Predigt im ZDF-Ostergottesdienst

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Stellvertretende Vorsitzende des Rates der EKD - Predigt zu Johannes 20, 11-18 aus der Saalkirche in Ingelheim am 12. April 2020

Ostern ist anders, liebe Gemeinde. Ganz anders. Gähnende Leere in den Straßen. Kein buntes Treiben in den blühenden Gärten der Stadt. Kein Besuch von Familie oder Freunden. Alle bleiben für sich, daheim, mit den Allernächsten. Halten Abstand, schotten sich ab. Vorsichtshalber. Es ist zu gefährlich da draußen, heißt es, seit sie Jesus ans Kreuz geschlagen haben. Erst wenige Tage ist das her. Seitdem herrscht Ausnahmezustand bei den Jüngern damals in Jerusalem. Sie sind auf der Hut, nehmen sich in Acht. Viel zu groß ist die Gefahr, verpfiffen zu werden. Viel zu hoch das Risiko, sich zu infizieren mit der Wut der anderen; angesteckt zu werden vom Hass, der Jesus ans Kreuz brachte. Schlimmstenfalls könnten sie selbst dabei draufgehen – so wie er.

Annette Kurschus

Ja. Ostern ist anders. Ganz anders. Und zwar schon immer! Von Anfang an. Das erste Osterfest begann mit Abstand und Einsamkeit, mit Furcht und Trauer.

Maria ist die Allererste, die sich aufmacht am Ostermorgen. Die Allererste, die merkt, dass etwas nicht stimmt.

Hören wir, was der Evangelist Johannes erzählt:

Lesung: Johannes 20, 11-18

Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein 12 und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte. 13 Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. 14 Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. 15 Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. 16 Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! 17 Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. 18 Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen.

II.

Maria steht am Grab und weint. Die meisten von uns haben schon an Gräbern gestanden. Manche in
den letzten Wochen erst. Nur fünf oder zehn durften mitkommen, höchstens. Einige standen dort
vielleicht ganz allein. Allein wie Maria.

Das Grab, an dem Maria steht, ist das Grab Jesu. Sie nannten ihn Christus, und sie sagten, er sei
Gottes Sohn. Er hatte einzelne Menschen geheilt, und sie ahnten: In ihm war Gott selbst da und schuf
neues Leben. Er hatte zu ihnen gesprochen, und sie ahnten: Durch ihn sprach Gott selbst und
berührte die Herzen. Dieser Jesus, den sie Christus nannten, Gottes Sohn, der war gestorben.

Maria steht vor dem Grab und weint. Sie will Jesus nah sein. Einmal noch. Und wenn es auch nur der
tote Jesus ist.

Sie will ihm nah sein: Was hat dieser schlichte Wunsch in diesen Wochen für einen Klang! So viele
sehnen sich danach, einander nah zu sein. Berühren und sich berühren lassen, in die Arme nehmen
und umarmt werden. Es tröstet und wärmt und schützt.

Zurzeit ist leider auch das anders. Einander-nah-Sein ist jetzt vor allem gefährlich, ansteckend,
verboten. In mancher Wohnung, in mancher Beziehung, in manchem Flüchtlingslager verkehrt es sich
in quälende Enge, in gewaltsame Übergriffe, in bedrängende Not.

„Was weinst du?“, fragen zwei Engel aus dem Grab heraus. Behutsam fragen sie, fürsorglich und zart.
Aber ihre Nähe tröstet Maria nicht. Jetzt nicht. „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß
nicht, wo sie ihn hingelegt haben!“ Was für ein verzweifelter Satz in einer Zeit, in der aus Turnhallen
Intensivstationen werden und auf den Hinterhöfen mancher Krankenhäuser Kühlwagen stehen für die
Toten. „Ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben!“

Maria hat all ihre Hoffnung auf ihn gesetzt. Und jetzt ist er tot. Weg. Nicht einmal der Leichnam ist
aufzufinden. Maria stellt fest: Jesus hat mich allein gelassen.

Viele Menschen stellen das so fest, für sich, nicht nur an Gräbern: Mein Gott hat mich allein gelassen.

III.

Maria dreht sich um vom Grab – und sieht – so wird erzählt – „Jesus stehen und weiß nicht, dass es
Jesus ist.“

In diesem kleinen Halbsatz, liebe Gemeinde, steckt das ganze Geheimnis des Ostertages. Sie „sieht
Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist.“

Der Auferstandene ist da – und sie erkennt ihn nicht.

Während sie mit Haut und Haaren verstrickt ist in ihre Situation, überwältigt von ihrer Einsamkeit,
gefangen in ihrer Not - ist er längst da.

Das heißt doch: Auch wenn ich „nicht weiß“, auch wenn ich gefangen bin in meiner Situation, auch
wenn ich im Moment keinen Zugang finden sollte zum auferstandenen Christus, dann macht das
dessen Lebendigkeit nicht zunichte! Dass er lebt, hängt nicht von meinem Glauben ab. Wo ich wie
gebannt auf das starre, was mein Leben bedroht, steht er, der Lebendige, längst hinter mir und
wartet darauf, mir zu begegnen.

​​​​​IV.

Wer sich hineinbegibt in diese Ostergeschichte; wer sich buchstäblich hineinstellt in die kleine Szene, neben Maria ans Grab, und ihre Bewegungen mitvollzieht, wird eine verblüffende Entdeckung machen: An einer Stelle stimmt etwas nicht!

Maria wendet sich vom Grab um, sieht Jesus stehen, der spricht sie an, sie erkennt ihn nicht, hält ihn für den Gärtner, fragt ihn nach dem Leichnam, und Jesus ruft ihren Namen: „Maria!“.

Darauf heißt es im biblischen Text: „Sie wandte sich um“ und sagt zu ihm: „Rabbuni – Meister!“.
Seltsam – eigentlich müsste sie ihm bereits zugewandt sein, er stand ja am Grab direkt hinter ihr.

Offenbar fehlt da ein Satz. Offenbar hat es in dieser Begegnung zwischen Maria und Jesus einen Moment gegeben, den der Evangelist Johannes nicht erzählt. Einen Moment, in dem Maria losgelaufen ist, vom Grab weg, auf der Suche nach dem Toten, am Lebendigen vorbei.

Doch der Auferstandene unterbricht ihren Lauf, sagt ihren Namen: „Maria!“. Dabei muss er sich nach ihr umgedreht haben, sie ist doch gerade an ihm vorbeigelaufen. Er, der Auferstandene, wendet sich um und ruft ihr hinterher. „Maria!“. Sie hört ihren Namen, hält inne, dreht sich um, und jetzt – endlich - stehen sie einander gegenüber. Jetzt – endlich - treffen sich ihre Blicke. Jetzt – endlich - sehen sie einander an. Jetzt – endlich – erkennt sie ihn. Als sie merkt: Er kennt mich! Sie muss nicht mehr suchen, sie ist ja gefunden. Sie braucht nicht mehr dem Toten nah zu sein, der Lebendige ist ja da und berührt sie mit seinem liebevollen Blick. Kann es größere Nähe geben?

In diesem winzigen Moment der Geschichte steckt Ungeheuerliches. Das Heil der Welt liegt darin; deine und meine Zukunft: Gott selbst wendet sich um nach dir und nach mir, ruft uns hinterher. Gott seinerseits findet uns, während wir ihn verzweifelt suchen. Gott gibt sich zu erkennen, indem er dich und mich beim Namen nennt. „Dich meine ich. Du liegst mir am Herzen. Dich lasse ich nicht im Stich.“

V.
Maria erkennt ihn. Und jetzt will sie ihm wieder nah sein, so wie früher. Nichts hat sie sich doch sehnlicher gewünscht.

Jetzt – endlich – will sie ihn wieder berühren. Umarmen. Ihn am liebsten nie mehr loslassen.

Aber der Auferstandene sagt: „Rühr mich nicht an!“

Das klingt hart und streng. Ganz anders als das liebevolle „Maria!“.

„Rühr mich nicht an!“: Ein traurig vertrautes Verbot in dieser Zeit!

Menschen kommen uns vor Augen, voller Sorge, einsam, strikt isoliert.

Womöglich, liebe Gemeinde, sind diese Worte der Clou an der ganzen Sache. Womöglich liegt ausgerechnet in diesem Nicht-Berühren-Dürfen die Kraft des Ostergeheimnisses. Nähe, die mehr ist als Anfassen und Umarmen. Nähe, die auch dann gewiss bleibt, wenn wir uns – so wie jetzt – körperlich nicht nah sein können oder dürfen.

„Rühr mich nicht an!“: Ohne dieses Verbot des Auferstandenen bliebe Ostern trügerisch und missverständlich. Ein Jesus, den Maria umarmen, be-greifen und festhalten könnte, müsste irgendwann doch wieder sterben. Maria aber begegnet dem Auferstandenen. Für ihn ist der Tod Vergangenheit, ein für alle Mal. Sie kann und darf ihn nicht festhalten, als wäre wieder alles beim Alten. Sein Leben ist nicht wie vorher. Das Leben ist neu. Auch für uns.

Der Auferstandene sagt: „Ich rufe dich bei deinem Namen. Du gehörst zu mir. Im Leben. Im Sterben.
Und durch den Tod hindurch.

VI.
Ostern ist anders, liebe Gemeinde. Rettend anders. Heilsam anders.

Und: Ostern macht anders.

Ostern verändert. Dich und mich. Und die ganze Welt. Wie auch immer uns unsere Wege führen: Wir
gehen auf das Leben zu.

Die Frau, die weinend am Grab stand und gefangen war in der Welt des Todes, bleibt nicht die Alte.
In sie kommt neues Leben. Schon jetzt.

Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem
Gott und eurem Gott. Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: »Ich habe den Herrn gesehen«.

Maria will es nicht für sich behalten. Sie muss davon erzählen. Anfassen, berühren, be-greifen kann und darf sie ihn nicht. Aber ihr Herz ist berührt durch die Liebe des Auferstandenen. Ihr Leben ist berührt durch eine neue Aussicht, die stärker ist als der Tod. Ihr Glaube ist berührt durch eine Hoffnung, die über alles hinausgeht, was wir zu denken vermögen.

Und wenn wir gleich, am Ende des Gottesdienstes, mit unzähligen Menschen in ganz Deutschland gemeinsam singen und musizieren: „Christ ist erstanden von der Marter alle. Des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein!“ - dann mag es geschehen, dass dieser alte Osterhymnus uns ganz neu berührt. Dass im Singen und Musizieren etwas mit uns geschieht. Dass wir spüren: Es reißt uns mit – weit hinaus über unseren kleinen Mut und unsere zaghafte Hoffnung. Nicht nur in dieser verrückten Zeit. Das gebe der lebendige Gott.

In diesem Sinne: Ein ganz anderes, hoffnungsvolles Osterfest. Amen.