Predigt im Karfreitagsgottesdienst in St. Matthäus, Sendlinger-Tor-Platz, München (Joh 19,16-30)
Johannes Friedrich
Liebe Gemeinde,
haben Sie den Film schon gesehen?
Über die Passion Jesu wird in unserem Land in diesem Jahr so viel geschrieben und gesprochen wie wohl schon lange nicht mehr. Dass an ganz weltlichen Kinos, an denen sonst für Sex and Crime geworben wird, nun in Neonfarben „Die Passion Christi“ zu lesen ist, finde ich hervorragend.
Kann uns dieses große Interesse nicht anstecken, mit den Besuchern des Films danach zu fragen, wie das damals war mit dem Leiden und der Kreuzigung Jesu Christi? Können wir den Menschen unserer Zeit jetzt verständlicher sagen, warum Jesus so grausam leiden musste?
Ich habe den Film gesehen. Und mir ist dabei wieder klar geworden: Das Leiden Jesu war entsetzlich. Dieser Jesus wurde geschunden, gefoltert und gequält. Von Menschen, die offensichtlich sadistische Gefühle hatten, wurde er so grausam behandelt, wie vorher und seitdem viele andere Menschen gefoltert und gequält, entwürdigt und getötet wurden – und bis heute werden. Wenn wir als Christen von Kreuz und Leiden Jesu sprechen: erscheint das nicht oft nur wie eine harmlose theologische Floskel oder vielleicht auch wie ein theoretisches Bekenntnis unseres Glaubens? Aber es geht doch um ein furchtbares Quälen, das Menschen einem Menschen zugefügt haben!
Das habe ich tatsächlich aus den quälenden Gewaltszenen des Filmes mitgenommen, und das will ich bewahren, wenn immer ich über das Kreuz Jesu spreche: das Ereignis der Kreuzigung Jesu als ein furchtbares Leiden nicht zu verharmlosen.
Die Tendenz der Verharmlosung begann allerdings schon in der Bibel selbst, liebe Gemeinde. Im Johannesevangelium, das wir heute in der Passion von Heinrich Schütz hören, begegnet uns ja nicht wirklich ein grausames und erschreckendes qualvolles Ende eines Menschen, sondern das hoheitsvolle, stille Verscheiden des erhöhten Christus, der schon in der Todesstunde als Sieger über die Macht des Todes gezeichnet wird. Der Film zeigt dagegen einen kaum mehr überlebensfähigen, gequälten Menschen, keinen erhöhten Gottessohn.
Er suggeriert aber auch, wer daran schuld sein soll: der jüdische Hohepriester. Er habe schließlich durchgesetzt, dass der schwache, etwas einfältige, aber eigentlich gutmütige Pontius Pilatus, der stark unter dem Einfluss seiner schönen und edlen Frau Julia steht, dem jüdischen Druck nachgibt und Jesus kreuzigen lässt.
In diesem Punkt der Bewertung des Pilatus liegt der Film mit dem Johannesevangelium auf einer Linie. Obwohl es historisch erwiesen ist, dass die Juden niemanden zum Tod verurteilen konnten und dass die juristische Verantwortung für das Todesurteil ausschließlich bei dem römischen Statthalter liegt, gab es eine Tendenz unter den Christen der ersten Jahrhunderte, die Schuld des Römers Pontius Pilatus nicht zu sehr zu betonen. Denn man lebte ja im römischen Weltreich, hatte bald schon Christenverfolgungen durch die Römer zu befürchten und wollte sie nicht noch dadurch reizen, dass man ihnen entgegenhielt, sie seien die Mörder des Gottessohnes.
Die Rolle der Juden konnte dagegen ohne Gefahr überzeichnet werden. Was lag da näher, als die jüdische Mitwirkung am Tode Jesu immer stärker in den Vordergrund zu rücken, so dass die Römer entlastet wurden!
Wir wissen alle, was aus dieser Tendenz dann im Laufe der Geschichte erwuchs. Die Judenverfolgungen durch Christen im Mittelalter, gerade in der Karwoche, waren grausam. Sätze, die die Evangelien den Juden in den Mund legten, wie der Ruf: „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“ oder noch schlimmer: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ haben dazu geführt, dass verblendete Christen meinten, dies sei eine Aufforderung, Blut von Juden zu vergießen und so Rache für den Christusmord zu nehmen.
Von dieser Tendenz, den Römer zu Lasten der Juden freizusprechen, ist auch der Film Mel Gibsons nicht frei. Und wenn jüdische Besucher des Films uns sagen, sie fühlten sich durch diesen Film belastet, können wir Christen dies nicht einfach wegwischen und behaupten, das sei nicht der Fall.
So sollten auch wir, liebe Gemeinde, immer wachsam darauf achten, wie weit unser Reden von der Passion Jesu Voreingenommenheiten gegenüber Juden fördert. Nicht „die Juden“ haben Jesus Christus getötet, sondern Menschen seiner Zeit haben den Juden Jesus ans Kreuz gebracht. Und schließlich: Er ist gestorben für unsere
Sünden. „Ich, ich und meine Sünden“ so singen wir im Passionslied, die sind es, die Jesus ans Kreuz gebracht haben.
Aber können wir das wirklich verstehen? Was habe ich mit dem Tod Jesu zu tun? Wie können wir aufgeklärten Menschen heute mit solch einem Tod, mit solch einem Toten etwas anfangen?
Bei Johannes endet die Passion mit einem majestätischen "Es ist vollbracht!"
Wie kann mir Jesu Leiden da noch etwas sagen?
Es sieht tatsächlich so aus, als sei bei Johannes der Tod Jesu als der Sieg Christi geschildert, als seine Erhöhung, die nicht viel mit Leiden, sondern eine ganze Menge mit Triumph zu tun hat.
Bei Johannes gibt es keine Schilderung des Kampfes in Gethsemane, und die Verhaftung Jesu gestaltet sich zu einem wahren Triumph über seine Feinde.
Ganz anders die Schilderung des Todes bei Markus, wo Jesus in absoluter Gottesverlassenheit stirbt – von Gethsemane angefangen bis hin zu seinem Ausruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Ich bin froh, dass ich den Tod Jesu beim Evangelisten Johannes anders verstehen kann: nämlich als Tat der Liebe Gottes zu uns und als Ausdruck der Liebe Jesu zu den Menschen. So heißt es ja schon zu Beginn seines Evangeliums. "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, ewiges Leben haben". Es ist wichtig, dass wir hier nicht nur einen für manchen unter uns heute schwer verständlichen Opfergedanken heraushören, sondern merken: Es geht hier um die Hingabe des Sohnes Gottes für uns. Das ist etwas anderes als die Rede von einem Opfertod, den ein rachsüchtiger, uns rätselhafter Gott fordert, um befriedigt zu werden. Nein, es bedeutet, dass Gott uns Menschen so liebt, dass er seinen Sohn für uns hat den Weg in den Tod vorangehen lassen, den wir alle erleiden müssen. Dadurch verliert unser Tod seinen Schrecken für uns verliert. Dadurch wissen wir, dass auch wir durch Jesu Tod bei Gott angenommen sind, trotz aller unserer Schuld.
Der 1.Johannesbrief sagt noch deutlicher als das Evangelium, was hiermit gemeint ist: "Christus opferte sein Leben für uns; daran haben wir erkannt, was Liebe ist."
(1Joh 3,16).
In Jesu Tod offenbart sich damit, wie sehr Gott uns liebt. Und wer für andere sein Leben lässt, der liebt unendlich. Im Johannesevangelium heißt es an anderer Stelle (Joh 15,13) "Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt."
Weil diese Offenbarung der Liebe Gottes im Tod am Kreuz ihren Höhepunkt hat, darum muss das letzte Wort des Sterbenden sein. "Es ist vollbracht".
Die Welt lebt in der Finsternis und liebt diese mehr als das Licht; das ist ein Bild der Bibel dafür, liebe Gemeinde, wie es unter uns Menschen zugeht: Gewalt und Hass sind unter uns; sichtbar für jeden in den täglichen Nachrichten, allzu oft zu erfahren und zu erleben im eigenen Umfeld. Deshalb muss unsere Welt auf Jesu Leben mit Widerstand reagieren, darum kommt es zum Zusammenstoß, und das heißt: Er musste am dem Kreuz enden. Die Offenbarung der Liebe Gottes im Kreuz Jesu muss dann allerdings auch notwendig in den Farben des Sieges gezeichnet werden: des Sieges des Lichts über die Finsternis.
Ein solches Bild mag für uns heute schwer nachvollziehbar sein: Der Sieg ist für uns erst von Ostern her denkbar und nicht im Tod.
Aber mit der Aussage, dass die Liebe Gottes sich in der Hingabe Jesu für seine Freunde, für uns zeigt, kann ich viel anfangen. In einer Zeit, in der Egoismus großgeschrieben wird, in der die meisten Menschen vor allem an sich selbst und nur wenig an andere denken, in der Solidarität kein bestimmendes Thema ist, da hilft es mir, wenn ich dies höre: dass Jesus die Menschen so geliebt hat, dass er bereit war, für sie einzustehen, selbst wenn dies Leiden, ja selbst wenn es seinen Tod bedeutete.
Und ich begreife: Zum Leben gehört, für den anderen einzustehen. Johannes zeigt das mit einer kleinen Szene: Kurz vor seinem Tod sorgt sich Jesus noch um andere: um seine Mutter und um seinen Lieblingsjünger, die er aneinander verweist. So hat sich Jesus bis zuletzt um die Seinen gekümmert!
Wie gut also, liebe Gemeinde, dass wir im Neuen Testament nicht nur Markus, sondern auch Johannes haben, die uns von Jesu Leiden und Sterben berichten. Hätten wir nur Markus, könnten wir schnell die falsche Folgerung ziehen, als sei Jesus in absoluter Gottverlassenheit und ohne Hoffnung gestorben. Hätten wir allerdings nur Johannes, könnte ich das furchtbare Leiden, dem Jesus ausgesetzt war, nicht begreifen, könnten Zweifel daran aufkommen, ob er wirklich wahrer Mensch war, wie wir, oder nicht eher ein Halbgott, der über die Erde schritt. Auch könnte sich schnell ein Todesverständnis einschleichen, wie wir es bei den jungen Muslimen in Palästina beobachten können, die sich als Selbstmordattentäter zur Verfügung stellen: der Tod als Krönung eines Lebens, das im Märtyrertod für die gerechte Sache die höchste Auszeichnung erhält.
Nein, liebe Gemeinde, Gott will nicht unseren Tod, nicht den ewigen, aber auch nicht den Tod in diesem Leben. Er ist ein Gott des Lebens und nicht des Todes. Und das zeigt sich paradoxerweise gerade am Karfreitag, gerade in dem Geschehen, das wir am allerwenigsten verstehen.
Der Bericht des Johannes macht deutlich: Weil Gott das Leben will, ist Jesus dem Tod für seine Schwestern und Brüder nicht entwichen, sondern hat ihn erlitten, wie ihn alle Menschen einmal erleiden müssen. Er ist uns durch den Tod hindurch vorangegangen. Weil Gott den Tod erlitten hat, hat der Tod für uns seinen letzten Schrecken verloren.
Weil Gott, wie wir es Ostern feiern werden, Sieger über den Tod ist, wissen wir: Gott will das Leben, unser Leben bis zuletzt. Darum dürfen wir uns, wo immer wir können, dafür einsetzen, dass Menschen leben können.
Wir dürfen unser Leben genießen mit all den Menschen, die wir lieben - und gleichzeitig dafür kämpfen, dass auch andere Menschen leben können, menschenwürdig leben können: Menschen, die bei uns ohne Arbeit sind oder ohne Wohnung, Menschen, die von einer Sucht gepackt sind, Menschen die als Ausländer bei uns leben, Flüchtlinge, Menschen im ehemaligen Jugoslawien oder im Irak, Überlebende des Massakers in Ruanda...
Karfreitag, das Kreuz, liebe Gemeinde, will, dass wir nachdenken über unser Leben und unser Sterben. Aber es will uns auch wieder hinausschicken in diese Welt, damit wir jenes Sterben bekämpfen, das Jesus hat erleiden müssen. Menschen sollen leben können, leben in Gottes großer Liebe zu uns, die er uns an Karfreitag und Ostern gezeigt hat. Amen.