"Sollt' ich mit Gott nicht können sein?" - Eine Andacht in Erinnerung an Eduard Mörike

Lutz Friedrichs

Die folgende Andacht ist im Kirchenamt der EKD am 10. Mai 2004 gehalten worden. Sie hat drei Schwerpunkte, die auch szenisch-räumlich zum Ausdruck kommen: 1. Die Rezitation von Gedichten von einem Ort aus, der im Gegenüber zum Altar liegt, 2. die Vertonung von Gedichten, die entweder mit der Gemeinde gesungen (Gebet) oder als Sologesang vorgetragen werden (Frühling lässt sein blaues Band) und 3. die Predigt, die in Gedichtinterpretationen nach den Anstößen der Lyrik Mörikes für Kirche heute fragt.

Die Gedichtvertonungen sind nicht hier nicht wiedergegeben. Sie finden sich im Heft „Einer, der untröstlich blieb... Eduard Mörike 1804-2004 (Arbeitsstelle Gottesdienst der EKD, Heft 01/2004, 18. Jahrgang, ISSN 1619-4047, E-Mail: gottesdienst@ekd.de) unter Lyrik/Vertonungen. Soll die Andacht etwa jetzt im Herbst gehalten werden, bietet es sich an, auf den Kanon "Septembermorgen" zurückzugreifen, der ebenfalls in diesem Heft zu finden ist. Psalmen und Gemeindelieder sind dann der Kirchenjahreszeit entsprechend zu verändern.

Musik

I. Eröffnung

Rezitation:

In ihm sei's begonnen,
der Monde und Sonnen
an blauen Gezelten
des Himmels bewegt.
(EG NB 451)

Wir feiern diese Andacht im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Wir wollen in dieser Andacht an Eduard Mörike erinnern, der vor 200 Jahren zur Welt kam. In ihm sei's begonnen ... Wir haben eines seiner Gedichte an den Anfang gestellt. Und nun singen wir ein weiteres, von Fritz Baltruweit vertont - Mörike hat es "Gebet" genannt:

Lied: Gebet, Teil 1 (2x)

II. Einstimmung

Herr, schicke, was du will(s)t ...
Dieses eindrückliche Gebet ist bei Mörike eine Ausnahme. Er ist zurückhaltend, wenn es um seinen eigenen Glauben geht. Vielleicht, weil er mehr auf der Suche war als Antworten geben zu können. Mörike gilt als Idylliker, aber seine Idylle war stets bedroht. Mörike verstand sich als Dichter, er war aber auch Pfarrer, und das hätte ihn fast zerrissen. Mörike - ein Mensch, der nicht zur Ruhe kam, auch nicht in Fragen des Glaubens. An diesen Mörike wollen wir erinnern.

III. EG 501: Wie lieblich ist der Maien  aus lauter Gottes Güt'

IV. Psalm 98: Singet dem Herrn ein neues Lied

V. Ansprache

1.
Wer war Mörike? Lange Zeit glaubte man zu wissen, wer er war: Mörike, ein Biedermeier: gemütlich, mit langer Pfeife, im Kreis der Familie, unpolitisch, zurückgezogen auf einem Frühlingshügel, um schöne Verse zu machen. Aber das ist ein Zerrbild. Wer genau hinsieht, merkt: da ist mehr. Mörikes Idylle ist nur wie mit dünnem Faden über einen Abgrund gespannt.

Das macht ihn so "spannend" für uns heute, für unser Suchen auch in der Kirche. Für Mörike blieben es zwei Welten: Sein Leben als Pfarrer und sein Leben als Dichter. Warum das so war? Es ist nicht einfach zu sagen. Was war zu starr, was zu eng? Die Zeiten? Die Kirche? Seine Person? Wie auch immer, irgendwie ist es schade, denn ich sehe viele Anstöße, die von Mörike, dem Dichter, für uns in der Kirche ausgehen.

2.
Ich will drei solcher Anstöße nennen:

1. Anstoß: Mit Mörike die Seele zum Klingen bringen

An Mörike erinnern bedeutet, an unsere Schulzeit zu erinnern. Denn wer hätte es nicht gehört, gelesen oder auswendig lernen müssen: Das Gedicht Frühling lässt sein blaues Band?
Rezitation: Er ist's
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen. -
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab' ich vernommen!
(in: Mörike, Gedichte 33)

Mörike ist ein Meister der Sprache. Es ist, als zaubere er in unsere Welt "eine Welt von Wundern". (Theodor Vischer) Unsere Seele gerät in Bewegung: Wer seine Gedichte liest oder hört, kann fast nicht anders, als sie zu singen, innerlich - oder auch laut in die "Lüfte" hinein:

Sologesang: Frühling lässt sein blaues Band

Ich kenne kaum ein Gedicht, dass unsere Sehnsucht nach aufbrechendem Leben so beschreibt wie dieses. Es wird ja nicht der Frühling besungen, sondern das Warten und die Ahnung: Noch streifen die Düfte nur "ahnungsvoll" das Land, noch träumen die Blumen nur ihre kommende Pracht. Deshalb dieses "Horch!", dieser Ruf, der unsere Routine unterbricht - der uns aufmerken lässt auf das Leise und Kleine, auf aufkeimende Hoffnung in unserem Leben.

Ist Mörike hier nur, wie Heinrich Heine spottet, der idyllisch-romantische Besinger "von Maikäfern, Lerchen und Wachteln"? Nein, es steckt mehr dahinter, ein Anstoß zur Langsamkeit, die unsere Seele zum Klingen bringt: "Horch, von fern ein leiser Harfenton!/Frühling, ja du bist's!/Dich hab' ich vernommen!"

2. Anstoß: Mit Mörike unsere Tradition befragen

Ich komme zum 2. Anstoß und nenne ihn: "Mit Mörike unsere Tradition befragen". Ich hatte bereits angedeutet, dass Mörike sich schwer tat mit seinem Beruf als Pfarrer. 1804 geboren, legt er 1826, mit 22 Jahren, sein Examen ab. Bis 1834 durchläuft er, wie er einmal sagt, seine "Vikariatsknechtschaft": er hüpft gleichsam von Ort zu Ort, mal 2 Tage hier, mal 2 Wochen dort, mal ist's auch länger, aber immer ist er unzufrieden - auch mit der eigenen Pfarrstelle, die sein Dilemma nur noch größer macht: das Predigen. Er kupfert ab oder lässt den Vikar ran, nicht ohne bei quietschender Tür - so wird erzählt - den Gottesdienst zu verlassen. Er spricht von Stickluft, die ihm das Atmen schwer macht. Ich bin ein Kerl, dem der Steiß brennt, sagt er fast übermütig und schafft, stets kränkelnd, nur kleine Fluchten - unter den Baum im Pfarrgarten oder in die Landschaften Württembergs, so etwa seinen Frühlingshügel. Wie ein gehetztes Wild fühlt er sich, fast heimatlos, uneins mit sich selbst. Der Druck nimmt zu. Er lässt sich pensionieren. Mörike ist erst 39 Jahre alt.

Warum dieses Leiden am Amt? Ein Grund war sicherlich, dass er es nicht vermocht hat, der Aufgabe der Predigt, wie sie damals gesehen wurde, stand zu halten: Antworten zu geben oder, wie er einmal sagt, die Leut zu nötigen, zu dem Wahren und Guten.

So galt es beispielsweise, den "alten Adam" zu predigen: Mensch, du bist böse, war die Botschaft der Kirche, so abgrundtief sündig, dass du nichts mehr vom Paradies spürst. Stimmt das? fragt Mörike, der Kenner der Morgendämmerung, greift zur Feder und widerspricht, mit einem Gedicht, in dem der "alte" Adam nicht ganz so schlecht weg kommt wie es die strengen Lehrer der Kirche wollen, weil auch der alte, liebe Adam, wie Mörike sagt, etwas spüren müsse vom Herbst- und Frühlingsfieber, weil doch auch dessen Leben etwas hat von einer Morgenreise habe:

Rezitation: Fußreise

Am frischgeschnittnen Wanderstab,
Wenn ich in der Frühe
So durch Wälder ziehe,
Hügel auf und ab:
Dann, wie's Vöglein im Laube
Singet und sich rührt,
Oder wie die goldne Traube
Wonnegeister spürt
In der ersten Morgensonne,
So fühlt auch mein alter, lieber
Adam Herbst- und Frühlingsfieber,
Gottbeherzte,
Nie verscherzte
Erstlings-Paradieseswonne.
Also bist du nicht so schlimm, o alter
Adam, wie die strengen Lehrer sagen:
Liebst und lobst du immer doch,
Singst und preisest immer noch,
Wie an ewig neuen Schöpfungstagen,
Deinen lieben Schöpfer und Erhalter!
Möcht' es dieser geben!
Und mein ganzes Leben
Wär' im leichten Wanderschweiße
Eine solche Morgenreise.
(In: Mörike, Gedichte 35)

Das Leben als Morgenreise! Eduard Mörike widerspricht der Kirche und ihrer Lehre mit ironischem Augenzwinkern (der alte, liebe Adam) und mit einem wunderbaren Bild. Lehre und Leben fallen, so empfindet er's, auseinander - und eben da öffnet sich der Anstoß, der von Mörike für heute ausgeht: Treffen wir noch mit dem, was gelehrt und gesagt wird, das, was Menschen brauchen, um in ihrem Leben Sinn zu finden?

Wir sollten auch an dieser Stelle Mörike nicht vorschnell als lebensfernen Romantiker abtun - oder theologisch zu schnell die Schublade aufziehen und bekriteln: zu wenig Christologie! Denn das, was er beschreibt, ist - wie so oft bei ihm - geboren aus Schmerz und Sehnsucht, Heiterkeit und Melancholie, oder, wie es in unserem Gedicht spannungsreich heißt, aus "leichtem Wanderschweiße".

Er sagt nicht: Dein Leben ist eine Morgenreise! Sondern er bittet Gott darum - und lenkt unseren Blick auf Herbst- und Frühlingsfieber, auf etwas, was auch in uns steckt, aber oft erst entdeckt werden will, weil es zu verkümmern droht, in unserem Alltag, oder auch unter unserer protestantischen Strenge. Möcht' Gott dieses geben - so kann ich mit dem Dichter Mörike bitten, Und mein ganzes Leben / Wär' im leichten Wanderschweiße/
Eine solche Morgenreise.

3. Anstoß: Mit Mörike Gott offen halten

Ich habe uns Mörike recht nah herangeholt: Ich hoffe, nicht zu nah, damit er noch Anstoß bleiben kann, vor allem und nun letztlich darin, Gott offen zu halten.

Mörike war zerrissen, kam nie dort an, wo das Ziel seiner Sehnsucht war. Das hatte Schattenseiten, einen manchmal sehr hohen Preis. Aber nur so, als einer, der unterwegs blieb, hat er ein feines Gespür entwickeln können - dafür, dass wir nie wirklich "wir selbst" sind, dass immer eine Grenze bleiben wird, dass, um es biblisch zu sagen, "noch nicht erschienen ist, was wir einmal sein werden."

Und Gott? Auch da bleibt eine Grenze, oder, mit Mörike gesprochen: Gott selbst zu eigen haben auf der Erde ist und bleibt ein Wunder - unverfügbar:

Rezitation aus Neue Liebe:

Sollt ich mit Gott nicht können sein,
so wie ich möchte, Mein und Dein?
Was hielte mich, dass ich's nicht heute werde?
Ein süßes Schrecken geht durch mein Gebein!
Mich wundert, dass es mir ein Wunder wollte sein,
Gott selbst zu eigen haben auf der Erde."
(in: Mörike, Gedichte 101)
Amen.

VI. Lied

Gebet, Teil 1 und Teil 2

VII. Vater unser

VIII. Segen

Wir bitten Gott um seinen Segen:

Rezitation

In ihm sei's begonnen,
der Monde und Sonnen
an blauen Gezelten
des Himmels bewegt.
Du Vater, du rate!
Lenke du und wende!
Herr, dir in die Hände
sei Anfang und Ende,
sei alles gelegt.
(EG NB 451)

So segne und behüte uns
Gott der Liebende und Treue,
der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Amen.

Musik

Literatur
Eduard Mörike: Die schönsten Gedichte. Ausgewählt von Hermann Hesse, Frankfurt/Main und Leipzig 1999
Renate Just: Wem der Steiß brennt. Eine Reise durch Württemberg, wo der romantische Dichter Eduard Mörike vor 200 Jahren zur Welt kam, in: Die Zeit, Nr. 18, 22. April 2004,75f.