Festgottesdienst zum 100jährigen Bestehen der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde in Madrid (Markus 12, 28-34)
19. Oktober 2003, Madrid
Liebe Schwestern und Brüder,
mit besonderer Freude habe ich die Einladung zur Predigt in diesem Gottesdienst angenommen. So kann ich mitfeiern, wenn diese Gemeinde ihr Hundertjähriges Bestehen feiert. Ein schönes Fest ist das heute. Der Kirchenraum fasst längst nicht alle, die gekommen sind. Ich hoffe, dass die draußen im Gemeinderaum über den Bildschirm den Gottesdienst verfolgen können.
Die Geschichte der Gemeinde kennen Sie - die Verbindung auch mit dem Namen Fliedner. Über die längste Zeit dieser hundert Jahre war öffentliches Auftreten der Evangelischen Gemeinde sehr erschwert und offiziell verboten. Gott sei Dank, ist diese Zeit vorüber und ich hoffe, dass diese Zeit nicht zurückkehrt! Heute kann es auch öffentlich bezeugt werden, dass wir eine Kirche Jesu Christi sind.
Nach unserem Selbstverständnis:
sind wir Kirche, sind wir apostolische Kirche, auch, wenn wir kein päpstliches Lehramt haben und kein Weihpriestertum brauchen. In unserer Kirche wird das Wort Gottes richtig verkündet und die Sakramente werden ordentlich verwahrt.
So sage ich es für unsere Evangelische Kirche in Deutschland und für diese Evangelische Gemeinde in
Madrid.
So geht es auch heute um Gottes Wort. Predigttext ist das Evangelium für den 18. Sonntag nach Trinitatis in unserer evangelischen Kirche steht bei Markus im 12. Kapitel in den Versen 28 – 34.
Und es trat zu ihm einer von den
Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte,
wie sie miteinander stritten. Und als er
sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte,
fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?
Jesus aber antwortete ihm:
Das höchste Gebot ist das : „Höre, Israel, der Herr,
unser Gott, ist der Herr allein,
und du sollst den Herrn, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.“
Das andere ist dies: „Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst.“
Es ist kein anderes Gebot größer
als diese.
Und der Schriftgelehrte sprach zu
ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht ge-
redet! Er ist nur einer, und ist kein anderer
außer ihm;
und ihn lieben von ganzem Herzen, von
ganzem Gemüt und von allen Kräften, und
seinen Nächsten lieben wie sich selbst,
das ist mehr als alle Brandopfer und
Schlachtopfer.
Als Jesus aber sah, dass er verständig
antwortete, sprach er zu ihm: Du bist
nicht fern vom Reich Gottes. Und
niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
I.
Ein theologischer Streit ist im Gange. Jesus ist in ihn verwickelt. Aber es geht nicht um Spitzfindigkeit, es geht um Glauben und Leben, um Identität und Herkunft.
- Was ist die Mitte?
- Was ist wirklich wichtig hinter und in allem Streit?
- Woran hängt das Herz?
- Worauf stützt sich das Gewissen?
Die Antwort ist keine philosophische, sondern ein Glaubensbekenntnis: Das Schema Jisrael, "Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, ER allein", aus der Thora, aus dem 5. Buch Mose, dem Deuteronomium. Faszinierend und eindrücklich ist es; von einer Generation zur anderen soll es weitergegeben werden: "Diese Worte ... sollst du zu Herzen nehmen, ... sie deinen Kindern einschärfen", darüber nachdenken, wo du gehst und stehst, zuhause und in der Fremde. (5. Mose 6,4-7)
So ist die geistige Wurzel Israels zusammengefasst und überliefert - von Vätern und Müttern zu Töchtern und Söhnen.
So hat es auch Jesus selbst erfahren. Darum antwortet er auf die Frage nach dem vornehmsten Gebot ganz selbstverständlich mit dem Bekenntnis Israels. So hatte er den Glauben gelernt - als Sohn einer jüdischen Mutter, als Kind des Volkes Israel.
" ... der Ewige ist unser Gott, ER allein"
Mit dieser Antwort ist das Streitgespräch entschärft. Der Konsens ist festgestellt. Wären nur die gemeinsamen Wurzeln des Glaubens von Juden und Christen auch früher besser erkannt und mutiger bekannt worden, viel Leid und Kummer wäre erspart geblieben! Die schrecklichen Pogrome wären vermieden worden. Es wäre zum Holocaust nicht gekommen.
Israel und die ersten Christen haben auf die gleiche Weise ihr Leben vor Gott und untereinander zusammengefasst. Gottesliebe und Nächstenliebe - die Summe aller Gebote. Jesu und der Schriftgelehrte sind nahe beieinander. Der eine erkennt an, dass Jesus recht geantwortet hat und Jesus sagt: Du bist nicht weit vom Reiche Gottes.
II.
Bis heute noch ist dies in unserer Gesellschaft breit akzeptiert:
Die Nächstenliebe zumindest. Mit der Gottesliebe ist es etwas komplizierter.
Denn mit Gott kann mancher für sich selbst nicht allzu viel anfangen. Aber auch solche Menschen achten im allgemeinen die Gottesliebe bei anderen, wenn sie stimmig ist mit der Gestaltung des Lebens.
Also, wer Christ ist, kann nicht nur sein gutes Gottesverhältnis pflegen; glaubwürdig ist jemand erst, wenn auch die Nächstenliebe stimmt.
Und umgekehrt, Nächstenliebe würde in Beliebigkeit verdunsten, wenn sie nicht geprägt würde durch letzte Verbindlichkeit, also durch das, was wir Gottesliebe nennen.
Es muss immer zusammen stimmen:
Frömmigkeit und Tun. Es geht um Glauben und Leben.
Soweit so gut. Aber das klingt doch noch sehr allgemein. Gewichtiger und schwieriger wird's, wenn es heute konkret werden soll.
Nächstenliebe – ist nämlich gar nicht so leicht umzusetzen, bei den schwierigen Menschen, die außer uns selber noch auf der Welt sind, bei den unsympathischen, dem lästigen, den schmierigen.
Zudem ist Nächstenliebe riskant. Wir werden angesteckt von der Not und dem Leid anderer Menschen, wenn wir uns um sie kümmern.
„Wer Tränen abwischt, kriegt nasse Hände“, sagt ein afrikanisches Sprichwort.
Dann ist da noch die Schwierigkeit mit der G o t t e s l i e b e .
Entweder kostet sie nichts, weil der "liebe" Gott weit weg zu sein scheint, oder aber sie richtet sich als unbestimmtes Sehnen ins All ohne widergespiegeltes Echo.
Im jüdischen Bekenntnis ist aber Gottesliebe weder eine unbestimmte Gefühlsweise noch eine philosophische Spekulation.
"Der Ewige ist unser Gott - ER, allein"
Dieses ist der wichtige Satz, vor Gott ausgesprochen in der Gegenwart des anderen. Jesus ist Sohn seines Volkes, ist Teil des Herzens Israels auf der Suche nach angemessenem Ausdruck der Liebe zu dem Einen Ewigen.
Der ganze Mensch, mit Haut und Haar, mit Herz und Seele steht diesem Einen Gott gegenüber und verschreibt sich dieser Liebe, und die bleibt nicht bei sich selbst, sie öffnet sich hin zum Nächsten, "denn der ist wie du" (vgl. 3. Mose 19,18)
Schema! "Höre!" - Im Hören auf das Zeugnis der Schrift, im Hören auf die Worte der Väter und Mütter des Glaubens - so entfaltet sich Israels Bekenntnis.
Die Heilige Schrift, die Thora und die Propheten spiegeln die Schwere und Würde der Suche nach dem Einen und Einzigen. Und sie spiegeln die Irrtümer, die unterlaufen bei der Suche nach der Wahrheit, ebenso wie das Glück des Findens.
Große Religionen und darunter die christliche, leben von der einen, Israel gegebenen Antwort: Gott ist der Eine - und der Mensch sein Gegenüber.
Wir wissen aus der überlieferten Geschichte und aus den Unheilserfahrungen unserer Gegenwart, wie riskant das Leben in der Gottesmissachtung ist: das Leben der Ellbogen und der Gleichgültigkeit, das Leben des Brudermordes und der Unterdrückung. Dagegen steht die Einsicht: Einzig ist ER! - die Liebe ist seine Gestalt. Das ist ein Bollwerk gegen die selbstgemachten Götter und gegen die grassierende Gottlosigkeit.
III.
„Höre, Israel, dein Gott ist einer“. Das ist die Wurzel der Liebe.
Diese Wurzel aus der Erfahrung Israels ist das Bekenntnis der Befreiten.
Jedes jüdische Kind soll es eingeschärft bekommen: „Höre, Israel“, mit Herz und Sinnen. Auf die Türpfosten jüdischer Häuser steht es geschrieben, mit Gebetsriemen auf die Stirn gebunden und am linken Oberarm in der Nähe des Herzens befestigt wird dieses Bekenntnis:
„Höre, Israel, deine Befreiungsgeschichte am Anfang.
Ich bin der Ewige, dein Gott.
Aus der Sklaverei in Ägypten habe ich dich befreit.“
Jesus, der Jude, bezieht uns ein in den langen Strom des Gottvertrauens seines Volkes.
Der gekreuzigte Mann aus Nazareth, der ist es, den wir da mithören. Grundmodell des Glaubens. Unsere Befreiung von Schuld und Elend stammt aus dieser Tradition. Wir haben sein Versprechen. Unsere Lebensgeschichte trägt seine Spuren, die Spuren der Befreiung von der Sünde und dem Tod. Er leidet an unserer Stelle und nimmt von uns, was uns fesselt.
„Höre, Israel!“
Immer wieder neu entscheidet sich die Befreiung, wenn wir das hören:
Der einzige Herr. Dem schenke dein Herz! Dem gehören wir.
Wer Gott von sich weist, verdrängt ihn. An die Stelle des verdrängten Gottes treten andere Götter, nicht aus Holz und Stein. Luther nennt das des Menschen Gott, woran er sein Herz hängt. Der Tanz ums goldene Kalb wird immer wieder getanzt. Menschen jagen weit über den Lebensbedarf hinaus nach Geld, hängen alle Sicherheit an Aktienkurse und Kontostände. Einem Gott hängen Menschen auch an, die in ihre eigenen Nöte versinken und zur Flasche oder zu Tabletten greifen.
Auch wo der autonome Mensch meint, er verdanke sich nur sich selbst und sei ausschließlich sich selbst verantwortlich, wird er der Gefangene seiner selbst. Er meint, er dürfte den Menschen in seinem Leben manipulieren; er hält sich für frei, seinem Leben ein Ende zu setzen, wenn er es will. Wem wird er aufsitzen, wenn das wesentlich zu einer Frage der Pharmakologie wird? Wie werden die Generationsverträge gehalten, wenn die Verabschiedung aus dem Leben eine beliebige und ständig präsente Möglichkeit geworden ist?
Wer Gott von sich weist, schafft ein Vakuum, in das all die anderen Götter und schließlich der sich selbst vergottende Mensch einzieht.
Ich, der Ewige, dein Gott,
ich bin da,
ich bin für dich da und
ich werde da sein.
Wir brauchen Gott nicht zu konstruieren, zu denken oder zu beschwören. Er hat sich geöffnet, er ist da, er ist für uns da. Der Mann aus Nazareth ist die Gewähr, der mit den Nägelmalen, der Gekreuzigte und Lebendige.
„Höre, Israel.“ Gott, der Einzige, ist Urgrund des Vertrauens.
IV.
Gott lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit ganzem Denken, mit aller Kraft, das ist eine ganze Sache.
Gott lieben, weil wir ihm gehören.
Unser Leben hat er in seine liebende Hand genommen. Ihn nicht zu lieben, wäre absurd.
Also gilt es, JA sagen zu diesem Liebenden. Es gilt zu wählen, was wir als von ihm Geliebte schon sind: Menschen auf dem Weg der Befreiung.
Viele haben das handgreiflich erfahren in ihrem Leben, sind frei geworden von sklavischen Bindungen, haben entdeckt, dass das Jagen nach weltlicher Ehre sie oft ins Leere laufen ließ. Nächstenliebe und Gottesliebe sind zwei Seiten einer Medaille.
Gottes Liebe ist ausgegossen in unser Herz. Also, lasst uns JA sagen aus ganzem Herzen zu dem Weg, den Gott uns gehen lässt. Lasst uns JA sagen zu den Menschen, die uns anvertraut sind, zu denen, die den Weg mit uns gehen.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Das ist kein Befehl zu gleichgesinnter Stimmung. Das ist nicht emotionale Bejahung, die sich in die Arme sinkt. Liebe heißt: zugehörig sein, Phantasie entwickeln, produktiv werden, Lösungen für das Elend suchen.
Wir leben zu einer Zeit, in der ein großer Riss durch unsere Kirchen geht. Ich meine nicht den Riss der traditionellen Konfessionen, ich meine den Riss zwischen den Kirchen des Nordens und des Südens. 800 Millionen Menschen werden nicht ausreichend gesättigt. Jedes Jahr sterben 12 Millionen Kinder an
Unterernährung.
Das ist ein Riss, der uns herausfordert.
Der Riss geht durch unsere Kirche. Die einen sehen die Herausforderung, fordern auf zum Handeln und entschließen sich dazu. Da sind die anderen, die sagen: „Das geht uns nichts an“ oder: „Wir können eh nichts tun“. Dieser Riss geht vielleicht auch durch uns selbst.
Gott lieben, den Nächsten lieben: Jesus wird Gestalt in den Elenden, wir speisen und tränken und besuchen und kleiden ihn selbst, wenn wir ihnen helfen.
So fassen sich Gottesliebe und Nächstenliebe zusammen und zeigen sich in den Dunkelheiten der Welt als die hellen Lichter.