Predigt zum Sonntag Sexagesimae in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg (Lukas 8, 4-15 )
23. Februar 2003
Ein merkwürdiger, ein verschwenderischer Sämann
Rein jahreszeitlich sind wir von der Geschichte in unserem heutigen Predigttext noch etwas entfernt. Noch ist es zu früh, mit Joseph Haydn und seinen „Jahreszeiten“ das schöne Lied anzustimmen: „Schon eilet froh der Ackersmann zur Arbeit auf das Feld…“ Trotzdem werden wir heute das Gleichnis vom Sämann hören. Und dann werden wir nicken und sagen: „So ist es! Da bringst du eifrig den Samen aus, aber vieles geht daneben, und nur aus wenigem wird am Ende etwas. Wie so oft in unserem Leben – und in unserer Kirche. Schade drum. Pech gehabt!“ Aber ob es darum in unserer Geschichte wirklich geht – um Frucht und Frust? Hören wir zunächst den Predigttext im Lukas-Evangelium, Kapitel 8, 4 – 15:
LUT Luke 8:4 Als nun eine große Menge beieinander war und sie aus den Städten zu ihm eilten, redete er in einem Gleichnis: 5 Es ging ein Sämann aus, zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges auf den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen's auf. 6 Und einiges fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. 7 Und einiges fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten's. 8 Und einiges fiel auf gutes Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Als er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre!
9 Es fragten ihn aber seine Jünger, was dies Gleichnis bedeute. 10 Er aber sprach: Euch ist's gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu verstehen, den andern aber in Gleichnissen, damit sie es nicht sehen, auch wenn sie es sehen, und nicht verstehen, auch wenn sie es hören. 11 Das Gleichnis aber bedeutet dies: Der Same ist das Wort Gottes. 12 Die aber auf dem Weg, das sind die, die es hören; danach kommt der Teufel und nimmt das Wort aus ihrem Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden. 13 Die aber auf dem Fels sind die: wenn sie es hören, nehmen sie das Wort mit Freuden an. Doch sie haben keine Wurzel; eine Zeitlang glauben sie, und zu der Zeit der Anfechtung fallen sie ab. 14 Was aber unter die Dornen fiel, sind die, die es hören und gehen hin und ersticken unter den Sorgen, dem Reichtum und den Freuden des Lebens und bringen keine Frucht. 15 Das aber auf dem guten Land sind die, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld.
Nicht wahr, das haben wir schnell verstanden: Man streut den Samen aus – und vieles geht daneben, bringt also ganz folgerichtig keine Frucht. Wir haben verstanden!
Das Merkwürdige ist nur: Die Jünger, ausgerechnet die Jünger Jesu haben es nicht verstanden, obwohl die doch der altertümlichen Landwirtschaft noch viel näher waren als es wir vestädterten Menschen mit unserer heraufziehenden Gen-Food-Produktion sind.
9 Es fragten ihn aber seine Jünger, was dies Gleichnis bedeute.
Das ist doch eine sonderliche Geschichte. Diese Jünger standen der Landwirtschaft näher als wir – vor allem aber standen sie Jesus von Nazareth näher als wir. Und trotzdem verstehen sie diese so einfache Geschichte nicht auf Anhieb.
Nun setzt Jesus an – und erklärt ihnen die Geschichte in einem zweiten Anlauf etwas ausführlicher. Aber – offen gestanden: Dadurch wird, so erscheint es uns, wird die Geschichte erst recht unverständlich.
Aber nun gehen wir selber noch einmal Schritt für Schritt vor, und zwar von Anfang an:
Der Sämann wirft den Samen aus. Einiges fällt auf den Weg, anderes auf den Felsboden, wiederum anderes zwischen die Dornen. Aus alledem wird nichts: was daneben fällt, wird zertreten und gefressen, oder es verdorrt und erstickt. Nur einiges kommt auf gutem Boden an – und trägt hundertfach Frucht, was übrigens bei den damals im Heiligen Land und Landbau verwendeten Getreidesorten rein agronomisch ein echtes Wunder gewesen wäre.
Nun, wir wissen, das ist ein Gleichnis. Und deshalb ersetzen wir die wörtlichen Bilder durch das, was mit ihnen wirklich und also geistlich gemeint ist – denn schließlich sind wir hier in der Kirche und nicht in der Landbauschule.
Und deshalb heißt es:
11 Das Gleichnis aber bedeutet dies: Der Same ist das Wort Gottes.
Nun aber können wir gewissermaßen selber weiterdenken. Das Wort Gottes fällt also nur zu oft auf den Weg, auf die Felsen, zwischen die Dornen – es wird zertreten, verdorrt und erstickt. Und folglich ergibt sich daraus: Wir selber sind eben so plattgewalzt wie die Wege, so hart wie die Felsen, so struppig wie die Dornen. Da kann doch das Wort Gottes in uns nicht gedeihen. Wir lassen es einfach nicht in uns hochkommen. Nur bei ganz wenigen trägt es Frucht – dann aber hundertfach.
Dazu ist nun dreierlei zu sagen:
Zum ersten: Offenkundig stimmt das ja mit unserer eigenen Erfahrung überein.
Zum zweiten: Aber das stimmt so offenkundig, dass man dafür eigentlich kein Gleichnis braucht – und schon gar nicht eines, das nicht einmal die Jünger Jesu auf Anhieb verstehen.
Und nun zum Dritten: In Wirklichkeit geht das Gleichnis gar nicht so weiter, wie wir es spontan verstanden haben.
Denn im weiteren Verlauf der Erklärung, die Jesus den Jüngern gibt, ist überhaupt nicht die Rede davon, dass wir Menschen so unfruchtbar sind wie ausgetretene Wege, steinige Felsen und struppige Dornen.
Sondern nun heißt es: Die Menschen selber sind die Getreidekörner! Sie selber sind es, die zertreten werden. Sie selber sind es, die gefressen werden. Sie selber sind es, die verdorren und ersticken. Und unter ihnen selber tragen nur wenige reichlich Frucht.
Im zweiten Teil des Gleichnisses, also ausgerechnet dort, wo den Jüngern eben das erklärt werden soll, was sie nicht auf Anhieb verstanden haben – ausgerechnet dort findet sich ein tiefer Bruch, eine rätselhafte Verwechslung von Wort Gottes und Mensch. Da können wir nun lange weitersuchen – und werden den Sinn doch nicht finden.
Und was machen wir da? Da treten wir einen Schritt hinter uns zurück und fragen uns, ob wir nicht an der falschen Stelle suchen. Ich bitte Sie, mir dabei zu folgen – und zwar bei einer Erinnerung an meine eigene bäuerliche Vergangenheit, als Sohn eines Landwirts:
Bei uns auf dem Hof hätten wir uns nämlich über diese Geschichte vom Sämann noch viel früher gewundert als die Jünger. Das muss doch ein merkwürdiger Sämann sein! Warum passt der denn nicht besser auf?!
Saatgut ist knapp und teuer, wie jeder Bauer weiß. Und deshalb wurde vor der Aussaat jedes Mal die Sämaschine ganz genau eingestellt, auf dass immer die richtige Menge Saatgut im richtigen Abstand in den Boden kam, nicht zuwenig – aber eben auch nicht zuviel: und ganz gewiss nicht daneben. Und selbst einige Jahre früher, als die Säleute noch mit einer umgehängten Blechschüssel (oder auch nur mit einem umgehängten Sack) um den Oberkörper übers Feld schritten, hatten sie genau zugesehen, dass sie so sparsam und exakt wie möglich die Körner auswarfen. Das haben sie auch in unseren Tagen noch getan, wenn sie einen Zwickel einsäten, in den man mit der breiten Sämaschine nicht hineinkam.
Hier haben wir es nun mit einem ganz anderen Sämann zu tun. Doch der Unterschied ist nicht der zwischen einem guten und einem schlechten Landwirt, sondern es handelt sich um den Unterschied zwischen einem Landwirt – und: keinem Landwirt.
Gott ist kein Landwirt. Er bringt kein Saatgut aus, kein wirtschaftliches Gut mit genau kalkulierter Erwartung auf Gewinn. Sondern er bringt seine Güte aus – und also: sich selber. Und das tut er ganz unvorsichtig, ganz unkalkuliert – ja geradezu verschwenderisch. Eben so, wie es ein Landwirt mit seinem knappen Saatgut niemals tun würde. Das kann man einfach nicht verstehen – wenn man es so einfach verstehen will wie die Rechnung eines Landwirts. Oder die Rechnungen, die wir alle aufmachen, als einfache Gewerbetreibende.
Das Verhalten dieses Sämannes ist also ganz anders. Und das ist ja das Eigentümliche an vielen biblischen Gleichnissen – dass sie etwas vergleichen und eben doch nicht gleichsetzen. Dass sie uns ein Gleichnis bieten – um uns etwas ganz Unvergleichliches zu zeigen. Da heißt es dann nicht: In der Landwirtschaft geht es zu wie… Sondern: Das Himmelreich ist wie… Und dann ist das Himmelreich ganz anders. So wie im Predigttext des vorigen Sonntags der Besitzer des Weinbergs ja auch gänzlich anders verfährt, als das unsere Winzer je tun würden.
Dann aber erkennen wir: So wie der Winzer am vorigen Sonntag anders belohnt, als wir das tun (und erwarten) würden, so säht der Sämann anders aus, als wir säen, als wir investieren würden. Wir investieren unser Geld – und rechnen auf Heller und Pfennig. Gott aber investiert sich selber – und das wirklich nicht zu knapp. Und er sät frei und freizügig, groß und großzügig.
Das also, diesen himmelweiten Unterschied sollen (und dürfen) wir aus diesem Gleichnis zuallererst erkennen. Und erst wenn wir dies erfahren haben, können und dürfen wir uns fragen, was von Gottes Großzügigkeit bei uns eigentlich ankommt. Dann dürfen (und sollten) wir uns fragen, wie wir mit Gottes Güte umgehen. Aber erst dann! Nicht schon dann, wenn wir meinen, Gott säe aus vorsichtiger Berechnung und aus scharf kalkulierender Gewinnabsicht. Würden wir Gott nur einen Strich durch eine Rechnung machen, wäre das ökonomisch schlecht, gewiss. Aber wie stehen wir erst da, wenn wir ihm einen Strich durch seine Güte machen.
Ein Landwirt, der auf unfruchtbaren Boden sät, der macht das einmal und dann nie wieder. Gott aber in seiner grenzenlosen Güte sät immer wieder aufs Neue, immer und immer wieder – obwohl so vieles bei uns daneben geht.
Dass so vieles daneben geht, das soll uns wohl beschämen. Dass er aber trotzdem immer wieder sein Wort und darin sich selber ausbringt, das kann uns froh und dankbar, frei – und immer wieder glücklich machen. Das kann man eigentlich nicht verstehen. Aber wollen wir es nicht einfach doch einmal verstehen?
Amen.