellt, zöge ich persönliche Vorbilder ohne allgemeinen ethischen Diskurs jederzeit einem allgemeinen ethischen Diskurs ohne persönliche Vorbilder vor.
Aber so exklusiv stellt sich die Alternative nicht. Es geht immer um beide Dimensionen zugleich. Und deswegen soll die Vorbemerkung das schlüpfrige aktuelle Gelände schleunigst verlassen und mit folgender These schließen:
In der Ethik geht es um drei paradoxe Dimensionen:
- um das konkrete Allgemeine
- um das persönliche Soziale
- und schließlich nun doch paradoxerweise auch: um das private Öffentliche.
Welches Ethos braucht die Gesellschaft von morgen? - Lassen Sie mich also für einen Augenblick konkret und persönlich werden - und zugleich in einem bestimmten Feld private Ansichten offenbaren. Es ist ja kein Wunder, dass man als Journalist immer wieder gebeten wird, ein Wort zur Ethik des Journalismus zu sagen. Meine private Ansicht dazu war stets sehr simpel: Mir falle dazu wenig ein, denn eigentlich reichten dazu doch das siebte und das achte Gebot aus; Sie verzeihen mit sicherlich die Zählung Martin Luthers.
Zum ersten also das siebte Gebot: Du sollst nicht stehlen!
Folglich: Du sollst dem Käufer nicht das Geld - und nicht die Zeit! - stehlen, indem Du ihm minderwertige Texte lieferst.
Zum zweiten sodann das achte Gebot: Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wieder Deinen Nächsten!
Folglich: Du sollst über Deine Mitmenschen nicht die Unwahrheit verbreiten - und Du sollst Deinen Lesern die Wahrheit sagen; und nichts als die Wahrheit.
Und fertig ist die ganze Medienethik.
Wenn es nur so einfach wäre! Ist es denn ausgemacht, ob die Mitmenschen - als Politiker - es wollen, dass man die Wahrheit über sie (und ihr Handeln) verbreitet? Und wollen die Leser - als Bürger - wirklich die ganze Wahrheit erfahren; zum Beispiel über den Zustand unserer Altersversorgung, über den Zusammenhang zwischen den Preisen für Arbeit und die Zahl der Arbeitsplätze, über den Zusammenhang zwischen dem persönlichen Konsumverhalten und dem Zustand der Umwelt?
Und ist es denn so sicher, dass die Leser wirklich nur die wertvollsten Artikel lesen wollen? Wollen Sie ihre Zeit beim Lesen wirklich zur seriösen Aufklärung nutzen - oder wollen sie beim Lesen in Wirklichkeit lieber die Zeit totschlagen, sich also nicht etwa unbedingt sammeln, sondern vielmehr lieber zerstreuen?
Mit anderen Worten: Es ist offenbar zu simpel gedacht, wollte man als Journalist sein Verhalten nur an dem ausrichten, was die Leute wollen und wünschen.
Oder noch einmal anders ausgedrückt: Ethische Probleme lassen sich offenbar nicht durch das Modell von Angebot und Nachfrage beantworten. Der Markt hat viele Vorzüge - und diese Vorzüge werden oft genug unterschätzt; es handelt sich dabei zum Teil sogar um ethische Vorzüge, denn der sparsame Einsatz von Ressourcen und der Wettbewerb um preisgünstige Waren und Dienstleistungen wirkt der Verschwendung von Rohstoffen, Gütern und Anstrengungen entgegen. Aber man darf sich eben nicht auf eine bloß ökonomische Betrachtungsweise einlassen, wenn es um den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft geht.
Wenn es um die Gesellschaft als Ganzes geht, versagt das Modell von Angebot und Nachfrage, versagt der Markt, versagt die Ökonomie.
Der Markt funktioniert dort, wo Güter tauschbar und austauschbar sind, und zwar ausgedrückt durch das abstrakte Medium Geld. Aber der Mensch als Teilnehmer der Gesellschaft ist nicht abstrakt. Er ist ein Individuum. Das heißt: Er ist weder teilbar, noch mitteilbar (also: auch nicht transferierbar) durch ein Medium (etwa: ausgedrückt durch Geld) - also auch nicht tauschbar und austauschbar. Vom Menschen als kleinste, nicht teilbare Einheit der Gesellschaft kann man nicht absehen; denn das meint: abstrahieren.
Auf dem Markt austauschbarer Güter und Dienstleistungen funktioniert, im günstigsten Falle, das Prinzip der "verdeckten Hand". In der Gesellschaft als einem Zusammenwirken von nicht austauschbaren Menschen funktioniert das Prinzip der verdeckten Hand gerade nicht. Dort gilt allein das "Prinzip der offenen Hand"; das heißt: in der menschlichen Gesellschaft müssen die Regeln des Zusammenwirkens öffentlich gerechtfertigt werden und offengelegt werden - und am Wohl potentiell eines jeden einzelnen Menschen legitimiert werden.
Was aber das Wohl eines Menschen ist, das ergibt sich nicht aus dem Ausgleich vom Angebot und Nachfrage hinsichtlich dessen, was die Menschen privat (und im Augenblick) wünschen (oder: zu wünschen meinen). Diese Frage muss vielmehr normativ beantwortet werden. Die Antwort setzt ein normativ geprägtes Menschenbild voraus. Und darüber, was das richtige Menschenbild ist, muss ein öffentlicher Austausch stattfinden - freilich ein Austausch anderer Art als der des Marktes, nämlich ein Diskurs unverwechselbarer normativ geprägter Auffassungen.
Auch der Journalist - um auf diese Ausgangsepisode unserer Überlegungen zurückzukehren - kann sein Verhalten nur an einem normativen Menschenbild ausrichten, über das er sich selbst und allen kritische (und selbst-kritische) Rechenschaft ablegen muss, ausgesprochen oder unausgesprochen.
Wir können diesen Sachverhalt auch folgendermaßen (und nun verallgemeinert) ausdrücken: Ethische Fragen lassen sich gerade nicht utilitaristisch, also an Zwecken ausgerichtet beantworten. Denn der Mensch existiert nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern um seiner selbst willen - und zwar so, dass er über den Grund (oder sagen wir es so: dass er über den Zweck) seiner selbst nicht einmal selber verfügt. Schon gar nicht über den Daseinsgrund anderer Menschen.
Der Mensch steht also zu seinem Daseinsgrund in einem Verhältnis der Reflexion, der Selbst-Reflexion - und nicht in einem Verhältnis des Zweckmäßigkeit, und sei es: des Selbst-Zwecks.
Die Leit-Frage: "Welches Ethos braucht die Gesellschaft von morgen?" wäre also falsch gestellt, wenn sie folgendermaßen lauten sollte: "Welches Ethos ist für die Gesellschaft von morgen zweckmäßig - oder weniger zweckmäßig?" Sondern sie kann nur wie folgt formuliert werden: "Welches Ethos ist richtig?" Und zwar: unbedingt richtig - also absolut richtig unter entschiedener Absehung von relativen Zweckmäßigkeiten.
Ein Grundproblem unseres ethischen Diskurses ist dieses: Er leidet unter einem Übermaß an Zweckmäßigkeitserwägungen. Die Frage ist nicht: Heiligt der Zweck die Mittel? Sondern die Frage stellt sich so: Heiligt der Zweck - den Zweck?
Zur Illustration greife ich zurück auf jenen fast anektdotischen Diskurs Immanuel Kants über die Frage, ob es erlaubt sei, einem Mörder gegenüber zu lügen. Sie kennen die Geschichte: Ein Mörder tritt in die Haustür und fragt, ob das von ihm verfolgte Opfer seiner gedachten Tat, ob unser Freund, sich in unser Haus geflüchtet habe. Diese Frage ist ja so theoretisch nicht nach der Judenverfolgung im Dritten Reich. Kant bleibt unnachgiebig bei der Wahrheit und nennt dafür zwei Kategorien von Gründen. Die erste Kategorie von Gründen folgt der Frage: Weißt Du denn, was die Folgen Deines höchst zweckmäßigen Umgangs mit der Wahrheit (und Lüge) für Deinen Freund bedeuten? Er nimmt dazu an, der Freund sei längst durch die Hintertür geflohen, der Mörder nehme unsere subjektive Lüge ("Nein, er ist nicht in meinem Haus!") beim Wort, kehre um, laufe die Straße hinunter, treffe dort auf den Geflohenen und bringe ihn um. Die zweite Kategorie von Gründen folgt der Frage: Weißt Du denn abzuschätzen, was Dein Umgang mit der Wahrheit für die Wahrheit überhaupt bedeutet? Kant sagt dazu: Wenn Du glaubst, selber entscheiden zu dürfen, wann Du wahr aussagst oder lügst (und sei es ausgerichtet an den nobelsten Zwecken), dann zerstörst Du das Vertrauen in - wie Kant es nennt - in die öffentlichen "Deklarationen"; wir können auch sagen: Dann zerstörst Du das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit der öffentlichen Kommunikation. Oder anders ausgedrückt: Wenn einer einmal lügt, wie soll man dann allen anderen immer glauben?
Wir brauchen an dieser Stelle Kants Exempel nicht zuende zu denken, schon gar nicht unter Bedingungen, unter denen - wie im Dritten Reich - die öffentliche Kommunikation systematisch zur Lüge entartet ist. Aber das Exempel macht uns aufmerksam auf die Gefahren, die im Zuge einer kurzsichtigen oder selbstherrlichen Bestimmung dessen drohen, was in einer gegebenen Situation als zweckmäßig erscheint.
Gewiss, in einer konkreten Situation müssen wir konkret entscheiden. Aber die konkrete Entscheidung kann nicht allein aus der Situation heraus fallen, sondern sie muss zugleich einer Reflexion auf den Zusammenhang aller normativen, also aller moralischen Anforderungen folgen.
Wir können diesen Sachverhalt auch folgendermaßen formulieren: Es gibt zwar keine abstrakte Wahrheit ohne konkretes Ethos, aber es gibt auch kein partielles Ethos ohne umfassende Wahrheit. Oder so: Es gibt keine letzte Begründung, die nicht in einer pragmatischen Entscheidung konkret wird - aber es gibt auch keine pragmatische Entscheidung ohne letzte Begründung.
Wir springen nun von dem historischen Diskurs Immanuel Kants in einen aktuellen Diskurs zwischen dem Schriftsteller Umberto Eco und dem Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini. Die beiden Koryphäen sind in einem öffentlichen Briefwechsel der Frage nachgegangen: "Woran glaubt, wer nicht glaubt? - hierzulande als Buch unter diesem Titel bei Zsolnay erschienen. Nach einigem Hin und Her der Argumente stellt Martini die entscheidende Frage wie folgt:
"Worauf beruht die Gewissheit und der imperative Charakter Ihres moralischen Handelns, wenn Sie für die Grundlegung der Absolutheit einer Ethik sich weder auf metaphysische Prinzipien oder jedenfalls transzendentale Werte noch auf einen universal gültigen kategorischen Imperativ berufen wollen?"
Wie bei einem Kardinal kaum verwunderlich, spitzt Martini die Frage weiter zu, indem er sie vereinfacht:
"Welche Gründe kann jemand für sein Handeln anführen, der moralische Prinzipien vertritt, die auch das Opfer seines Lebens erfordern können, der aber nicht an einen personalen Gott glaubt?"
Martini fährt fort:
"Sicher gibt es die Gesetze, aber kraft welcher Instanz können sie auch unter Lebensgefahr Verpflichtungscharakter gewinnen?"
Die theologische Dimension des Arguments mag uns nicht zwingend erscheinen - und jedenfalls als Gottesbeweis nicht ausreichen. Aber das Argument muss doch zumindest - und erst recht! - jenen Politiker beunruhigen, der aufgrund seines Mandats (und sei es zudem: aufgrund eines parlamentarischen Beschlusses nach Recht und Gesetz) andere dazu verpflichten will, als Soldaten ihr Leben aufs Spiel zu setzen, zum Beispiel im Kosovo. Rein utilitaristische Gründe, reine Zweckmäßigkeitserwägungen können eine solche Verpflichtung nicht stützen. Und in der Tat liegen die zugespitzten Motivgegensätze "Nie wieder Krieg!" oder "Nie wieder Auschwitz!" beide Male außerhalb der Zweckmäßigkeitsgründe auf durchaus moralischem Gebiet. Aber was ist der letzte Grund dieser Moral?
Sie sehen also: Ich widerspreche der perspektivischen Verkürzung unseres ethischen Diskurses. Ich widerspreche der Versuchung, - polemisch zugespitzt: Ethik zu verstehen als eine gewissermaßen anständige Möglichkeit, sich um letzte Begründungen für das persönliche und politische Handeln herumzudrücken. Es gibt keine Ethik ohne Wahrheit - und es gibt keinen existentiell relevanten ethischen Diskurs ohne Diskurs über die existentielle Wahrheit.
Und ich behaupte: Die Frage "Welches Ethos braucht die Gesellschaft von morgen?" ist nicht zu beantworten ohne die Frage: "Was ist Wahrheit?"
Wenn ethisch verantwortliche Entscheidungen den Rekurs auf die Wahrheit voraussetzen, dann brauchen wir einen öffentlichen Diskurs über die Wahrheit.
Ich hatte vorhin gesagt:
Was aber das Wohl eines Menschen ist, das ergibt sich nicht aus dem Ausgleich vom Angebot und Nachfrage hinsichtlich dessen, was die Menschen privat (und im Augenblick) wünschen (oder: zu wünschen meinen). Diese Frage muss vielmehr normativ beantwortet werden. Die Antwort setzt ein normativ geprägtes Menschenbild voraus. Und darüber, was das richtige Menschenbild ist, muss ein öffentlicher Austausch stattfinden - freilich ein Austausch anderer Art als der des Marktes, nämlich ein Diskurs unverwechselbarer normativ geprägter Auffassungen.
Das heißt also:
Alle Fragen, vor denen wir heute und morgen stehen, seien es solche der Wirtschaftsethik, seien es solche der Ökologie und der Energiepolitik, seien es Fragen der Reproduktionsmedizin oder der Gentechnik - all solche Fragen lassen sich ohne eine Verständigung über ein normativ geprägtes Menschenbild nicht (oder nur gefährlich verkürzt) beantworten. Wer solche Fragen nur mit Zweckmäßigkeitsgründen beantworten will, verfehlt nicht nur die Antworten - sondern die Fragen selber.
Damit geraten wir aber in eine beträchtliche Verlegenheit. Denn die Ausblendung der letzten Begründungen aus unserem öffentlichen Diskurs folgte ja nicht nur aus ethischer, philosophischer oder religiöser Gleichgültigkeit, sondern sie hat ja in gewisser Weise selber einen ethischen Grund. Die, wenn man so will, weltanschauliche Neutralität des Staates ist ja motiviert von dem Versuch, beides zu vermeiden: Das religiöse Diktat des Staates ebenso wie den religiösen Bürgerkrieg im Staate.
Hinter diese Einsicht wollen und dürfen wir auch nicht zurückgehen. Aber wir hätten unsere historischen Lektionen falsch gelernt, wollten wir die Vorstellung, dass die Politik in einem freiheitlichen Gemeinwesen allenfalls das ethische Minimum mit gesetzlichen Zwang durchsetzen darf, verwechseln mit einem Zwang zu einem ethischen Minimalismus.
Vielmehr: Eine freiheitliche Gesellschaft kann nur gedeihen, wenn wir es verstehen, einen ethischen Maximalismus mit einem Maximum an Freiheit zu verbinden. Eine Freiheit, die sich dem bewussten Verzicht auf Wahrheit verdankte, wäre keine wahre Freiheit.
Die gestellte Frage lautet: "Welches Ethos braucht die Gesellschaft von morgen?" Was bedeutet nun in diesem Zusammenhang das Partikel: "von morgen?"
Zukunft kann eine Gesellschaft nur erlangen, wenn ihre Mitglieder sich in einem Zusammenhang reflektieren und interpretieren, der nicht mit ihrem eigenen Ableben abstirbt. Wem hingegen der Sinn seines eigenen Lebens mit seiner physischen Existenz vollständig erstirbt, der hat es schwer, tragende Gründe dafür zu finden, seine - auch politische und gesellschaftliche - Verantwortung weiter zu erstrecken, als über seine unmittelbare Lebensspanne hinaus. Polemisch ausgedrückt: Dem bleibt eine weiterreichende Verantwortung ein mehr oder weniger privates Vergnügen, ein - wenn man so sagen darf - ethisches Hobby ohne Verpflichtungskraft.
Ich vermute, dass diese Einsicht der eigentliche Sitz der Formel ist, die wir dem Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde verdanken - jener Formel, die in ihrer äußeren Form zunächst ganz säkularisiert besagt, die freiheitliche Demokratie lebe von Voraussetzungen, die sie aus sich heraus nicht hervorzubringen imstande sei. Wenn dies so ist, so muss sich auch die freiheitliche Demokratie den Diskurs - und dies heißt: zur Not auch den freimütigen Streit - über die letzten Begründungen unseres Handelns zumuten.
Und eben dazu, zum Streit über die Wahrheit, möchte ich Sie mit dieser Skizze einer Antwort auf die mir gestellte Frage ermutigen.