Weihnachtspredigt

Wolfgang Huber

Berliner Dom und St. Matthäus zu Berlin

- Es gilt das gesprochene Wort! -

I.

Euch ist heute der Heiland geboren. Diese Botschaft bestimmt das Weihnachtsfest. Sie hat schon die erste Weihnachtsfreude  ausgelöst. Weil Menschen diese Botschaft hörten, feierten sie Weihnachten. Sie priesen und lobten Gott. Darin bestand ihr Feiern.

Die so feierten, gehörten zu den Ärmsten der Armen. Es waren Hirten auf freiem Feld. Sie hörten und sahen am schnellsten. Dass die Ärmsten zuerst von der Geburt des Heilands hören, bleibt dem christlichen Glauben seitdem eingestiftet. Sie sollen sich vor der Zukunft nicht mehr fürchten.

Weihnachtlich geht es zu, wenn niemand ausgeschlossen wird und auch die Ärmsten im Blick sind. Ihre Sorgen aber werden größer. Ältere Menschen rechnen, ob ihre Rente reicht. Langzeitarbeitslose  sorgen sich um die Sozialhilfe. Junge Leute scheuen davor zurück, Kinder zu bekommen. Denn es heißt, Kinder könnten zum Armutsrisiko werden.

Manchmal wird auch übertrieben. Das ist immer so, wenn die Zukunftssicherheit ins Wanken gerät. Eine neue Unsicherheit breitet sich aus. Dass Gott Mensch wurde, scheint darauf keine direkte Antwort zu sein. Aber es macht gewiss, dass wir Menschen bei diesem Gott gut aufgehoben sind. Die Zukunftsgewissheit, die daraus wächst, kann uns helfen, mit Unsicherheiten und Sorgen besser, also auch mutiger umzugehen. Mut zur Zukunft, vielleicht sogar Mut zu wirklichen Reformen kann daraus wachsen. Das Ziel muss sein, dass Junge wie Alte sich vor der Zukunft weniger fürchten. Der Mut dazu wächst aus der Verheißung, dass Gott es gut mit uns meint.

Die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott. Darin bestand das erste Weihnachtsfest.  Im Lauf der Jahrhunderte ist es dabei nicht geblieben.  Wir  sind erfinderisch im Feiern. Aber es ist Zeit, sich wieder an den Kern zu erinnern: Gott zu loben und zu preisen.


II.

Im Stall zu Bethlehem fanden die Hirten den verheißenen Messias. Was sie dort sahen, brachte sie dazu, umzukehren, um Gott zu loben und zu preisen. Gewiss, im Stall von Bethlehem kann man nicht auf Dauer bleiben. In einem Stall kann kein Mensch alt werden. Zum Stall kann man zwar gehen, aber man kann dort nicht bleiben. Weder die Hirten noch die Weisen aus dem Morgenland ließen sich dort häuslich nieder. Aufsuchen, eintreten, anbeten, alles dies geht, aber zu bleiben geht nicht. So zogen die Hirten wieder los, auch die Weisen aus dem Morgenland kehrten auf einem andern Weg wieder nach Hause zurück; und auch wir heute werden uns wieder aufmachen. Wir kommen zur Krippe, wir staunen über Gottes Nähe zu uns in diesem Kind. Wir ahnen das Wunder Gottes, der nicht von oben auf uns herabkommt mit Macht und in Herrlichkeit, sondern von unten zu uns aufblickt und uns gerade so stärken, tragen, trösten will.

Aber irgendwann ist diese Gottseligkeit vorbei. Dann müssen wir wieder umkehren und in den Alltag zurückgehen, in unsere kleine oder große Welt, zu unseren Aufgaben und Verantwortlichkeiten, zu unseren Familien und Freunden. Und natürlich auch zurückkehren in unsere Kleingläubigkeit, in unsere Rechthabereien, in unsere kleinlichen Auseinandersetzungen. Werden wir dann verändert sein? Macht uns das Kind in der Krippe neu, anders, freier? Ist Weihnachten nur eine Auszeit oder ein Neubeginn?


III.

 Eine biblische Antwort auf diese Frage findet sich im neutestamentlichen Brief an Titus. Dort heißt es in knappen Worten:
„Erschienen ist die Gnade Gottes - zum Heil für alle Menschen. Sie erzieht uns dazu, die Missachtung Gottes und die weltlichen Begierden hinter uns zu lassen und stattdessen besonnen, gerecht und mit Achtung vor Gott zu leben“ (Titus 2, 11 f.).

Da wird eine sehr direkte Brücke geschlagen. Die staunenswerte Offenbarung Gottes in diesem Kind wird anständiger Alltag, die heilsame Gnade des barmherzigen Gottes wird gesittetes Normalmaß, das Wunder der Weihnacht wird tägliches Brot. Aus dem Staunen der heiligen Nacht wird das brave Leben gesitteter Bürger. Ist das die Antwort auf die Frage danach, was sich aus Weihnachten ergibt – ein anständiges christliches Leben, mehr nicht?
 
Zu schnell sollten wir darüber nicht spotten, wenn jemand darauf beharrt, dass Gottes Kommen in die Welt Folgen hat. Das Kind in der Krippe soll nicht nur angebetet, sondern auch hineingenommen werden in das Leben der Christen. Unser christliches Leben muss erwachsen werden – wie ja auch Jesus, das Kind in der Krippe, erwachsen wurde. Nach Galiläa und weiter nach Jerusalem führte schließlich der Weg, der in Bethlehem begann. Nicht auf „Recht und Ordnung“ in einem missverstandenen Sinn bloßer Äußerlichkeiten wird hier gepocht, wohl aber auf Gestalt und Form des Glaubens. In diesem Sinn ist die Frage, wie ein verantwortliches Leben im Licht von Weihnachten aussieht, gut und notwendig. Sonst würden wir Weihnachten bloß als Balsam für unsere Innerlichkeit verwenden, um anschließend alles so weitergehen zu lassen wie bisher: in Missachtung Gottes, gemäß den Begierden dieser Welt. Wenn sich daran etwas ändern soll, brauchen wir praktische Vorschläge. Hier sind sie: Besonnen, gerecht und mit Achtung vor Gott leben. 


IV.

Was ist damit gemeint? Ich suche die Antwort auf einem kleinen Umweg. Seit einigen Monaten wird viel über ein Buch gesprochen, das der aus Äthiopien stammende Deutsche Asfa-Wossen Asserate verfasst hat. „Manieren“ heißt der Titel dieses Buchs. Der Verfasser beschreibt Manieren, die wir uns gegenseitig gönnen oder deren Fehlen wir uns zumuten. Sein Buch ist ein „Knigge“ unserer Tage. Vor mehr als zweihundert Jahren hat der Freiherr von Knigge so etwas schon einmal versucht. Dabei geht es nicht nur um äußere Benimmregeln, sondern um eine Kultur wechselseitiger Achtung, die sich in unseren Verhaltensweisen spiegelt – oder eben auch nicht. Es handelt sich nicht nur um Förmlichkeiten; sondern in diesen Formen geht es um die Würde des anderen Menschen, um sein Ansehen und seine Achtung. An welchen Verhaltensweisen ist zu merken, dass wir einen andern weder übervorteilen noch bloßstellen wollen? Woran zeigt sich, dass wir ihm Würde und Glanz gönnen und ihm dabei helfen wollen, sein Gesicht zu wahren?

Die biblische Botschaft ist freilich noch radikaler: Nicht nur gegenüber unseren Mitmenschen, sondern auch Gott gegenüber gibt es so etwas wie gute Manieren. Auch diese Manieren sind nicht nur eine Äußerlichkeit, sondern eine geistige Haltung, ein Ausdruck des Herzens, ein Spiegel unserer Seele. So wie Jesus in der Bergpredigt sagt, dass jeder gute Baum gute Früchte bringt, müsste man fortfahren: Jeder gute Mensch hat gute Manieren und ein glaubender Christ hat glaubwürdige Manieren vor Gott. Wie sehen aber diese „guten Manieren vor Gott“ aus? Noch einmal die Antwort des Titusbriefs: Besonnen, gerecht und in Achtung vor Gott leben.

Besonnen zu leben meint nicht, züchtig zu sein in einem moralinsauren Sinn des Wortes: unerotisch, spaßfern und ungenießbar. Sondern besonnen zu sein heißt, Vertrauen aufzubauen statt es zu zerstören, verlässlich zu sein und vom andern her zu denken. Besonnenheit ist eine Form der Selbstdisziplin, die den anderen, aber auch Gott selbst vor meiner Willkür schützt. Es ist nicht freudlos, wenn wir unsere Launen nicht an anderen austoben und sie zum Spielball unserer Stimmungen machen. Man weiß es auch von der Gestaltung wie vom besonderen Risiko der Weihnachtstage, dass nichts der Freude mehr im Wege stehen kann als der Mangel an Besonnenheit. Andere belästigen statt aufzurichten, ihnen die Ehre zu nehmen statt zu geben, ist der Kern aller Unbesonnenheit. Auch vor Gott. Geistlich besonnen sind wir, wenn wir Gott verlässlich behandeln. Dann werden wir nicht nur willkürlich an ihn denken oder nur zu ihm beten, wenn gerade etwas schief läuft oder wir schlecht drauf sind. Über alle momentanen Empfindungen hinaus werden wir den anderen achten und wahrnehmen mit dem, was er ist und an Ehre verdient an Ehre. Und Gott verdient unser aller Ehre, uns selbst zum Segen.

Gerecht zu leben heißt dann, vor Gott und unserem Gewissen fair zu bleiben in dem, was wir anderen zumuten. Wir werden dann nicht Wasser predigen und Wein trinken. Wir werden die Lasten, die sich aus dem Alterswandel unserer Gesellschaft ergeben, so verteilen, dass die Schultern sie auch tragen können, denen wir sie aufladen. Wir werden nicht Löhne einfrieren oder senken, weil es in der gegebenen Lage doch nicht anders geht, aber Spitzengehälter munter weiter steigern, weil Leistung sich doch lohnen muss. Wir werden vielmehr die Zumutungen solidarisch verteilen und die Schwachen nicht im Stich lassen. Denn es gehört zu den „guten Manieren vor Gott“, dass wir uns in Politik und Wirtschaft, in Kirche und Gesellschaft um Glaubwürdigkeit bemühen. Vertrauen kann nur dort wachsen, wo auch Verantwortung wahrgenommen wird und wo Reden und Handeln nicht auseinanderklaffen.

In Achtung vor Gott leben – welche guten Manieren meint das? Gerade an dieser Stelle sind besonders deutliche Signale angezeigt. In Achtung vor Gott zu leben meint nicht, mit verklärten Augen durch den Alltag zu huschen. Es geht vielmehr darum, dass wir die Grundformen des christlichen Glaubens festhalten, wiederbeleben, anbieten und weitererzählen. Das fängt mit dem Einfachsten an: In der Bibel lesen und dies nicht nebensächlich finden; das „Vater unser“ auswendig kennen und es auch für Kinder und Enkel für zumutbar halten; über Gott und unseren Glauben reden, aufrecht und ehrlich, suchend und fragend, werbend und einladend, aber nicht schüchtern und leise. Zu unserer  Kirche gehen und stehen, auch wenn uns nicht alles an ihr gefallen kann. Es ist kein schlechter Vorsatz für das Weihnachtsfest, dass wir Gott mit „guten Manieren“ begegnen und ihm Ehre erweisen, indem wir ihn nicht missachten oder vernachlässigen. Was überhaupt gilt, das gilt eben auch in unserem Verhältnis zu Gott: Ein Volk ohne Manieren ist ein Volk ohne Würde, ohne Haltung, ohne Tiefe, und das tut keinem Volk gut.

Gesegnete Weihnachten wünsche ich Ihnen und ein frohes Fest. Im Feiern sind wir alle erfinderisch geworden. Aber entscheidend ist, dass wir wieder so feiern wie die Hirten: Sie kehrten wieder  um, priesen und lobten Gott. Amen.