Predigt im Neujahrsgottesdienst im Dom zu Berlin (Lukas 4, 16-21)

01. Januar 2003

Es gilt das gesprochene Wort!

Und Jesus kam in der Kraft des Geistes
wieder nach Galiläa, und die Kunde von
ihm erscholl durch alle umliegenden Orte.
Und er lehrte in ihren Synagogen und
wurde von jedermann gepriesen.
Und er kam nach Nazareth, wo er auf-
gewachsen war, und ging nach seiner
Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und
stand auf und wollte lesen.
Da wurde ihm das Buch des Propheten
Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat,
fand er die Stelle, wo geschrieben steht
(Jesaja 61, 1,2):
Der Geist des Herrn ist auf mir,
weil er mich gesalbt hat,
zu verkündigen das Evangelium den Armen;
er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen,
dass sie frei sein sollen, und den Zerschlagenen,
dass sie frei und ledig sein sollen,
zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.
Und als er das Buch zutat, gab er’s dem
Diener und setzte sich. Und aller Augen
in der Synagoge sahen auf ihn.
Und er fingt an, zu ihnen zu reden:
Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.

1.
„Ein gutes Neues Jahr, ein gesegnetes Neues Jahr“ wünscht man sich heute. Karten und Briefe mit diesen Wünschen sind verschickt worden an liebe Menschen, an Geschäftspartner, an Kolleginnen.
Auch hier in diesem Dom werden solche Wünsche ausgesprochen. Die Gebete erflehen Bewahrung und Erfüllung für 2003.
Auch die Predigt zum Neuen Jahr wird von den Wünschen sprechen. Der Bibelabschnitt, der dieser Predigt zugrunde liegt, ist voller Wünsche für das kommende Jahr. Jesus selbst hat sie gelesen aus der Heiligen Schrift – er lässt sich die Rolle des Propheten Jesaja geben, heißt es im Lukasevangelium und liest:

„Die Gefangenen sollen frei sein;
die Blinden sollen sehen,
die Zerschlagenen sollen frei werden
von ihrer Qual.“
Überwältigende Wünsche sind es. Denn das „Gnadenjahr des Herrn“ wird angesagt. So lautet die Bezeichnung für das Neue Jahr: Gnadenjahr des Ewigen Gottes, der sich bekannt gemacht hat mit Namen. Ich bin für euch da ist sein Name.
Ich bin für euch da – auch im Neuen Jahr. Darum Gnadenjahr.
In der Sprache Israels ist es das Jahr, da die Schulden erlassen werden sollen.
Jenes siebente Jahr, da der Boden ruht, nur das hergibt, was auf ihm wächst ohne Saat und Ackerei, während der Boden sich erholt für neue Ernten.
Ein Rest jener alten Vorstellung steckt dahinter, dass der Boden Gott gehört, den Menschen nur geliehen, um ihn zu bebauen. Nach 7 mal 7 Jahren, jedes 50. Jahr sollten die Sklaven freigelassen werden – zum Zeichen, dass niemand auf ewig seiner Würde beraubt sein darf.

2.
Befreiung lautet die Botschaft – und in der Lesung Jesu heißt es ausdrücklich so:
Der Geist Gottes treibt den Propheten,
„zu verkündigen das Evangelium- die gute Nachricht – den Armen.“

Die Armen erleben Freiheit, so lautet das prophetische Versprechen. Das Wunder der Erlösung ereignet sich an ihnen.
Ob das unserer Sehnsucht für das Gnadenjahr 2003 entspricht?
Den Armen sei es ja gegönnt. Wir aber wissen doch, wie es aussieht in der Welt: Ein Drittel lebt in akutem Elend. Ein weiteres Drittel in unsicheren Verhältnissen. Die Nachrichten der letzten Zeit verheißen nichts Gutes.
Terrorismus greift über auch auf Regionen, in denen es bisher friedlich zuging.
Bin Laden und seine Ideologie werden in Afrika von vielen als Hoffnung gesehen gegen die Länder des Nordens. Extremisten missbrauchen religiöse Überzeugungen.
Gerade während sich kleine christliche Gemeinden in Pakistan und Indien am Heiligen Abend zusammenfanden, um die gute Nachricht für die Armen, die Botschaft vom „Frieden auf Erden“ zu hören, wurden sie von Fanatikern angegriffen und getötet. Die christlichen Minderheiten gelten als die Sündenböcke und Kollaborateure mit den USA und dem Westen. Polizeischutz ist in solchen Fällen sicherlich erforderlich – so wie hierzulande alle jüdischen Einrichtungen unter ständigem Polizeischutz stehen müssen.
Aber den Armen hilft das natürlich nicht. Denn zudem gehören zumeist auch die aufgehetzten Täter zu den Armen. Der Einsatz militärischer Gewalt bewegt nichts zum Positiven. Ich hoffe, die Regierenden widerstehen der Verlockung.
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Auch wir in unserem Land, die wir zu jenem 3. Drittel gehören, das auf‘s ganze gesehen in einigermaßen gesicherten Verhältnissen lebt, - wir erleben weitere Bedrohungen, die sich gegen die Armen richten. Die Zahl der Arbeitslosen und auf Sozialhilfe Angewiesenen steigt immer noch.

Ich jedenfalls wünsche mir mehr Mut zu Reformen. Alle gesellschaftlichen Kräfte müssen sich lösen aus der Erstarrung der Besitzstandswahrung. Das kommende Jahr bietet die Chance zu längst fälligen Veränderungen im Bereich der Gesundheits- und Sozialpolitik. Das wird aber nur gelingen, wenn mehr persönliche Verantwortung übernommen wird. Der menschlichen Wärme in unserem Land tut es gut, wenn alle nach ihren Kräften sich zu einem neuen Aufbruch entschließen könnten.

Die Chancen sind da – aber ein Gnadenjahr 2003? Das scheint jedenfalls ein übertriebener Begriff – denn die, denen es einigermaßen gut geht, wären ja schon zufrieden, wenn es nicht schlechter wird.

Oder sind die geschilderten Erwartungen des Gnadenjahres gar deshalb unrealistisch, weil wir die eigentliche Brisanz der Botschaft noch gar nicht richtig verstanden haben?

3.
Die Szene in Nazareth spitzt die Prophetenbotschaft auf eine ganze verblüffende Weise zu. Es heißt dort:

„Und als er das Buch zutat,
gab er’s dem Diener und setzte sich
und aller Augen in der Synagoge
sahen auf ihn.
Und er fing an, zu ihnen zu reden:
Heute ist dieses Wort der Schrift
erfüllt vor unseren Ohren.“

Punkt.
Das war Jesu Predigt.
Es ist alles gesagt.
So kurz möchte ich predigen können.

Heute ist das erfüllt. Gnadenjahr des Herrn. Der Mann in der Synagoge von Nazareth steht dafür – mit seiner ganzen Person.
Nicht dass er alle überzeugt hätte. Sie warfen ihn aus seiner Vaterstadt hinaus, heißt es im Anschluss an diese Geschichte.
Und Jesus selbst sagt: „Der Prophet gilt nichts in seiner Vaterstadt.“

Das ist ja nicht einfach Undankbarkeit und Torheit der Leute in Nazareth. Sie sind wohl genauso gespalten wie wir.
Schaut euch doch die Welt an wie sie ist, dann weiß man doch, was davon zu halten ist, wenn einer die Träume vom Himmel verspricht.

Da müsste schon Gott selber eingreifen – aber doch nicht dieser da, was maßt der sich an? Den kennen wir doch von Kinderbeinen an. An ihm ist nichts Besonderes. Träumen dürfen wir, möchten wir. Aber dass Träume wahr werden, das darf jedenfalls nicht einer behaupten mit einem Satz – und ohne Beweise.

Aber es gab ja damals nicht nur die Menschen aus Nazareth, die den Sohn ihrer Stadt vertrieben haben. Es gab auch die anderen, die Armen, die ihm gefolgt sind; die Fischer und Zöllner; die ungeachteten Frauen. Sie haben es begriffen: Heute, mit diesem Jesus ist Gottes Gnadenwelt mitten unter uns. Sie haben begriffen, worauf Gott sich einlässt und auf wessen Seite er steht: auf Seiten der Gefangenen, der Blinden, der Zerschlagenen. – Und auf wessen Seite sie hinfort zu stehen haben.

4.
Die Botschaft – heute gelesen – will uns anbieten: Lasst euch auf diesen Jesus ein und auf das, was er sagt. Dann werdet ihr frei – von den Abgründen in euch selbst und von euren falschen Götterbildern.
Wir können sie von uns tun, die selbstgemachten und uns eingeredeten Götterbilder:

  • Diese Götter in Gestalt von Aktienkursen und Euronoten, in Gestalt von Raketen, Schnellfeuergewehren und Flugzeugträgern;

  • Götter in Gestalt eines als Ikone verehrten Bin Laden und der Ungeist fanatischer US-Fernsehprediger, die die Seelen mit apokalyptischen Schreckensbildern auf Krieg einstimmen;

  • Götter in Gestalt von Meinungsumfrageergebnissen und Zeitungsschlagzeilen, die dazu verführen, nicht mehr zu tun, was wir sagen, und nicht mehr zu sagen, was wir tun.

 

„Dein Gott ist, woran du dein Herz hängst“ hat Martin Luther gesagt.

Das Gnadenjahr bricht heute an, wenn wir diese Götter in uns und unter uns entlarven.

Die Sucht nach selbstgemachten Bildern spiegelt sich auch in den Mitteilungen jener Sektenfrau, ein Klonkind sei geboren. Die Mitteilung zeigt, welcher Geister sich auch die angeblich wertfreie Wissenschaft bedient. Die Warnungen vor menschlichem Schöpferwahn und Allmachtsgelüsten sind nicht unbegründet.

Ein wenig jedenfalls sollte auch in unsere Gesellschaft abfärben von der Ausstrahlung Jesus Christus. Die Werte, die er verkörpert, werden oft genug angemahnt von denen, die im Lande zu sagen haben.

Also: Der Wunsch für 2003:

Wir müssen auch in der politischen Debatte zurückfinden zu seriösen Auseinandersetzungen. Politik darf sich nicht darin erschöpfen, Gegner lächerlich zu machen oder zu verunglimpfen. Die Politik ist auf die Achtung der Andersdenkenden angewiesen.

Das ganz Geheimnis Jesu besteht darin:
Lass los, was du bisher als Bild hattest. Mach’ es wie Abraham, gehe in ein neues Land. Das ist der Weg für das neue Jahr. Es ist nicht der Weg ins Schlaraffenland – es ist gerade nicht der Weg zur Erfüllung der meisten Wunschphantasien, welche die Menschen äußern für 2003.

5.
Der Weg, der vor uns ist, ist ein Wüstenweg, immer auch mit neuen Krisen.
Aber es ist der Weg mit gutem Geleit.
Ein Weg mit dem, der gesagt hat:
„Heute ist das erfüllt.“

Und wir erkennen: Arm sind auch wir.
Wir haben keine Erklärung für diese Welt. Wir begegnen sowohl dem Leben, als auch dem Tod. Wir erleben sowohl heilende friedenstiftende Menschen, als auch zerstörende tötende.
Das Wunder des Evangeliums ist erfüllt und zugleich steht es noch aus.
Glauben heißt: Auf beiden Seiten zugleich stehen. Sterben und auf das Leben vertrauen. Leiden und doch Freude erfahren.

Zwei Wege gehen die Heiligen zu allen Zeiten: Auf jedem stärken sie sich für den jeweils anderen.
Der eine ist der Weg nach innen, der Weg des Gebetes und der Stille; des Hörens und der Konzentration.
Der andere Weg ist der nach außen, der Weg des Dienstes, der Aktion, des Handelns und des entschlossenen Kampfes.
Immer führen die Wege durch die Wüste.
Innen erleben wir unsere Schwäche und Inkonsequenz,
außen unseren Misserfolg und die menschliche Bosheit.

Die Entscheidung für diese Wege ist der Weg des Glaubens: Immer an der Seite der Armen. Immer an der Seite Christi - der auch unsere Schwächen annimmt.

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Unsere Stärkung auf dem Weg kommt aus der Tiefe, wo Vertrauen und Weisheit wohnen.

Gnadenjahr des Ewigen

Lasst uns gespannt sein auf das neue Jahr.
Wir bekommen Zeit geschenkt.
Wir können sie nutzen.
Wir brauchen nicht vor uns selbst zu fliehen, sondern können uns annehmen, weil wir von Gott angenommen sind.
Wir können die Zeit nutzen, wenn wir uns nicht fesseln lassen von der Sorge um privates Glück – sondern offen sind für die Sorgen und die Nöte der Welt.
Wir werden nicht vergeblich leben, denn wir gehen in ein Gnadenjahr des Herrn.
Amen.