Jedes menschliche Leben ist geliebt (Lukas 2, 1 – 21)

25. Dezember 2002

Millionen Menschen hören in diesen Tagen wie jedes Jahr auf die Weihnachtsgeschichte (Lk. 2, 1 – 21). Was ist das, was an dieser Geschichte so fasziniert? Was ist so spektakulär an der Erzählung von der Geburt eines Kindes in einem Stall in Bethlehem in der römischen Provinz Palästina vor mehr als 2000 Jahren?
Die geschilderte Tatsache selbst ist unscheinbar und hat sich im Laufe der Geschichte so oder so ähnlich tausendfach ereignet. Nur dadurch, dass die Ereignisse um Maria und Joseph und die Geburt ihres Sohnes Jesus in die Verheißungsgeschichte Gottes hineingestellt werden, bekommen sie einen Sinn, der alle Menschen betrifft. Wenn dieses Jesuskind nicht irgendein Kind ist, sondern wenn in ihm Gott selbst sich in Raum und Zeit materialisiert, ein lebendiger Mensch wird, dann fällt von ihm ein völlig neues Licht auf jedes menschliche Leben. Jeder Mensch trägt in sich die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, nach Frieden und Gerechtigkeit. Wenn das Licht der Ewigkeit auf die verlorene menschliche Existenz fällt, dann wird diese Sehnsucht gestillt.

Beim Propheten Jesaja lesen wir (Jes 9, 5+6): „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“ In dem Kind in der Krippe ist diese Verheißung wahr geworden. Das Jesuskind schenkt jedem menschlichen Leben Sinn.

Die Geschichte von der Geburt Jesu hat in ihrer Schlichtheit etwas Unscheinbares. Ganz unspektakulär wird hier erzählt, wie ein Mann mit seiner hochschwangeren Frau in seine Heimatstadt Bethlehem pilgert, um an einer Volkszählung teilzunehmen. Die Straßen sind überfüllt, die Häuser auch. Sie finden keinen Platz in der Herberge. So bleibt ihnen nur der Stall, in dem das Kind zur Welt kommt. Das ist ein Schicksal unter ungezählten. So wird es manchen ergangen sein. Tausende waren unterwegs und sind es bis auf den heutigen Tag. Romantisch war es dort in Bethlehems Stall sicher nicht, auch dann nicht, wenn wir uns Ochs und Esel hinzudenken. Aber immerhin hatten sie ein Dach über dem Kopf. Ob wir in dem Erzählten nun das Flüchtlingselend einer jungen Familie sehen oder aber diese Geburtsszene im Stall romantisch verklären, so bleibt es doch auf den ersten Blick eine gewöhnliche Geschichte. Von der Herrlichkeit des Gottessohnes ist da noch nichts zu spüren. Um den Heiland der Welt zu sehen, dafür müssen uns erst die Augen geöffnet werden. Der Heilige Abend verflüchtigt sich sonst im Einerlei des Alltags oder im Kerzenschein und Lebkuchenduft. Ohne den Blick für das Besondere wird Weihnachten schnell zu einem Fest der inszenierten Heimeligkeit in der Familie und vielfach auch der Langeweile. Wie aber können wir die Botschaft der Weihnacht recht verstehen?

In der Weihnachtsgeschichte des Lukas ist es ein Engel, der den Hirten die Augen für das Ungewöhnliche und Heilige dieses Abends öffnet. Was dieser Bote verkündigt, ist frohe Botschaft, ist Evangelium: „Fürchtet euch nicht!“, spricht er – „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird“. Es ist keine schlechte Kunde, es sind keine 20-Uhr-Nachrichten von Krieg, Gewalt und Katastrophe, es ist nichts Erschreckendes. Es ist vielmehr die Botschaft von der Geburt des Heilandes und Retters der Welt. Die Hirten erschrecken sich dennoch, weil hier etwas von der göttlichen Wirklichkeit hineinstrahlt in ihre armselige Welt zwischen nächtlichem Wachen und des Tages Last. Blitzartig scheint es auf. Für die Hirten, die das erfahren haben, ist die Welt eine andere geworden.

Die Botschaft der Weihnacht hat auch schon unser Leben verändert. Wo wären wir heute, wenn Gott nicht in Jesus Christus in diese Welt gekommen wäre? Gott hat in der Menschwerdung Jesu Christi die Menschheit angenommen. Dies ist der tiefere Grund dafür, dass wir Menschen angefangen haben zu lernen, ohne Ausgrenzungen zu leben. In Christus wird jede Arroganz zwischen Mann und Frau, zwischen deutschen und ausländischen Mitbürgern überwunden. Es gibt keine Unterscheidung zwischen wertvollen oder wertlosen Menschen. Diese Entwicklung, jeden Menschen für unendlich wertvoll zu achten, geht von Jesus Christus, seiner Menschwerdung aus. Das hat viele praktische Konsequenzen. Ich nenne nur eine. So ist etwa der Handel mit Organen lebender Menschen – wie jüngst auf einem Kongress gefordert – unmöglich und darf nicht zugelassen werden. Jeder Mensch ist geliebt und unendlich wertvoll. Wir können unseren Körper und unsere Organe nicht verkaufen. Sie sind unbezahlbar. Wir gehören auch nicht uns selbst, sondern Gott.

Die Weihnachtsbotschaft macht uns frei von Schuld und Zwängen, die wir uns selbst und untereinander auferlegen. Seit 2000 Jahren breitet sie sich aus. Wo Gott zur Welt kommt, gibt es keine Geheimniskrämerei mehr. Die Geburt des Kindes geschieht zwar im Verborgenen. Die Nachricht von der Niederkunft des Retters der Welt aber will weitergetragen werden. Die Hirten, die das erfahren haben, erzählten es weiter. Und auch wir werden zu Boten Gottes, wenn wir davon erzählen, wie uns die Liebe Gottes angerührt und in unserem Leben Gestalt gewonnen hat. Weihnachten ist das Fest, wo die Liebe des menschgewordenen Gottes öffentlich gemacht wird.

Diese frei und froh machenden Botschaft weiterzuerzählen, ist das eine. Das andere ist das Lob zur Ehre Gottes. In der Weihnachtsgeschichte stimmen die Engel dieses Lob an, und wir dürfen einstimmen mit den Liedern, die wir an den Weihnachtstagen in den Gottesdiensten singen. In dem Lob der himmlischen Chöre kommen Himmel und Erde gleichermaßen in den Blick: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Seit dieser Heiligen Nacht berühren sich Himmel und Erde. Herrlichkeit und Ehre sind bei Gott. Und Friede ist auf Erden durch das Kind im Stall, den Friedensfürsten, den Heiland der Welt. – Beides gehört untrennbar zusammen: Wo Gott allein die Ehre gegeben wird, da stellt sich der Friede, der höher ist als alle Vernunft, von selbst ein. Unfriede und Krieg aber sind dort, wo wir Menschen uns absolut setzen und auf Kosten anderer leben, wo das Gesetz des Stärkeren reagiert und wir unsere Interessen wahren wollen: unseren Lebensstandard, die Interessen des jeweiligen Kulturkreises, die Interessen unserer westlichen Industriegesellschaft. Friede auf Erden – das meint nicht nur den inneren Seelenfrieden. Es ist wichtig, seinen Frieden gefunden zu haben, und es ist noch viel wichtiger, den Frieden mit Gott gefunden zu haben. Denn mein Herz ist unruhig, bis es Ruhe gefunden hat, Herr, in Dir. (Augustinus) Zu beidem gehört aber auch der äußerliche und ganz irdisch gemeinte Frieden mit den anderen Menschen. Das ist der Frieden in den Familien und zwischen den Generationen, der soziale Frieden und der Frieden zwischen Völkern und Staaten.

Wir leben noch immer in einer friedlosen Welt. Und es ist erschreckend, dass die Gegend dort um das Hirtenfeld von Bethlehem, wo der Lobgesang der Engel erklang, heute eine der friedlosesten auf der Welt ist. Wenn Joseph und die schwangere Maria in diesen Tagen unterwegs nach Bethlehm wären, dann müsste Weihnachten ausfallen. Mindestens die Geburt im Stall zu Bethlehem, könnte Weihnachten 2002 nicht stattfinden. Vielleicht wären die beiden noch von Nazareth bis nach Jerusalem gekommen, aber sicher nicht bis nach Bethlehem. Spätestens beim Checkpoint am Rahelsgrab gäbe es kein Durchkommen für sie. Für sehr viele Frauen, auch in Wehen hat es in den letzten beiden Jahren kein Durchkommen an israelischen Checkpoints gegeben. Einige Male sind nicht nur die Kinder am Checkpoint zur Welt gekommen, sondern leider sind die Kinder oder die Mutter oder auch beide gestorben, weil sie nicht mehr rechtzeitig in ein Krankenhaus gelangen konnten. Was leben wir in einer waffenstarrenden und in Hass verhärteten Welt, die sogar die Erfüllung der Verheißung von der Geburt des Messias in Bethlehem heute unmöglich machen würde. Umso nötiger brauchen wir den Frieden, von dem die Engel auf den Feldern  bei Bethlehem gesungen haben: „Ehre sei Gott und Friede auf Erden!“

Unsere Sorge richtet sich in diesen Wochen auch auf die Situation im Irak. Der dort drohende Krieg ist das Gegenteil von dem Frieden, der durch die Geburt Jesu Christi zur Welt gekommen ist. Ein Präventivkrieg ist christlich-ethisch nicht zu begründen. Mit Gott auf den Fahnen ist nur Frieden zu stiften, kein Krieg. Gottes Ehre und Herrlichkeit sind nicht unnahbar. Zu Gottes Herrlichkeit gehört seine Vaterliebe, die er in seinem Sohn gezeigt hat. Ja, ohne diese Liebe ist Gottes Herrlichkeit und auch sein Frieden nicht zu verstehen.

Frieden, so wie ihn Gott meint, ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg. Dieser Frieden ist vielmehr der vollkommene Frieden. Er ist „Schalom“: Unversehrtheit, Heil und Segen für die ganze Schöpfung in Übereinstimmung mit Gott,  für alle Menschen, Frauen und Männer, Einheimische und Fremde. Dieser Frieden hat seinen Grund in der Liebe, die am Heiligen Abend in Jesus Christus zur Welt gekommen ist. Wenn wir dieser Liebe in unseren Herzen Raum geben und sie hinaustragen in unsere Welt, dann wird Frieden. So zeigt der Lobgesang der Engel seine Wirklichkeit hier auf Erden, und die Heilige Nacht erleuchtet mit ihrem hellen Schein bereits den anbrechenden Tag.  
     
Dieser Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen